Nach zwanzig Minuten gemeinsamen Blätterns, Suchens, Staunens, Erwägens und Wieder-Verwerfens vor dem Regal mit der Aufschrift “Pferdebücher” zuckt die Buchhändlerin mit den Schultern und grinst: “Naja – besser, als gar nicht zu lesen, sage ich immer.”
Wenn es um den Pisa-Test geht, hat sie da wahrscheinlich recht. Mir hilft das aber trotzdem nicht weiter. Ich suche ein Pferdebuch. Als Weihnachtsgeschenk. Für J., elf Jahre alt. “Was liest du eigentlich so?” habe ich sie unauffällig gefragt. “Alles über Pferde”, hat J. geantwortet. Ok, damit kenne ich mich aus, dachte ich. Ich habe sie ja schließlich alle gelesen – die großen Klassiker (Black Beauty, Fury, Mein Freund Flicka) und den großen Schund (Britta siegt auf Silber, Bille und Zottel, Anja und Petra zu Pferde). Damals, in den Achtzigern.
Ganz einfach hatte ich mir das also vorgestellt. Einfach eine gute Buchhandlung finden und ein schönes Pferdebuch einpacken lassen. Natürlich keinen der großen Klassiker. Die kennt sie ja wahrscheinlich alle schon. Und schon gar nicht den großen Schund. Aber ich bin zuversichtlich, trotzdem etwas Nettes zu finden. Literatur mit Pferden, mit Realitäts- und Gegenwartsbezug. Das gab es ja schließlich zu meiner Zeit auch: Zum Beispiel Colleen, die Standardlektüre, wenn man Kindern Pferde und Literatur bieten wollte. Die fröhlichen Anarcho-Bücher von Monica Dickens über eine Geschwisterschar, die ohne Eltern, aber mit Pferden auf einer verfallenen Farm lebt. Siegesschleifen, eine Geschichte über ein schwedisches Mädchen, das einen Nervenzusammenbruch bekommt, weil es so viel reitet. Jan und das Wildpferd, das sogar den Deutschen Jugendliteraturpreis gewonnen hat.
Den ersten Kulturschock bekomme ich allerdings schon, als ich nur die Buchrücken im Pferde-Regal der Kinderbuchabteilung mustere: Es gibt heute nur noch Serien. Und es sind nicht dieselben wie zu meiner Zeit.
Die Serien der Gegenwart heißen Rose Hill, Reiterhof Eulenburg, Heartland, Blue Mountain, die Mädchen von der Pferderanch, die Glamour-Girls von Chestnut Hall, Wild Horse Ranch, Crazy Horses oder Die Pferdeflüsterin. Oder sie sind schlicht nach den Heldinnen benannt: Lea, Anna, Chiara.
Vor zwanzig Jahren gab es auch Pferdebuch-Serien, allerdings nicht so viele. Pferde-Serien galten als Schund, anspruchsloses Lesefutter, mit dem man sich aus der Realität wegbeamen konnte. Vielleicht ist das ja heute anders. Ich blättere mal rein, in die neuen Serien.
Zuerst eine Überraschung: Im Pferdebuch von heute kommen Jungs vor. Das gab es zu meiner Zeit nicht. Unvergessen jener magische Moment in einem der späten Bücher der Britta-Serie: Die Heldin macht ihrem Jugendfreund Lasse ein Weihnachtsgeschenk und errötet, als sich ihre Hände berühren. Sie ist längst über zwanzig.
Heute drückt sich vor jeder fiktiven Reitschule ein halbes Dutzend männlicher Heranwachsender herum, die Unruhe unter den Heldinnen und deren besten Freundinnen stiften. Es gibt erste Küsse und erste Enttäuschungen.
Und das, obwohl man es schon mit genug Reibereien zu tun hat. Fast egal, welches Buch ich aufschlage, jede Seite enthält einen Schlagabtausch. Da wird „empört in die Seite geknufft”, die Arme werden „resolut in die Hüften gestemmt”, Caro „stürzt sich wutentbrannt” auf Leonie usw. Dazwischen ist mühsam eine wenig individuelle Geschichte zu erkennen: Meist wird ein Fohlen krank, eine Klausur geht daneben, der Tierarzt weiß Rat, Mama lässt sich überzeugen, mit Caro söhnt man sich aus.
Die Geschichten wirken wie am Reißbrett entworfen; selbst die Einstiege gleichen sich. Es gibt im Prinzip zwei Möglichkeiten, wie das Pferdebuch der Gegenwart anfangen kann. Entweder mit einem Affekt (Lea schlägt wutschnaubend die Tür zu. Mit Karacho schleudert sie die Reitstiefel in die Ecke. Diese Gemeinheit!…) oder mit tödlicher Langeweile in einer Schulstunde (Tessas Blick wanderte an Lehrer Pfefferkorn vorbei zum Fenster. Die letzten zwanzig Minuten vor Schulschluss waren immer zäh wie Kaugummi. Und gerade heute konnte Tessa es kaum erwarten, zum Gutshof Pferdeglück zu fahren…) Wenn eine Autorin sich die Schilderung einer Mathestunde der gymnasialen Mittelstufe nicht zutraut, muss sich Luisa-Marie manchmal auch im Deutschunterricht langweilen.
Beliebt scheinen vor allem Reit-Internate zu sein. In Rose Hill geht es um die burschikose Kathy, die ernste Samantha, die impulsive Dana. Und es geht auch noch vordergründiger. Gestatten, die Glamour-Girls von Chestnut Hall: Amanda ist die braungelockte Juniorausgabe von Heidi Klum. Candy ist die ungekrönte Internatsqueen. Isabel ist die beste Schülerin und der Inbegriff von Hilfsbereitschaft. Josi ist eine rothaarige Schönheit. Jul ist der blendend aussehende Sohn des Reitlehrers und ein hochbegabter Reiter.
Aber ich will nicht unfair sein. Es ist ja nicht so, dass die Pferdebuch-Autorinnen von heute sich keine Mühe geben würden, die Realität differenziert abzubilden. In der Serie Crazy Horses etwa hat Opa Max Alzheimer. Er will nach dem Abendbrot immer in den Stall gehen und sein Pferd Rasmus füttern. Das aber ist schon seit vierzig Jahren tot. Andere Autorinnen versuchen, mehrere Baustellen zu schaffen: Das Pferd wird lahm, und der Vater wird arbeitslos.
Zum Beispiel Britts Vater. Britt ist die Heldin eines der Bücher aus der Reihe „Die Mädchen von der Pferde-Ranch”. Britts Vater hatte ihr versprochen, dass sie zu ihrem zwölften Geburtstag ein eigenes Pferd bekommen sollte. Doch dann verlor er seinen Job. Schon auf der ersten Seite läuft deshalb Britt, die in sechs Wochen zwölf wird, durch den Wald, drischt wutentbrannt auf Sträucher ein und resümiert den vergangenen Glanz westdeutschen Familienlebens:
Sie hatten ihr Haus in der Stadt und das Wochenendhaus in der Eifel, zwei Autos, und in den Ferien machten sie Cluburlaub in Griechenland oder Tunesien. Britt ging reiten, Tom spielte Tennis, ihre Mutter nahm Klavierstunden. Alles, alles war gut.
Hust, hust. Wie geht es denn weiter? Britts Vater also ist gekündigt worden. So schnell findet er nichts Neues. Daran ist allerdings weder die Wirtschaftskrise noch das Alter oder die Über- oder Unterqualifizierung von Britts Vater schuld. Britts Vater bekommt keinen Job, weil er eine Depression entwickelt. Erst verkaufen sie den Mercedes, dann das Ferienhaus. Schließlich müssen sie in eine kleine Wohnung am Stadtrand ziehen. Ich blättere weiter und bin gespannt, ob man aus all dem doch noch ein Happy End entwickeln kann. Die Autorin entscheidet sich schließlich für das klassische Trash-Ende aus den Wendy-Comics: Britt entdeckt in ihrer neuen Wohngegend, in die der soziale Abstieg sie geführt hat, einen Pferdehof. Am Ende des Buches bekommt ihr Vater dort eine Stelle als Gestütsverwalter.
Es hilft nichts. Ich finde eine Buchhändlerin und zeige anklagend auf das Pferderegal. “Haben Sie auch etwas, was nicht so…?” sage ich. “Nicht so – typisch ist, meinen Sie?” fragt die Buchhändlerin. “Genau”, erwidere ich. “Da empfehle ich immer diese beiden: Ein Pferd namens Milchmann und Jennys Pferdesommer“, sagt die Buchhändlerin und zeigt auf zwei Bücher, die praktischerweise auch direkt nebeneinander liegen.
Die empfiehlt sie also immer. Tja, sie und die Zeit, die Süddeutsche, die taz, das ZDF und überhaupt alle überregionalen Medien, die sich in den vergangenen fünf Jahren mit Pferdebüchern beschäftigt haben. Artikel über Pferde-Kinder-Literatur sind immer Überblicks-Artikel, und immer kommen die Rezensenten zu dem Schluss, dass man einzig Jennys Pferdesommer und Ein Pferd namens Milchmann ertragen kann. Beide Bücher sind 2005 erschienen. Seitdem also ist kein Pferdebuch mehr geschrieben worden, das „nicht typisch” ist.
Milchmann ist die Geschichte eines Jungen, Herman, der auf der Terrasse ein Pferd vorfindet, Milchmann. Auch bei anderen Kindern aus seiner Klasse tauchen plötzlich herrenlose Pferde auf. Die Pferde scheinen in Gefahr zu sein, und die Kinder müssen sie vor Eltern, Polizisten und Hausmeistern verstecken.
Es ist reizend, herzerwärmend, lustig, es hat Tempo und Klasse. Aber es ist leider kein Pferdebuch. Milchmann steht in einer anderen Tradition: In der von E.T., dem Kleinen Vampir oder von Luzie, dem Schrecken der Straße – Stories, in denen Kinder Außerirdische, Untote oder sprechende Knetmännchen vor erwachsenen Autoritäten verstecken. In Milchmann sind es nun mal Pferde, die in den Alltag einbrechen.
Auch für Jennys Pferdesommer kann ich mich nicht entscheiden. Die Geschichte handelt von einem Mädchen, das sich nicht für Pferde interessiert, aber den Sommer bei Onkel und Tante verbringen muss, die einen Reiterhof führen. Pferde kommen vor, aber sie lassen Jenny kalt. Jennys Pferdesommer ist das Anti-Pferdebuch, wohl direkt für diese Marktlücke geschrieben: Für Erwachsene, die sich nicht dazu durchringen können, den in Serie gegangenen Kitsch unter den Weihnachtsbaum zu legen. Jenny taugt wahrscheinlich nicht viel als Identifikationsfigur für Mädchen, die sich brennend für Pferde interessieren. Aber vermutlich fühlen deren Eltern umso herzlicher mit Jenny.
Ich wende mich noch mal den Serien zu. Wenn ich nur wüsste, ob J. eine bestimmte sammelt. „Da ist halt jedes Mädchen anders”, sagt die Buchhändlerin. „Jedes Kind hat seinen eigenen Reiterhof, den es nach und nach aufstockt.” Welche Serie denn besonders gut laufe, frage ich.
Am gefragtesten sei die Sternenschweif-Reihe, erklärt sie. Fast dreißig Bände, geschrieben von einer britischen Schriftstellerin, der ehemaligen Lehrerin Linda Chapman. Es geht um ein Mädchen, dessen Pony sich nachts in ein Einhorn verwandelt. „Das Mädchen fliegt mit dem Einhorn durch die Nacht und erlebt Abenteuer”, erzählt die Buchhändlerin. 1,5 Millionen Exemplare wurden von der Sternenschweif-Serie bisher verkauft, teilt der Franckh-Kosmos-Verlag mir später mit. Sternenschweif mag von der Fantasybegeisterung vieler Kinder profitieren, aber auch klassische Pferdebuch-Serien kommen auf beachtliche Verkaufszahlen. Die zehnbändige Anna-Serie aus dem Coppenrath-Verlag bringt es insgesamt auf 150.000 Exemplare.
Der Sektor floriert. Selbst “Deutschlands erfolgreichste Autorin” Charlotte Link (15 Millionen verkaufte Bücher) ist in diesem Jahr ins Pferdebuchgeschäft eingestiegen: Reiterhof Eulenburg heißt ihre Serie, die ersten drei Bände kamen allesamt 2010 auf den Markt. Enid Blyton goes Reiterhof: In den routiniert geschriebenen Geschichten geht es um die “schüchterne Diane” und die “temperamentvolle Angie”, die “hochnäsige Kathrin” und die “selbstbewusste Pat”. Eigentlich machen sie alle nur Ferien auf einem Reiterhof, aber nebenher klären sie einen Diamantenraub und setzen kriminelle Tierschmuggler fest.
Die Buchhändlerin macht noch einen Versuch. Häufig würde sie Eltern die Anna-Serie empfehlen, sagt sie. Sie spiele im Münsterland, dadurch vermittle sie ein wenig Lokalkolorit. Die Autorin lebe selbst im Münsterland. Ich blättere eine Weile. Tatsächlich ist Anna eine überschaubare, klar umrissene Geschichte und bietet einige klassische Motive: Da gibt es den Umzug aufs Land. Die neue Schule. Einen Fremden, der auf dem Reiterhof auftaucht. Das verunglückte Pferd. Die Schlittenfahrt. Das Ganze hat den Charme einer ZDF-Weihnachtsserie. Nicht sehr wirklichkeitsnah, aber man zappt gern mal rein und betrachtet die Wohnungseinrichtungen, die Gutshöfe, den Lifestyle. Die Bücher sind außen mit einer kleinen Stoffschleife geschmückt, wie man sie auf Reitturnieren gewinnen kann. Sicher gefällt das Kindern. Allerdings ist J. zu alt. Ab acht Jahre, empfiehlt der Verlag.
Überhaupt, das Alter. Wenn ich ein, zwei Jahre warten würde, bis ich J. beschenke, hätte ich das Problem wahrscheinlich nicht mehr. Der Kasseler Psychologe Harald Euler hat Ende der neunziger Jahre mehr als 100 Kinder zwischen fünf und neun in Ost- und Westdeutschland nach ihrem Interesse für Pferde befragt. Unter anderem mussten sie drei Lieblingsobjekte aus verschiedenen gezeichneten Wunschobjekten auswählen. Die Hälfte der Mädchen wählte das Pferd an erster Stelle – während die Jungs vor allem das Motorrad und das Raumschiff schätzten. Als Euler zusätzlich 800 ältere Jugendliche bis siebzehn Jahre in die Studie einbezog, konnte er zeigen, dass die Pferdeliebe der Mädchen ein Verfallsdatum hat: Ab dem zwölften Lebensjahr geht das Interesse am Objekt „Pferd” bei den Mädchen rapide zurück. Ab sechzehn wählen die Mädchen schließlich sogar das Motorrad häufiger zum Lieblingsobjekt als das Pferd.
Aber bei J. ist es ja noch nicht so weit. Ich gehe noch in eine andere Buchhandlung: zu Thalia. „Haben Sie etwas, was nicht so typisch ist?”, frage ich.
„Ja”, sagt die Buchhändlerin mitfühlend, „wir haben uns auch Gedanken gemacht, worauf man noch ausweichen kann außer zum Beispiel auf die Mischung von Magie und Pferden”, sie zeigt auf die Bände der Reihe Sternenschweif. „Deshalb haben wir jetzt diese beiden ins Sortiment genommen.” Sie nimmt zwei neue Ausgaben von Fury und Black Beauty aus dem Regal. Außerdem gebe es natürlich Milchmann und Jennys Pferdesommer. Und sonst? „Die Leute, die vor dem Pferdebuch-Regal stehen, benutzen meistens das Wort anspruchsvoller”, erzählt die Buchhändlerin. “Sie fragen, ob wir nicht etwas haben, was ein bisschen anspruchsvoller ist.”
Und? Haben Sie?
In solchen Fällen empfehle sie die Bücher von Astrid Frank, die sich auch für Pferdenärrinnen im Teenageralter eignen würden. Die 44 Jahre alte Autorin hat Biologie und Germanistik studiert und schreibt Pferdegeschichten, die abseits der altbekannten Ponyhöfe spielen: über das Leben eines legendären Rennpferdes etwa oder über ein Mädchen, das Polizeireiterin wird. Ihr Roman Gigant ist für den Heinrich-Wolgast-Preis 2011 nominiert.
„Außerdem empfehlen wir auch die Reihe Wahre Pferdegeschichten von Margot Berger”, fügt die Buchhändlerin hinzu. Neun Bände dieser Reihe mit dramatisch schwarz-rotem Cover sind bisher im Arena-Verlag erschienen. Das Buch, das die Buchhändlerin mir reicht, handelt von Jana, die vom Jugendgericht zu 60 Sozialstunden auf einem Pferdehof verdonnert wird. In einem anderen Band geht es um die pferdenärrische Lilly, die nach dem Umzug auf eine neue Schule geht. Die Jungs in der achten Klasse lassen auf ihren Handys Pornos laufen und mobben dicke Mädchen. Ob das wirklich alles wahr sei, wisse sie aber auch nicht, sagt die Buchhändlerin.
In meiner Kindheit verschenkte man Zum Beispiel Colleen, wenn man ein Pferdebuch wollte, das wahr war, „anspruchsvoll” und nicht so typisch. Sigrid Heuck, die Autorin, beschreibt im ersten Kapitel, wie ihr Lektor sie für das Projekt gewann, die Marktlücke “anspruchsvolles Pferdebuch” zu füllen. Heuck schreibt: Es sollte keine Geschichte werden wie die, in der im Frühling ein Mädchen ein Pferd vor dem Schlachten rettet, es gesund pflegt, um dann im Herbst ein großes Rennen mit ihm zu gewinnen.
Zum Beispiel Colleen ist die Lebensgeschichte von Heucks Ponystute Colleen, die sie in den sechziger Jahren auf einem irischen Pferdemarkt kaufte. Die Autorin beschreibt Alltagskatastrophen, Krankheiten, harte Winter und den Wandel der Zeiten. Es gibt nicht einmal ein Happy End, denn Colleen stirbt. Colleen wird auch heute noch gedruckt. Rund 45.000 Exemplare sind bisher verkauft worden.
Als ich nach einer Woche noch einmal in die Buchhandlung gehe, sind die Stapel mit Ein Pferd namens Milchmann und Jennys Pferdesommer verschwunden. Ausverkauft. Von Milchmann sind bisher 80.000 Exemplare abgesetzt worden, teilt der Carlsen-Verlag mit.
Ich kaufe einen Büchergutschein und betrachte noch eine Weile die Buchrücken der Serien im Pferde-Regal. Vielleicht ist das Bilden von Serien nur eine clevere Vermarktungsstrategie. Vielleicht kann man aber Kindern heute den „abgeschlossenen Roman”, das für sich stehende Meisterwerk, auch einfach nicht mehr anbieten. Schließlich endet auch im wirklichen Leben nichts. Niemanden verliert man endgültig aus den Augen. Man kann jeden Kindergartenfreund googeln und erfährt, was aus ihm geworden ist.
Ich googele auch ein bisschen und bringe in Erfahrung, dass es so etwas wie das Ur-Pferdebuch gibt – zumindest nach Ansicht von Soziologen, Genderforschern und Literaturwissenschaftlern (die im übrigen auch glauben, dass Pferdebücher als „Einstiegsdroge” in die Pferdesucht heranwachsender Mädchen funktionieren). Das Ur-Pferdebuch oder “Schlüsselwerk” für die Entstehung der Pferde-Mädchen-Literatur ist demnach der Roman Hindernisse für Huberta von 1950, geschrieben von Ursula Bruns, einer Kaufmannstochter aus Westfalen, damals Mitte 20. Alles, was danach veröffentlicht wurde, waren nur noch Variationen und Weiterentwicklungen von Hubertas Geschichte. Die Dreizehnjährige bekommt einen arabischen Schimmel und gewinnt mit ihm ein großes Springturnier. Damals musste sie das noch gegen den Widerstand ihrer Umgebung tun, denn die Reiterei war bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs Sache von Adeligen und Militärs, auf jeden Fall fest in Männerhand. Ansonsten ist das Buch ein wenig altmodisch und betulich, aber es bringt eine Menge Zeit- und Lokalkolorit mit – einzelne Protagonisten sprechen sogar Platt -, hat einen bunten Einband und das Antiquariat, bei dem ich es bestellt habe, hat es gerade noch rechtzeitig geschickt. Vielleicht kann J. ja damit etwas anfangen.
Hurra!, denke ich, Onkel von...
Hurra!, denke ich, Onkel von 6 pferdebuchvernarrten Nichten. Ein richtig langer Artikel über Pferdebücher! Rechtzeitig zur Weihnachtszeit! Na, wenn da nicht ein paar brauchbare Tipps drinstehen, weiß ich es auch nicht mehr. Und beginne zu lesen. Die Autorin steht vor dem gleichen Problem wie ich: Sie sucht ein Buch für J., das sie mit ruhigem Gewissen verschenken kann. Ich suche Bücher für A., L., M., S., H. und C.
Ja ja, denke ich, als ich die Aufzählung der großen Klassiker und des großen Schunds lese. Diese Titel sind mir in den vergangenen Jahren kurz vor Geburtstagen und Weihnachten schon untergekommen. Nichts Neues also. Und ich fasse Mut, als ich merke, dass die Autorin von den aktuellen Pferdebuch-Serien ebenso wenig hält wie ich. Resümiere noch einmal mit ihr gemeinsam die mindere Qualität des Inhalts der bekannten Serien. Recht hat die Frau! Und schöpfe Hoffnung, dass zum Ende des ausführlichen Artikels vielleicht ein oder zwei Alternativen zum Vorschein kommen. Denn „Ein Pferd namens Milchmann“ und „Jennys Pferdesommer“, “das die Buchhändlerin, die Zeit, die Süddeutsche, die taz, das ZDF und alle überregionalem Medien immer empfehlen”, habe ich bereits verschenkt, ohne den Pferdebuchhunger meiner Nichten zu stillen.
„Artikel über Pferde-Kinder-Literatur sind immer Überblicks-Artikel, und immer kommen die Rezensenten zu dem Schluss, dass man einzig ‚Jennys Pferdesommer’ und ‚Ein Pferd namens Milchmann’ ertragen kann“, lese ich und nicke zustimmend. Jetzt geht es also ans Eingemachte. Hier hat sich jemand vorgenommen, endlich mal mehr zu bieten. Mehr als die Hälfte des Artikels liegt noch vor mir. Zeit genug für die Empfehlung echter Alternativen, denke ich. Doch etliche Zeilen weiter bin ich eigentlich immer noch nicht schlauer. Dann jedoch geht es endlich richtig los: Ich lese etwas von „anspruchsvoller“ und reiße die Augen auf. Aha! Astrid Frank! Die schreibt also anspruchsvollere Pferdebücher. Ich lese neugierig den nächsten, mit 5 Zeilen recht kurzen Absatz. Erfahre einen Titel. „Gigant“, ohne zu wissen, worum es in diesem Buch geht. Erfahre von einem Buch über das Leben eines legendären Rennpferdes – ohne den Titel zu erfahren. Ich stutze und runzle die Stirn. Warum hat die Autorin jedes Buch vorher – das sie eindeutig nicht für empfehlenswert hielt – so umfangreich beschrieben und ist nun so sparsam mit ihren Informationen? Ich habe Blut geleckt, möchte gerne mehr erfahren über diese Autorin, die angeblich anders schreibt als die anderen. Und bleibe hungrig zurück. Immerhin einen weiteren Namen erfahre ich noch: Margot Berger – doch das, was ich dort auszugsweise über eins der Bücher aus der Reihe dieser Autorin vorgetragen bekomme, gefällt mir nicht. Von Pornos, dicken Mädchen und Mobbing sollen die Bücher für meine Nichten nicht handeln, sondern von Pferden.
Schade!, denke ich. Denn leider tutet die Autorin zum Schluss doch nur in das gleiche Horn, das sie zuvor kritisiert hat: Sie bleibt beim Überblick. Dann werde ich jetzt wohl mal selbst nach Büchern von dieser Astrid Frank googeln. Vielleicht kriege ich ja raus, wie das Buch über das legendäre Rennpferd heißt. Und wovon das Buch „Gigant“ handelt, das für den Heinrich-Wolgast-Preis nominiert wurde. Vielleicht ist das ja etwas für für A., L., M., S., H. und C.
Ich habe noch aus den 60ern...
Ich habe noch aus den 60ern einige Pferdebücher von Lise Gast und Ursula Bruns.
Und lese sie mit einigem Spaß von Zeit zu Zeit wieder, obwohl ich inzwischen nicht mehr reite. Natürlich sind sie so betulich wie zu ihrer Entstehungszeit üblich.
Aber wenn die zu Beschenkende selbst reitet, warum nicht ein fachlich gutes Pferde(sach-)buch verschenken?
Sehr geehrte Frau...
Sehr geehrte Frau Hucklenbroich,
mit dem größten Vergnügen sende ich Ihnen meine Pferdebücher zu, damit Sie gemeinsam mit J. die Besichtigung des Genres Pferdebuch fortführen, vertiefen und feststellen können, dass es sie gibt: die anspruchsvollen Pferdebücher, die nach 2005 (und erst recht nach 1950) erschienen sind. Ich freue mich auf Ihre Kontaktaufnahme.
Mit freundlichen Grüßen
Astrid Frank