Eine Kommilitonin von mir hatte kürzlich ein Vorstellungsgespräch für einen Job als amtliche Tierärztin in einem Veterinäruntersuchungsamt. Das Amt lag in einer Kleinstadt in Nordrhein-Westfalen. Auf den Posten, der im “Deutschen Tierärzteblatt” ausgeschrieben worden war, hatten sich fast dreißig Tierärzte beworben, erfuhr meine Studienfreundin in dem großen, nüchternen Raum, in dem sie einer Auswahlkommission gegenüber saß. In der Stellenanzeige hieß es, man suche eine Tierärztin für den Bereich Lebensmittelüberwachung. Voraussetzungen: Approbation als Tierärztin, einschlägige Erfahrungen, Teamfähigkeit, Entscheidungsfreude, Verantwortungsbewusstsein. Die Kommilitonin, die ich der Einfachheit halber “F.” nennen will, verglich das Bewerbungsprocedere später mit einem Assessment Center, wie man es aus großen Unternehmen kennt. F. musste sich zunächst vorstellen und Fragen beantworten, die der Überprüfung ihres Wissens dienten. Es waren Fragen wie: Welche europäischen Gesetzesvorschriften gelten, wenn man in Deutschland Hackfleisch untersucht? Welchen Nährboden benutzt man, um Listerien anzuzüchten? Was für eine Sorte Käse ist Leerdammer?
Danach hatte F. etwas Zeit, um sich auf einen Vortrag vorzubereiten, dessen Thema ihr am Ende des Gespräches mitgeteilt worden war: F. sollte über Salmonellen sprechen. Außer F. waren an diesem Bewerbungstag nur Frauen erschienen, mehrere waren wesentlich älter als F., die Ende zwanzig ist, und wollten nach einer längeren Pause wieder ins Berufsleben einsteigen.
Diejenige Tierärztin unter den Bewerbern, die die Stelle schließlich antreten kann, wird einen Arbeitsalltag haben, der daraus besteht, Lebensmittel zu untersuchen, die von anderen Mitarbeitern des Amtes nach einem festgelegten “Probenplan” aus Metzgereitheken und Supermarktregalen, Eisdielen und Imbissbuden geholt und im Amt abgeliefert werden. Der Probenplan berücksichtigt, dass manche Lebensmittel häufig, andere selten verzehrt werden. Dementsprechend wird die Tierärztin häufig Eier und Schweinemett, Blutwurst und Bierschinken untersuchen, selten aber Kaviar oder Stubenküken.
Lebensmittelhygiene in der Theorie auf dem Studentenschreibtisch…
Die Lebensmittel sind in durchsichtige Tüten verpackt, wenn sie bei der Tierärztin auf der Arbeitsplatte ankommen, ein Zettel liegt bei, auf dem Herkunft und Besonderheiten vermerkt sind. Die Tierärztin wird die Würste, Scheiben oder Fleischklumpen auspacken, sie betrachten und daran riechen, manchmal auch ein Stück davon probieren, und dann wird sie in einen Protokollbogen eintragen: “Forelle geräuchert: goldbraune Räucherfarbe, Aussehen entspricht Forelle, 30 cm lang, beige-graue Muskulatur”. Oder sie wird notieren: “Blutwurst Hausmacher Art im Glas: geringgradiger grauweißer Fettabsatz oben am Rand, dunkelbraun-rote Blutschwartengrundmasse mit rosa Muskelfleisch und weißen Speckwürfeln (Kantenlänge sieben Millimeter), keine Innereien sichtbar.” Auf einem zweiten Bogen wird sie ankreuzen, welchen weiteren Untersuchungen das Lebensmittel unterzogen werden soll: auf Bakterien etwa, zum Beispiel Listerien oder Salmonellen, auf Farbstoffzugabe, einen zu hohen Salzgehalt – oder, wie derzeit angesichts vieler Verdachtsfälle, auf Dioxin. Viele dieser Untersuchungen übernehmen andere Mitarbeiter, meistens Laboranten. Die Entscheidungen, wie mit eingeliefertem Fleisch, mit Milch oder mit Eiern verfahren werden soll, trifft aber in der Regel ein Tierarzt. Auch die Leitungsfunktionen im Bereich der Lebensmittelaufsicht sind noch immer fest in Hand der Tierärzte. Die Weichen für diese Aufgabenverteilung wurden schon vor fast achtzig Jahren gestellt. Damals sicherten die Nationalsozialisten den deutschen Tierärzten die Möglichkeit, im Staatsdienst zu arbeiten.
Diese Versorgungsmaßnahme hatte eine Vorgeschichte: Ende des 19. Jahrhunderts waren die Übertragungswege vieler Tierseuchen auf den Menschen aufgeklärt worden – darunter Rindertuberkulose, Brucellose und Trichinellose. Nachdem bewiesen war, dass sich Menschen über tierische Lebensmittel anstecken konnten, musste eine Berufsgruppe gefunden werden, die die Kontrolle über das Problem übernehmen würde. Die Entscheidung fiel auf die Tierärzte: Man übertrug ihnen hoheitliche Aufgaben – die Fleischbeschau und die Lebensmittelüberwachung. Gleichzeitig wurden ihnen akademische Weihen ermöglicht, die dem Berufsstand bisher verschlossen geblieben waren. 1903 wurde in Deutschland das Abitur zur Pflichtvoraussetzung für das Studium, 1904 erhielten die Tiermediziner dann auch das Promotionsrecht. Bis dahin war das Studium an den europäischen „Vieh-Arzeney-Schulen” so etwas wie eine Weiterbildung für junge Männer gewesen, die als Schäfer, Hirten, Schmiede oder Fahnenschmiede der Armee arbeiteten. Diese „Rossärzte” waren nicht unbedingt als Akademiker wahrgenommen worden. Gottlieb Carl Haubner, der erste „Landestierarzt” in der Geschichte Sachsens, schrieb 1856 über die vergangenen Jahrzehnte, „der thierärztliche Stand” sei „ein wenig geachteter oder gar verachteter” gewesen: „Leider bestand er auch aus vielen unmoralischen und unlauteren Subjecten, wie das Lied von dem versoffenen Fahnenschmiede, was heute noch im Munde des Volkes ist, sattsam bekundet. Viele junge gebildete Männer, die auch in anderen Lebenskreisen sich bewegen konnten, wurden hierdurch abgehalten, sich der Thierheilkunde zu widmen.”
Die Einführung von Abitur und Promotion für angehende „Rossärzte” war nicht unumstritten: Als im Februar 1904 im Berliner Reichstag über den Militäretat beraten wurde, wetterte ein Abgeordneter über die Neuregelungen, nun sei „den jungen Leuten, die beim Abiturientenexamen durchfielen, die Möglichkeit genommen, sich dem Tierarzneifach zuzuwenden”. Für die Pferde sei es außerdem gleichgültig, ob der Tierarzt den Doktortitel führe oder nicht.
In den darauf folgenden Jahrzehnten rieb der Berufsstand sich in internen Konflikten auf. Die amtlichen Tierärzte erhielten anders als ihre Kollegen aus der Humanmedizin keine Vollbesoldung und mussten nebenher praktizieren. Damit machten sie den reinen Praktikern Konkurrenz. Die wirtschaftliche Situation war für alle verheerend, zumal es außerdem Berufsgruppen wie „Laienheilkundige” oder „Laienkastrierer” gab, die von Hof zu Hof zogen und ähnliche Dienste anboten wie die studierten Veterinäre.
In den zwanziger Jahren wurde allmählich die Vollbesoldung eingeführt, allerdings nur in einzelnen Ländern des Deutschen Reiches. Erst in den dreißiger Jahren wendete sich das Blatt. Die Nationalsozialisten stuften Tierarzt als „kriegswichtigen Beruf” ein und übertrugen den Veterinären weitere öffentliche Aufgaben. Das erste deutsche Tierschutzgesetz von 1933 schaltete konkurrierende Berufe wie die Laienheilkundigen aus. Beamtete Tierärzte erhielten flächendeckend die lange ersehnte Vollbesoldung und durften nicht mehr nebenbei praktizieren, was die Konkurrenzsituation weiter entschärfte. Das Fleischbeschaugesetz von 1940 schrieb zudem vor, dass jede Stelle als Leiter eines Schlachthof in Gemeinden mit mehr als 5000 Einwohnern mit einem Tierarzt besetzt werden musste.
Im Mitteilungsblatt „Berliner Tierärztliche Wochenschrift” zeigte sich der Berufsstand schon 1933 erkenntlich: „In der deutschen Tierärzteschaft haben Marxisten und Juden noch nie eine Rolle gespielt”, hieß es in einem Beitrag, „dank der engen Verbindung der Tierärzteschaft mit der Landwirtschaft und dadurch mit der deutschen Scholle.” 1935 wurde an der Tierärztlichen Hochschule Hannover eine Heeresveterinärakademie gegründet. Ihre Fähnriche und Fahnenjunker sollten sich vor allem um die rund drei Millionen Pferde und Tragtiere kümmern, die im Zweiten Weltkrieg eingesetzt wurden. Aber auch für die Lebensmittelaufsicht beim Militär wurden viele Veterinäre gebraucht.
Heute arbeiten 1300 beamtete und 2000 angestellte Tierärzte in Ämtern, Instituten und Untersuchungsanstalten des öffentlichen Dienstes. Nicht alle sind für das Gebiet „Lebensmittel” zuständig. Andere Aufgabenfelder sind die Tierseuchenbekämpfung, der Tierschutz oder der Tierarzneimittelverkehr.
…und die Praxis in einer niedersächsischen Bahnhofsbäckerei
Das Selbstverständnis und das Selbstwertgefühl der Tierärzte stützen sich bis heute in hohem Maße auf die Zuständigkeit in Lebensmittelfragen. Sie ermöglicht ihnen zum einen, nach der Approbation eine Laufbahn im öffentlichen Dienst mit der damit verbundenen Sicherheit einzuschlagen, und sie steigert auch den gesellschaftlichen Einfluss und den Status der Tierärzte sowie das öffentliche Interesse an veterinärmedizinischer Forschung – immerhin geht es dabei um den Schutz des Verbrauchers. Veterinärmediziner halten viel von dem Gedanken, dass ihr Berufsstand besonders für Aufgaben der Überwachung geeignet ist, weil er als einziger den Weg eines Lebensmittels ausgehend vom lebenden Tier beurteilen kann. „From stable to table” lautet ein zynischer, aber in jüngster Zeit in der Veterinärmedizin häufig gebrauchter Slogan.
Meine Kommilitonin F. hat die Stelle nicht bekommen. Sie werde sich weiter um Jobs im öffentlichen Dienst bewerben, sagt sie. Große Chancen rechnet sie sich allerdings nicht aus. Seit mehreren Jahren sind Stellen als “Amtsveterinär” stark umkämpft. Für Tierärzte, die angestellt in Praxen und Kliniken arbeiten, gibt es keine Tarifvereinbarungen, einer aktuellen Studie zufolge arbeitet ein Drittel von ihnen ohne schriftlichen Arbeitsvertrag, Insider sagen, dass immer wieder Schwangere gekündigt werden. Mittlerweile sind 85 Prozent der Studenten im Fach Veterinärmedizin Frauen. Sie wünschen sich Sicherheit und scheuen deshalb keinen Aufwand, um sich auf Lebensmittelhygiene und Verbraucherschutz zu spezialisieren. Dafür promovieren sie über Bio-Eier, Schlachthofhygiene oder Großküchenkeime, belegen jahrelang Fortbildungen, um den Titel Fachtierarzt für Lebensmittelhygiene oder für öffentliches Veterinärwesen zu erwerben und nehmen manchmal auch zusätzlich ein zweijähriges Referendariat auf sich, um schließlich die Beamtenlaufbahn einschlagen zu können.
Im Internetforum foren4vet.de, in dem sich junge Tierärzte und Studierende austauschen, ist Ende des Jahres eine Diskussion über die problematischen Arbeitsbedingungen praktisch arbeitender Tierärzte entbrannt. Eine junge Frau, die im öffentlichen Dienst arbeitet, schreibt unter einem Pseudonym ungeschminkt über die Vorzüge ihrer Tätigkeit: “Mein geheiztes Büro. Zu festgesetzter Stunde den Stift fallen lassen, um den Kleinen von der Tagesmutter zu holen. Der Geldeingang auf meinem Konto.” Zuvor sei sie als Tierärztin in der Behandlung von Haustieren tätig gewesen, habe die Stelle aber aufgegeben: “Zum Glück, und kein Geld der Welt und kein niedliches Tierchen der Welt ließen mich das bereuen!” Die Frau schreibt keineswegs während ihrer Arbeitszeit, sondern liegt mit Grippe im Bett: “Ich hab Fieber, ‘ne Mittelohrentzündung, Konjunktivitis, Reizhusten und chronischen Schlafmangel. In meinem alten Job hätte ich so arbeiten müssen.”
Doch nicht alle Studierenden können sich für den öffenlichen Dienst begeistern – jedenfalls noch nicht in den ersten Jahren des Studiums. Die meisten wählen aus Interesse für Tiere, für medizinische Zusammenhänge und für die Herausforderung diagnostischer Fragestellungen das Studienfach Veterinärmedizin. Manche lehnen deshalb die ausführlichen Lehrinhalte zu Themen wie Lebensmittel- oder Milchkunde im Vorlesungs- und Prüfungsplan ab. „Die Begründung, als Tierarzt müsse man dringend wissen, wie man Würste macht und kennzeichnet, und zwar bis ins kleinste Detail, oder man bringe sich um seine Zukunft, finde ich nicht nachvollziehbar”, schreibt ein Nutzer des Internetforums foren4vet.de. Eine Studentin stimmt zu und schreibt, dass sie sich frage, „ob ich wirklich den Unterschied zwischen Molkenkäse, Frischkäse und so weiter überhaupt wissen will! Ganz abgesehen davon, dass es in Deutschland anscheinend zu allem ein Gesetz nebst dazugehöriger Verordnung, Unterverordnung und Durchführungsverordnung gibt. Wenn ich hätte Jura studieren wollen, hätte ich mich dafür beworben.”