Die Behörden konnten sich inzwischen darauf festlegen, dass Sprossen aus dem Betrieb in Bienenbüttel für den deutschen Ehec-Ausbruch verantwortlich sind. Damit sind die Risikodetektive diesmal erfolgreicher gewesen als bei vielen früheren Ehec-Epidemien in Deutschland und in anderen Ländern. Denn oft konnte nicht einmal das Lebensmittel gefunden werden, das den Erreger getragen hatte. Und selbst wenn man es schließlich identifizieren konnte, wurde häufig trotz monatelanger Recherche nicht der Betrieb gefunden, von dem es stammte. Das geht aus den vielen Studien hervor, die Wissenschaftler nach Ehec-Epidemien veröffentlicht haben. Nur wenige herausragende Erfolge sind verzeichnet, durch die ein ähnlicher Schlussstrich unter eine Epidemie gezogen werden konnte wie jetzt in Deutschland.
Das süß-saure Hähnchen aus der Schulkantine
Bis zum Ursprung konnten Risikoforscher Ehec-Keime beispielsweise in den neunziger Jahren in Japan verfolgen. Über die berühmte Ehec-Epidemie erschien 1999 im „American Journal of Epidemiology” eine wissenschaftliche Studie, die den Ausbruch in den Sommermonaten des Jahres 1996 beleuchtete, als in der Stadt Sakai 6000 Schulkinder erkrankten. Insgesamt waren 47 Grundschulen in unterschiedlichen Distrikten der Stadt betroffen. Wissenschaftler des japanischen Gesundheitsministeriums beschrieben in der Fachzeitschrift im Rückblick, wie es ihnen gelang, die Quelle ausfindig zu machen: Sie fanden heraus, dass es nur zwei Tage gab, an denen die Mitte Juli ins Krankenhaus eingelieferten Kinder alle auch wirklich in der Schule gewesen waren: Es waren der 8. und der 9. Juli. Daraufhin überprüfte man die Lieferlisten des Schulkantinenessens. Rettichsprossen waren die einzigen rohen Lebensmittel, die an diesen Tagen in den am häufigsten verzehrten Gerichten in den Kantinen zu finden gewesen waren. Die Sprossen befanden sich in einem süß-sauren Hähnchengericht mit Salat und in kalten japanischen Nudeln. Schließlich gelang es, die Sprossen zu einer einzigen Farm zurückzuverfolgen. Daraus schloss man, dass sie verantwortlich gewesen sein mussten. Ein guter Rechercheerfolg – auch wenn sich keine tatsächlich kontaminierten Sprossen mehr aufspüren ließen.
Wenn Kleinkinder erkranken, ist meist Kontakt zu Wiederkäuern schuld – oder Rohmilch
In Deutschland glichen die Berichte und Studien über Ehec-Fälle bisher eher etwas verwirrenden Geschichten über ins Leere gelaufene Recherchen, unbestätigte Vermutungen und lose Zusammenhängen. Das Robert-Koch-Institut hat in seinen Epidemiologischen Bulletins der vergangenen Jahre die Erkenntnisse aus diversen Ehec-Einzelfällen und auch aus kleineren Epidemien zusammengestellt. Die Berichte zeigen, dass es vielfach nicht möglich war, die Quelle zu entdecken. Und selbst wenn man ein Lebensmittel identifizieren konnte, blieb seine Herkunft zuweilen im Dunklen.
Rinderkeule ist schuld – doch wo ist der Mastbetrieb?
Im Jahr 2000 etwa erfasste ein Ehec-Ausbruch immerhin drei Bundesländer. Im Frühjahr kam es in einer Mutter-Kind-Kurklinik, einem Krankenhaus und drei Kindertagesstätten zu Infektionen mit dem Ehec-Keim. Die Einrichtungen lagen in Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen und Hessen. Die Behörden verglichen die Lieferscheine der Küchen, wodurch schnell auffiel, dass alle Verpflegungseinrichtungen „Rinder-Seemerrolle” – ein Stück aus der Rinderkeule – von dem gleichen Großhändler bezogen hatten. Die Ermittler des Robert-Koch-Instituts versuchten, das Lebensmittel bis zum Erzeugerbetrieb zurückzuverfolgen, mussten aber nach vier Monaten fieberhafter Recherche enttäuscht aufgeben. Am Ende kamen 235 Rindermastbetriebe in Frage, der Rückverfolgungspfad zweigte sich mehrfach auf, Lieferscheine waren möglicherweise fehlerhaft ausgefüllt worden. Von welchem Rind oder welchem Hof das Fleisch stammte, konnte nie geklärt werden.
Ein weiterer Ausbruch gab den Risikoforschern vom Robert-Koch-Institut im Herbst 2002 Rätsel auf. Eine Epidemie konnte man es noch nicht nennen, aber eine ungewöhnliche Häufung lag durchaus vor: In Süddeutschland kam es immer wieder zu Ehec-Fällen, an denen eine ganz bestimmte Variante des Keims beteiligt war, wie die Mikrobiologen von der Universität Münster im Ehec-Labor rasch feststellten. Also wurde auch eine gemeinsame Quelle vermutet. Doch sie konnte nie gefunden werden, obwohl die Mitarbeiter des Robert-Koch-Instituts immer wieder glaubten, sie eingekreist zu haben. Sie stützten sich dabei auf Indizien wie in einem Kriminalfall, überprüften Kühlschränke und befragten Zeugen. Die Ehec-Variante O157:H-, die für die Erkrankungen verantwortlich war, gilt als selten und gefährlich; sie war auch zuvor fast nur in Deutschland gefunden worden.
Warum kamen viele der Erkrankten aus Einwandererfamilien?
Bald fiel den Ermittlern auf, dass viele der Betroffenen aus der ehemaligen Sowjetunion stammten. Außerdem berichteten auffallend viele Familien, in denen Erkrankungen aufgetreten waren, dass sie Apfelsaft getrunken hatten, der entweder von einem Bauernhof oder aus einer kleinen Mosterei oder aus privat gepressten Äpfeln einer öffentlich zugänglichen Streuobstwiese stammte. Allerdings blieben am Ende etliche Betroffene übrig, die angaben, überhaupt keinen Apfelsaft getrunken zu haben. Also mussten die Ermittler die “Apfelsaft-Hypothese” fallen lassen. Am Ende konnten sie kein Lebensmittel dingfest machen, dass den Ausbruch ausgelöst haben könnte.
Ein mageres Ergebnis, doch Risikoforscher machen aus solch einer Not manchmal doch noch eine Tugend: Im Fall von Ehec rufen die Robert-Koch-Mitarbeiter von Zeit zu Zeit sogenannte Fall-Kontroll-Studien ins Leben, mit denen sie generell mehr Wissen über Risikofaktoren und Infektionswege im Zuge von Ehec-Ausbrüchen gewinnen wollen. Vor wenigen Jahren ergab eine Studie zu sogenannten “sporadischen” Ehec-Ausbrüchen (Einzelausbrüchen, die man nicht in einen epidemiologischen Zusammenhang miteinander bringen kann), dass Ehec sich vor allem bei Menschen, die älter als neun Jahre alt sind, über Lebensmittel zu verbreiten scheint. Bei jüngeren Kindern überwiegt die Infektion durch Kontakt mit Tieren und Umwelt. Als Risikofaktoren gelten bei Kleinkindern der Kontakt mit Kühen oder Ziegen. Allerdings gibt es ein Lebensmittel, das vor allem bei sehr kleinen Kindern (unter drei Jahren) mit Ehec-Erkrankungen assoziiert ist: Rohmilch.
Vielleicht schützt rohes Gemüse am Ende doch
Alle Kinder bis neun Jahre tragen ein erhöhtes Risiko, wenn sie im Sandkasten spielen oder außerhalb öffentlicher Schwimmbäder baden, etwa in Badeseen oder Planschbecken. Kinder ab zehn und Erwachsene stecken sich eigentlich nur noch durch Lebensmittel an – an erster Stelle unter den Risikofaktoren steht der Lammfleischverzehr. Lammschlachtkörper sind zu mehr als 70 Prozent mit Ehec-Keimen kontaminiert. Aber auch streichfähige Rohwürste, zum Beispiel Teewurst und Zwiebelmettwurst, gelten als riskant, außerdem Dönerkebab, das möglicherweise auf dem Grillspieß nur ungleichmäßig durchgart.
Lammsuppe: Lammfleischverzehr gilt als Risikofaktor für eine Ehec-Erkrankung
Für eine solche Fall-Kontroll-Studie werden Erkrankte und eine Kontrollgruppe befragt. Die Kontrollpersonen ermittelt ein Zufallsgenerator. Sie müssen aus derselben Altersgruppe und demselben Telefonbezirk wie die erkrankte Person kommen. Auch die Befragung der Kontrollpersonen ergab Interessantes: Offenbar wurde in von Ehec verschonten Familien sogar häufiger rohes Gemüse und selbst hergestellter Obstsaft konsumiert. Die Ehec-Ermittler mutmaßen, dass das möglicherweise Zeichen eines generell besonders gesundheitsorientierten Lebensstils dieser Familien ist. Dahinter stehen Fragen wie: Könnte es nicht auch sein, dass sie sorgfältiger mit kritischen Lebensmitteln umgehen? Sind sie erfahrener, was die Zubereitung roher Speisen und Hygiene in der Küche angeht? Aber auch einen weiteren, unbewiesenen Verdacht hegen die Robert-Koch-Experten: Möglicherweise haben Menschen, die mehr rohes Gemüse und rohen Fruchtsaft zu sich nehmen, eine Darmflora, die sie besser gegen die Angriffe von Ehec-Bakterien schützt.
(Fotos dpa, huch)