Die Meldung, die Anfang der Woche aus Nordrhein-Westfalen kam, hatte eigentlich das Zeug dazu, ganz großen Wirbel zu verursachen. Sie ist mindestens so brisant wie der Fund resistenter Keime auf Geflügelfleisch, den die Umweltorganisation BUND Anfang des Jahres publik gemacht hatte und der die Schlagzeilen lange dominiert hatte. Vielleicht war das dem Zeitpunkt geschuldet: Wenige Tage später sollte die Grüne Woche in Berlin beginnen.
Diesmal bleibt es bemerkenswert ruhig. Dabei bergen die Nachrichten aus Nordrhein-Westfalen eigentlich noch mehr Zündstoff: Das Landesumweltamt in NRW hatte in 42 Geflügelställen Trinkwasserproben genommen. In 26 Ställen wurden auffällige Rückstände ermittelt. Mastgeflügel komme teils sogar ohne tierärztliche Verordnung und häufig außerhalb von Therapiezeiten in Kontakt damit – im Extremfall bis zu drei Jahre später, berichtete der nordrhein-westfälische Verbraucherminister Johannes Remmel (Grüne) am Dienstag in Düsseldorf. Auch von Anzeichen für “Langzeit-Rückstände” war die Rede. Das Ministerium prüfe aufgrund der Ergebnisse weitere rechtliche Schritte in einzelnen Fällen, hieß es. Gegen den massiven Antibiotika-Einsatz müsse jedoch auch die Bundesregierung aktiv werden.
Halten wir fest: Jetzt geht es nicht mehr in erster Linie darum, dass Geflügel große Mengen Antibiotika erhält – das war das Thema des Verbraucherschutzes in den vergangenen Monaten. Es geht nicht darum, dass kaum ein Mastdurchgang es bis zur Schlachtung schafft, ohne dass ein Tierarzt dem Halter Antibiotika ausgehändigt hat, weil er den Ausbruch einer Infektion schon kommen sah, nachdem einzelne Küken kränkelnd durch den Stall schlichen. Darum ging es im Herbst, die Sache war unschön, aber legal.
Der Fall jetzt ist grundsätzlich anders gelagert. Zuvor hatten die Behörden Dokumente ausgewertet. Jetzt analysierten sie Trinkwasser, also den Stoff, dem üblicherweise beim Geflügel Arzneimittel zugesetzt werden. Sie fanden Antibiotika darin – und das zu Zeiten, in denen der Landwirt überhaupt keine von seinem Tierarzt gekauft hatte. Zumindest war dieser Kauf nicht dokumentiert in den Unterlagen, die Tierarzt und Halter erstellen müssen, in denen sie alle Arzneimittelgaben festhalten. Was kann man daraus schließen?
Man muss wohl folgern, dass es möglich ist, dass landwirtschaftliche Nutztiere in Deutschland Antibiotika erhalten, ohne dass diese Arzneimittelgabe in einem Dokument erscheint und ohne dass sie einer behördlichen Kontrolle auffällt – außer, man würde von jedem einzelnen Tier eine Blut- oder Fleischprobe nehmen und sie untersuchen oder von jedem Betrieb eine Wasserprobe. Das Ganze ist also für den Verbraucherschutz überaus relevant.
Proteste gegen Antibiotika in der Geflügelhaltung in Berlin
Nun gab es in der Vergangenheit immer wieder spektakuläre Prozesse gegen Tierärzte, die offensichtlich einen schwunghaften Handel mit Antibiotika unterhalten hatten und dabei auch in ihren Unterlagen so einiges durcheinanderbrachten. Einer, der vor nicht allzu langer Zeit verurteilt wurde, soll gar Tiere erfunden haben, um Bestellung und Verkauf großer Mengen von Arzneimitteln zu begründen. Noch bekannter wurde der Fall bayerischer Tierärzte, die vor zehn Jahren wegen des „Schweinemastskandals” verurteilt wurden. Nachdem dieser Antibiotika-Skandal aufgeflogen war, wurde das Arzneimittelgesetz verschärft.
Jetzt sind wieder Erinnerungen an Geschichten wie diese geweckt. Und heute wurde nun auch noch eine Studie zum Antibiotikaeinsatz in Mecklenburg-Vorpommern veröffentlicht. Auch im Nordosten ist der Antibiotikaeinsatz beim Geflügel demnach so verbreitet, dass Agrarminister Till Backhaus in Schwerin Konzepte zur Minimierung forderte.
Eins ist jedenfalls klar: Die deutschen Tierärzte stecken wegen der aktuellen Fälle in Schwierigkeiten – nicht nur, weil sie um ihr Dispensierrecht fürchten müssen, das Recht, Arzneimittel vom Großhandel zu beziehen und mit einem Aufschlag an Tierhalter weiterzuverkaufen. Deutlich wurden die Konflikte unlängst wieder in Berlin-Zehlendorf, dort, wo der veterinärmedizinische Fachbereich der FU seine Institute und Kliniken hat. Im grün gekachelten Hörsaal für Pferdechirurgie fanden sich Veterinäre aus ganz Deutschland ein, um an einer Tagung teilzunehmen, die den sachlichen Titel „Neue Entwicklungen im Arzneimittelrecht in der Veterinärmedizin” trug.
Nicht nur Wissenschaftler nahmen teil, sondern vor allem viele Praktiker, die hier offen nach Lösungen für die Probleme ihres Arbeitsalltags fragten und besondere Probleme thematisierten. So wurde etwa angemerkt, dass es längst nicht nur um Antibiotika gehe, die man zur Bekämpfung bakterieller Infektionen einsetzt. Es falle auch auf, dass immer häufiger bestimmte Anästhetika, etwa zum Enthornen älterer Kälber, an den Landwirt abgegeben werden – obwohl sie eigentlich nur vom Tierarzt eingesetzt werden dürfen. Offenbar bestehe hier oft Unsicherheit über die rechtliche Sitaution.
Sorgen machen den Tierärzten auch die strengen Bestimmungen für die Anwendung von Antibiotika, die nicht explizit für die betroffene Tierart und die Krankheit zugelassen sind – was nur in begründeten Fällen möglich ist. Tierärzte müssen sich in alle Richtungen absichern, wenn sie solche eigenen Entscheidungen fällen, zum Beispiel auch mit einem sogenannten Antibiogramm, das zeigt, auf welche Antibiotika der Krankheitserreger, den sie in Proben gefunden haben, noch sensibel reagiert und gegen welche er schon resistent ist. Ein Praktiker formulierte das Dilemma so: „Wenn ich abweiche, bin ich verantwortlich. Wenn nicht und das Tier stirbt, dann auch.”
Der Veterinär-Pharmakologe Manfred Kietzmann von der Tierärztlichen Hochschule Hannover empfahl, die ausbleibende Wirksamkeit von Arzneimitteln, die dann oft dazu führt, dass andere Mittel eigenständig ausgewählt werden, stets sofort an das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL) zu melden, das die Wirksamkeit und Sicherheit von Arzneimitteln überwacht. In was für einer brenzligen Situation sich die Veterinäre befinden, wurde deutlich, als jemand anmerkte, viele Tierärzte hätten Bedenken, solche Meldungen zu machen. Immer schwinge die Angst mit, dass ein Mittel die Zulassung verliert – und damit eine weitere Möglichkeit wegfällt, schwere Krankheiten bei Tieren in den Griff zu bekommen.
Ein weiteres Problem sei es oft, überhaupt das Material für das vorgeschriebene Antibiogramm zu bekommen, das verlangt wird, um zu verhindern, dass Antibiotika sinnlos eingesetzt und so immer mehr Resistenzen bei Keimen erzeugt werden. Wie man bei einem lahmen Schwein die Keime aus dem Gelenk bekommen oder keimhaltiges Material bei einer Mittelohrentzündung gewinnen solle, fragte ein praktisch tätiger Tierarzt aus dem Publikum. Andere beschwerten sich: „Ich stehe ja mit einem Bein immer im Gefängnis, wenn ich das Antibiotikum wechsle und kein Antibiogramm mache.”
Jeden Fall solle man begründen und dokumentieren, riet Kietzmann. Doch die Tierärzte haben längst auch das Gefühl, dass sie mit ihrer Hausapotheke versuchen müssen, die Folgen von Zuständen abzumildern, für die sie nicht verantwortlich sind: „Viele Ställe müssten renoviert oder neu gebaut werden”, hieß es aus dem Publikum. Anders sei die Hygiene gar nicht in den Griff zu bekommen.
Stress macht die Tiere anfällig für sogenannte “Faktorenerkrankungen” (Foto dpa)
Eins wurde aber auch in Berlin deutlich: Das, was man immer häufiger „Tierwohl” nennt, wird ein Markt. „Molkereien versuchen jetzt schon, die Tiergesundheit zu erfassen”, sagte Kerstin Müller, die geschäftsführende Direktorin der Klinik für Klauentiere der FU Berlin. Sie werde inzwischen etwa von Molkereien um Rat gebeten hinsichtlich der Frage, wie man etwa Lahmheiten in Milchkuh-Betrieben quantifizieren kann: „Das wollen die Molkereien als Benchmark verwenden.”
Gesunde Tiere sind Tiere, die nicht leiden. Gesunde Tiere bekommen auch weniger Medikamente. Das würde heißen, je weniger Medikamente ein Landwirt braucht, desto besser, tiergerechter hält er seine Tiere, desto besser geht es ihnen: Diese Erkenntnis kommt inzwischen vielen Verbrauchern schlüssig vor. Dass es Zusammenhänge zwischen Arzneimitteln und Leid gibt, sickert natürlich auch zu denen durch, die Produkte von Tieren weitervermarkten. Dass besonders Antibiotika in die Kritik geraten, hat also nicht nur damit zu tun, dass Menschen um ihre eigene Gesundheit fürchten, die angesichts von immer mehr resistenten Keimen bedroht wirkt (und angesichts der Erkenntnisse aus NRW wohl auch angesichts von möglichen Rückständen der Arzneimittel selbst). Antibiotikagaben an Nutztiere kaschieren deren schlechte Lebensbedingungen – das glaubt nicht nur der kritische Konsument inzwischen. Nein, natürlich wissen das auch Tierärzte.
„Im Nutztiersektor werden Antibiotika vor allem zur Behandlung von Faktorenkrankheiten eingesetzt”, sagte Kerstin Müller in ihrem Vortrag. Dazu gehören etwa der Kälberdurchfall, die enzootische Bronchopneumonie (eine Atemwegserkrankung), Euterentzündungen und Klauenkrankheiten. Verschiedene Risikofaktoren kommen dabei zusammen, sich selbst verstärkende oder hemmende Regelkreise spielen eine Rolle. Die Tiere erkranken in Phasen, in denen sie immunsupprimiert sind, zum Beispiel, wenn zwei Wochen alte männliche Kälber die Betriebe verlassen und zum Mäster wechseln. Viele Tiere brüten in dieser Zeit eine ansteckende Krankheit aus, die sie sich schon auf dem Herkunftsbetrieb zugezogen haben, dann kommt der Stress des Transports und neuen Stalls hinzu. „Deshalb empfehlen wir Mästern: Seht, wo ihr eure Kälber herbekommt”, sagte Müller. „Aber die sagen: Der Markt wird leergeräumt.” Sie müssten froh sein, wenn sie Tiere kaufen könnten. „Das wird auch in Zukunft so sein”, sagte Müller. „Fleisch wird knapp werden.” Vielleicht ist dann das möglich, was Kietzmann sich vorstellt, um die Situation zu verbessern: ein Mindestpreis für Fleisch.