Das “La Mano Verde” ist ein Restaurant in Berlin-Mitte. Es liegt in der ruhigen Scharnhorststraße, zu Fuß sind es nur ein paar Minuten bis zum Hauptbahnhof. Außer Bundeswehrkrankenhaus und Wirtschaftsministerium gibt es nicht viel in der Scharnhorststraße. Flankiert wird sie vom Invalidenfriedhof, dahinter liegt das Spreeufer. Von einem Mitte, über das zurzeit überall gesagt wird, dass es sich ständig neu erfindet, dass dort das Leben pulsiert und Trends gesetzt werden – von diesem Mitte ist hier nicht viel zu spüren. Immobilienkenner glauben allerdings, dass der Scharnhorst-Kiez das „nächste große Ding” in Berlin wird. Dass sich dort Galerien aneinanderreihen werden wie in der Torstraße, Familien das Leben mit Kindern zelebrieren werden wie im Bötzow-Kiez und man ausgehen kann wie in der Kastanienallee. Es kann sein, dass sie recht haben mit ihrer Hipness-Prognose; vielleicht irren sie sich auch. Vorsichtshalber lässt man aber schon jetzt in der Scharnhorststraße viele Eigentumswohnungen und „Townhouses” entstehen, Stadthäuser für Leute, die zentral und doch im Einfamilienhaus wohnen wollen und es sich leisten können.
Bisher war die hipste Adresse der Scharnhorststraße das “La Mano Verde”. Es gilt als einziges strikt veganes Restaurant in Berlin. Auf der Karte stehen Spaghetti mit Meeresgemüse (15,50 Euro), hausgemachte Kartoffel-Mangoldravioli mit Kräuterseitlingen in Trüffelrahmsauce (16,50 Euro), Rohkost-Cannelloni (17,50 Euro) oder, als Nachtisch, Triple Chocolate Fudge mit heißer Schokosauce (6,50 Euro) – alles ohne Milch oder Sahne, Fleisch oder Ei.
Anfang dieser Woche haben sich im “La Mano Verde” ein paar Leute der Presse vorgestellt, die ähnlich überzeugt von ihrer Sache sind wie die Immobilieninvestoren vom Scharnhorst-Kiez: Sie sagen, dass veganes Leben das nächste große Ding wird. Und zwar nicht nur in Berlin. Deshalb haben sie die “Vegane Gesellschaft Deutschland e.V.” gegründet – den ersten Veganerverband bundesweit. Veganer verzichten auf den Konsum tierischer Produkte – sie essen weder Milchprodukte noch Ei, Fleisch oder Honig und kleiden sich häufig auch ihrer Überzeugung entsprechend, tragen kein Leder, keine Wolle und keine Seide. Die “Vegane Gesellschaft Deutschland e.V.” will Aufklärungsarbeit leisten und mehr Menschen für eine vegane Lebensweise gewinnen. Glaubt man dem schon länger bestehenden deutschen Vegetarierbund, ist das kein schwieriges Unterfangen: Ohnehin steige die Zahl der Veganer jährlich um zehn Prozent, teilte der Verband vor wenigen Tagen mit.
Unter den Gründern, die sich am Montag im “La Mano Verde” versammelt haben, ist der 37 Jahre alte Christian Vagedes, der das Amt des ersten Vorsitzenden übernommen hat. Vagedes ist ein mehrfach ausgezeichneter Designer, der unter anderem Verpackungslinien für vegane Bio-Produkte entwickelt. In Deutschland lebten bereits eine Viertelmillion bis eine Million Menschen vegan, sagt Vagedes. “Die Leute kommen aus ganz unterschiedlichen Bereichen und haben unterschiedliche Motivationen”, sagt Vagedes. “Darunter sind Menschen, die sich mit der Nahrungsmittelgerechtigkeit und dem Hunger in der Welt auseinandersetzen, aber auch solche, die die Beziehung zwischen Menschen und Tieren hinterfragen. Außerdem ehemalige Milchviehhalter, Anthroposophen und Leute aus Umwelt- und Klimaschutzverbänden.”
Christian Vagedes vor einer Woche in Berlin-Mitte (Fotos lamanoverde.com, Vegane Gesellschaft Deutschland e.V.)
Vagedes lebt selbst seit fünf Jahren vegan. Zuvor war er schon Vegetarier, aß neben pflanzlicher Kost auch Milchprodukte und Eier. “Mir waren damals die Hintergründe noch nicht bekannt”, sagt Vagedes. “Ich habe nicht gewusst, dass Kälber getötet werden, weil man Milch erzeugt.” Dann habe er sich einige Demeter-Höfe angesehen, von denen seine Lebensmittel stammten. “Von manchen Landwirten habe ich dann die Fakten gehört: Dass man weder richtig Geld damit verdient noch den Tieren das weiter antun kann.” In der Anfangszeit seines veganen Lebens aß Vagedes noch Butter und Hartkäse, dann stieg er um auf veganen Butter-Ersatz und Käse-Ersatzprodukte. “Wenn wir konsequent sein wollen, dann müssen wir weitergehen als die Vegetarier”, sagt er heute. Auch seine Familie – er hat zwei Kinder – lebt vegan.
Schon in den ersten Stunden, nachdem er die Verbandsgründung bekannt gegeben hatte, hätten ihn mehrere hundert E-Mails von Menschen erreicht, die sofort beitreten wollten, sagt Vagedes. Anfang November an die Öffentlichkeit zu gehen, war keine willkürliche Entscheidung: Am 1. November ist “World Vegan Day”. Veganer erinnern damit an die Gründung der “Vegan Society” in Großbritannien am 1. November 1944.
Auch sonst könnten die Bedingungen günstiger nicht sein: Nur wenige Wochen zurück liegt eine der lebhaftesten Debatten über Vegetarismus und über die Ausbeutung von Tieren, die das deutsche Feuilleton je erlebt hat. Auslöser war das Buch “Tiere essen” von Jonathan Safran Foer, das im August auf Deutsch erschienen ist. Die Rezensionen zu Jonathan Safran Foers Buch waren keine schlichten Buchbesprechungen, sie ähnelten eher Plädoyers. Nicht einmal die BSE-Krise vor zehn Jahren hatte eine solche mediale Grundsatzdiskussion über unsere Verzehrsgewohnheiten hervorrufen können: Darf man Tiere leiden lassen und töten, nur um ihr Fleisch zu essen?, lautete die Kernfrage.
Doch die Veganer kennen noch andere Argumente dafür, auf tierische Produkte zu verzichten: Wenn man keine Tiere mehr mästen und melken würde, dann stünde mehr Ackerfläche zur Verfügung, um pflanzliche Lebensmittel für Menschen – statt Futterpflanzen – anzubauen, erklären sie. So sei der Hunger in der Welt in den Griff zu bekommen. Auch der Klimawandel lasse sich durch eine vegane Lebensweise aufhalten. Die Vegane Gesellschaft hofft deshalb auf eine “Veganisierung der Landwirtschaft”. Doch zwischen dem Anbau von Bio-Gemüse, das man dem Boden geradezu abringen muss, und der Mast von Schweinen oder der Milchviehhaltung liegen Welten. Ein Landwirt, der vom Vieh- zum Pflanzenbauern umschult, fühlt sich vermutlich ähnlich fehl am Platze wie ein Deutschlehrer, der auf einmal Mathe unterrichten muss. Kein Wunder, dass Landwirte alarmiert auf die Ziele der Veganer reagieren. Im Internet hätten sie schon gelesen, dass einige Landwirte die Veganer vom Verfassungsschutz beobachten lassen wollten, sagt Vagedes. Doch darüber könnten die Gründungsmitglieder nur lachen.
“Wir wollen niemanden anschuldigen”, sagt Vagedes. “Wir wollen lieber die Menschen begeistern. Wenn man vegan lebt, wird man glücklicher, man wird fit und gesund und man hat auch kein schlechtes Gewissen mehr.” Er glaubt, dass veganes Leben in die Zeit passe: “Es macht den Leuten Spaß, sich mit neuen Produkten auseinanderzusetzen, eine neue Welt zu entdecken.” Die aufwändig gestaltete Homepage der Veganen Gesellschaft wartet mit romantisch-emotionalen Sprüchen auf, die einer Gegenbewegung wohl angemessen sind: “Trink Milch ohne jemandem wehzutun” und “Bring Liebe in deinen Kühlschrank”. “Selten hat man einen Aufbruch gespürt, so stark wie den veganen”, heißt es auf der Website. Eine der Galionsfiguren der Veganen Gesellschaft ist der Landwirt Jan Gerdes, der aus seinem Demeter-Hof ein Kuh-Altersheim und eine Tierschutz-Stiftung gemacht hat. Er bekommt dieser Tage mehr Presse als die Vegane Gesellschaft, Spiegel-online und NDR waren schon da und haben über den Hof auf der norddeutschen Halbinsel Butjadingen berichtet. Man lebt hier natürlich vegan, die Hof-Homepage listet als Bewohner und häufige Gäste neben Christian Vagedes, einer Pferdeflüsterin und anderen auch Josi Hartanto auf, die Küchenchefin des “La Mano Verde” in Berlin. Wer hier lebe, ziehe es vor, “für wenig Lohn seinen Traum zu leben, statt für Macht und Reichtum viel Geld zu verdienen”. Die vielen verschiedenen Tiere sind gleichberechtigte Mitbewohner, Ponyreiten gebe es hier nicht, heißt es auf der Seite. Eine fröhliche Pippi-Langstrumpf-Welt, in der man sich entschlossen hat, nicht mehr alles mitzumachen, vor allem nicht mehr den Sonntagsbraten der Alten zu essen, denn der ist ja sowieso Unrecht. Sich anders zu ernähren ist Abgrenzung, vielleicht ist es sogar Freiheit.
Bleibt die Frage, ob jeder es sich leisten kann, sich den üblichen Ernährungsgewohnheiten zu entziehen, oder ob veganes Leben nur etwas für eine hippe, urbane Besseresserelite sein wird. Kann etwa ein Lehrer auf der Klassenfahrt etwas anderes essen als die Schüler, ein Unternehmensberater am Buffet den Sonderling geben? Nahrungsmitteltabus haben die Menschen schließlich oft entzweit. Vagedes sagt, dass der vegane Gedanke eigentlich schon in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist, nur bei der Umsetzung hapere es noch bisweilen. “Allerdings gibt es schon jetzt nicht nur in Berlin und Hamburg, sondern auch in kleineren Universitätsstädten wie Münster und Bielefeld vegane Cafés und Restaurants. Einen Sojamilch-Latte-Macchiato zu bestellen, ist ohnehin nirgendwo ein Problem, weil es so viele Menschen gibt, die unter einer Kuhmilchunverträglichkeit leiden.” Vagedes und die Vegane Gesellschaft e.V. wollen veganes Leben als akzeptierten Lebensstil etablieren und planen dafür Aufklärungsarbeit in Kindergärten, Schulen und Krankenhäusern, den Orten, wo man bisher einer fleisch-, ei- und milchhaltigen Gemeinschaftsverpflegung ausgesetzt war. Bis es soweit ist und alle öffentlichen Einrichtungen auf Veganer eingestellt sind, könne man dennoch vegan essen, ohne überall anzuecken, sagt Vagedes: “Viele Veganer haben einfach ihr Pöttchen Soja- oder Reismilch für den Kaffee immer dabei – das ist gar kein Problem. Und wenn man mit anderen essen geht, in ein nicht-veganes Restaurant, dann ist es das einfachste, Pizza ohne Käse zu bestellen.” In Kürze wird Vagedes sein erstes Buch veröffentlichen. Der Titel lautet “Veg up – Die Veganisierung der Welt”.