Selten ist in Deutschland so viel über Ernährung gesprochen worden wie in den vergangenen zwölf Monaten. Die Tierhaltungsdebatte, der Dioxin-Skandal, die Ehec-Krise und zuletzt die Antibiotika-Gutachten aus Norddeutschland haben Interesse an neuen Lösungen geweckt, an Ernährungsstilen, die sich mit einem gewachsenen Misstrauen gegenüber der Erzeugung von Lebensmitteln vereinbaren lassen. Die Wissenschaftler, die sich mit Ernährungstrends beschäftigen, stehen vor einer zersplitterten Gruppe von Konsumenten und vor immer mehr Mikrotrends, und auch in der medialen Darstellung haben inzwischen Nischenmodelle Konjunktur: Urban Gardening, Veganismus, die Hinwendung zu Fairtrade-Produkten oder der Trend „Back to the roots”, die Bevorzugung einer Kost, wie man sie von den Eltern oder Großeltern kennt. Einige Strömungen haben sich aber zu größeren Trends weiterentwickelt: Regionale Produkte etwa und natürlich der Vegetarismus.
Proteste in Berlin auf dem Höhepunkt der Dioxinkrise im Januar (Foto dapd)
Erinnert sich noch jemand an jene Wochen Anfang 2011, als plötzlich so viele Freunde und Kollegen von der Absicht sprachen, künftig vegetarisch zu essen, nein, meistens hieß es noch entschiedener: “Vegetarier zu sein”? Und die Gespräche drehten sich oft darum, was man denn überhaupt noch essen könne – Bio-Eier, fair gehandelter Kaffee, Milch-ab-Hof? Geht noch Fleisch und wenn ja, wo – in der Kantine oder nur aus dem Demeter-Hofladen? Es war die Zeit, als die Dioxinkrise das Augenmerk auf die landwirtschaftliche Tierhaltung lenkte und Karen Duve, Sarah Wiener und Karl-Heinz Funke sich in Talkshows stritten. Als sich im Mai alles wieder etwas beruhigt hatte, kam es zum Ehec-Ausbruch – ein Geschehen, das erneut Phantasien weckte über eine Lebensmittelwirtschaft, die vielleicht inzwischen so unübersichtlich, verzweigt und profitmaximiert ist, dass unkalkulierbare Risiken entstehen. Das Marktforschungsunternehmen GfK kam kurz nach der Ehec-Krise in einem Report über die Stimmung unter deutschen Konsumenten sogar zu dem Schluss: „Gegen Ehec war selbst BSE eine überschaubare Bedrohung.”
In einem solchen Klima des Wandels könnten einzelne, kleinere Trends entscheidend werden, sagt die Politikwissenschaftlerin Edda Müller, die in den neunziger Jahren Ministerin für Natur und Umwelt in Schleswig-Holstein, bis 2007 Vorsitzende des Bundesverbandes der Verbraucherzentralen (vzbv) gewesen ist. Müller hat sich in ihrer Zeit als Vorstand des vzbv mehrfach mit dem „Verbraucher der Zukunft” beschäftigt. Ein Großteil der Verbraucher sei konformistisch, sagt Müller, und orientiere sich an kleinen, sozial angesehenen Gruppen, die bestimmte Ernährungsstile favorisieren. „Trendsetter sind ohnehin in Deutschland relativ mächtig”, sagt Müller, „Der Grund dafür ist in dem starken Wettbewerb und den mächtigen Marktpartnern zu suchen, etwa Ketten wie Aldi, Lidl oder Rewe, die ihren Lieferanten die Bedingungen diktieren können.” Ihre These sei deshalb: „Der Wettbewerb um kleine Käuferschichten ist groß.”
Neulich auf dem Weihnachtsbasar der Waldorfschule
Was die Gegenwart angeht, betrachtet sie vor allem die Vegetarismuswelle als bedeutsam. „Ich finde es erstaunlich, wie wenig die Fleischwirtschaft und der Handel den Anstieg der Vegetarier wahrnehmen”, sagt Müller. „Längst müssten die Land- und die Fleischwirtschaft unruhig sein. In diesen Branchen werden kleinste Verschiebungen im Markt oder Bedrohungen durch Fleischimporte breit debattiert, aber der Vegetarier, der sich völlig vom Fleischkonsum abwendet, wird ignoriert.” Anfang der achtziger Jahre aß noch weniger als ein Prozent der Deutschen vegetarisch. Die Befragungen für die von der Firma Nestlé beim Institut für Demoskopie Allensbach in Auftrag gegebene Studie “So is(s)t Deutschland” fanden im Sommer 2010 immerhin acht Prozent Menschen, die angaben, auf vegetarische Ernährung zu achten – ein Bekenntnis zum strikten Vegetariertum ist das allerdings noch nicht.
Im Juni 2011 veröffentlichte Forsa eine Umfrage, derzufolge fast zwei Drittel der Frauen und knapp vierzig Prozent der Männer sich als „Teilzeitvegetarier” sehen. Der Vegetarierbund Deutschland verzeichnet derzeit die größte Eintrittswelle, die es jemals gab: Nachdem sich die Mitgliederzahl stets um etwa fünf Prozent pro Jahr gesteigert hat, kam es 2010 zu einer Zunahme um 30 Prozent, die für 2011 schon nach der ersten Hälfte des Jahres erreicht war.
Auch der Buchmarkt spiegelte im Jahr 2011 diese Entwicklung. Nach den großen Erfolgen “Tiere essen” von Jonathan Safran Foer (auf Deutsch im August 2010 erschienen) und “Anständig essen” von Karen Duve (im Januar 2011 veröffentlicht) erschienen etliche weitere Titel, die das Thema “ethisch korrekte Ernährung” aufgriffen. Eine Auswahl soll hier vorgestellt werden.
Die Ärztin Sigrid Steeb hat für die Schlütersche Verlagsgesellschaft eine Übersicht über das Thema geschrieben: “Vegetarisch. Gesund”, ein Buch, das aus einer praxisnahen Einführung, einem umfangreichen Nährstofflexikon und vielen Rezepten besteht. Steeb kocht seit 1994 vegetarisch. Damals wollte sich zuerst ihre zwölfjährige Tochter vegetarisch ernähren. “Mit entscheidend” für ihre Bereitschaft, ihr Kochverhalten umzustellen, sei die Tatsache gewesen, dass sie beruflich damals nicht stark eingespannt war, schreibt Steeb. Ihr Buch ist nicht dogmatisch, sie unterscheidet sogar unterschiedliche Vegetariertypen, keinem davon spricht sie seine Existenzberechtigung ab: Moderate Vegetarier, die gelegentlich kleine Mengen Fleisch essen, Pesce-Vegetarier, die auch Fisch essen oder auch “Pudding-Vegetarier”: Jugendliche, die noch keinen eigenen Haushalt führen und deren Eltern ihr Vegetariertum nicht unterstützen. Aus ethischen Gründen essen die Pudding-Vegetarier nur die Beilagen, was zu Mangelerscheinungen führen kann, weil der vegetarische Lebensstil hier nicht durchdacht ist. Wie man es besser macht, schildert Steeb in ihrem Buch, in dem sich so schöne Rezepte finden wie “Amaranth-Pilz-Pfanne” und “gefüllte Dinkelpfannkuchen”. (Sigrid Steeb: “Vegetarisch. Gesund. Alles über vegetarische Ernährung”. Schlütersche Verlagsgesellschaft, Hannover 2011. 188 S. 19,95 Euro.)
Die langjährige “Neon”-Kolumnistin Theresa Bäuerlein hat das Gegenbuch zum Trend geschrieben: “Fleisch essen, Tiere lieben”. Die 31-Jährige will darin begründen, warum Fleischgenuss auch weiter ethisch vertretbar bleibt – bei allem, was wir über Mastställe, Schlachthöfe und den Klimawandel wissen. Bei Amazon kann man sich eine lange Reihe eloquenter Kommentare engagierter Veganer zu dem Buch durchlesen, die teils auch recht substantiell wirken. Interessant und in bildlicher, eindrücklicher Sprache präsentiert sind Bäuerleins Exkurse über die Entwicklung der modernen Landwirtschaft, mit denen sie an das Thema heranführt: So erklärt sie etwa ausführlich das Haber-Bosch-Verfahren. Doch es wird dort dünn, wo sie sich an investigativer Recherche versucht, um zu belegen, dass Schlachtungen ja gar nicht so schlimm sind, wie oft geschildert. Sie darf einen Schlachthof bei Osnabrück besuchen, wo täglich 1600 Schweine geschlachtet werden. “Schnell und routiniert” kommt ihr das vor. Was es bedeutet, dass unter dreißig Schlachtbetrieben, die sie kontaktiert hat, nur einer bereit war, sie zu empfangen, führt sie nicht weiter aus. Ansonsten bleibt die Autorin ihren Kolumnen treu: Auch in ihrem Buch ist viel von den Jungs die Rede, mit denen sie in WGs lebte und auf Partys plauderte, von Lorenz, Timm, Martin und Thomas, die einfach nicht auf ihr Steak verzichten wollten. (Theresa Bäuerlein: “Fleisch essen, Tiere lieben.” Ludwig Buchverlag, München 2011, 160 S., 12,99 Euro.)
Daneben gibt es auch Ungewöhnlicheres, etwa die Lebensbeichte “Tofu” von Bernd Drosihn, einem Tofumacher aus Tofutown in der Vulkaneifel. Klappentext: “Bernd Drosihn erzählt die Oper seines Erwachsenwerdens vor dem Hintergrund dieses schneeweißen Wunderblocks, seine ganz eigene ‘Tofugrafie’ zwischen Alternativbewegung und Punk.” (Bernd Drosihn: “Tofu”. Ventil Verlag, Mainz 2010. 158 S., 12,90.) Auch Christian Vagedes, der Vorsitzende der 2010 gegründeten “Veganen Gesellschaft“, hat ein Buch geschrieben: “Veg up – Die Veganisierung der Welt”, das “erste bewusst vegan und damit gewaltfrei, umweltschonend und frei von Knochenleim, Bienenwachs oder weiteren Bestandteilen tierlichen Ursprungs hergestellte fadengeheftete Hardcoverbuch”. (Christian Vagedes: “Veg up: Die Veganisierung der Welt.”, Sicht Verlag, Kiel 2011, 287 S., 19,80 Euro.)
Was das nächste Jahr an Fragen und Zweifeln rund um Lebensmittel mit sich bringen wird, bleibt abzuwarten. “Ganz offenbar”, schreibt der Ernährungspsychologe Thomas Ellrott von der Universitätsmedizin Göttingen im aktuellen Brockhaus Ernährung, “hat die Bevölkerung aber großes Interesse an Ernährungsfragen. Vergleichbare bevölkerungsrepräsentative Erhebungen lassen erkennen, dass das Ernährungsinteresse stetig zugenommen hat.” Das zumindest lässt weitere Bücher zum Thema auch für 2012 erwarten – und vielleicht auch ganz neue Strömungen. Einer der kommenden Trends sei schon jetzt verraten: Insider wie Ellrott glauben, dass die Verbraucher in naher Zukunft nur noch Fairtrade-Kaffee in ihren To-go-Bechern dulden werden.