
Eine seltsame Parallele zeichnet sich ab, wenn man derzeit die Arbeitsmarktsituation für Tierärzte in Deutschland und den Vereinigten Staaten betrachtet. In beiden Ländern wurde jahrelang ein Mangel an Tierärzten beklagt. Schon gegenwärtig, vor allem aber in naher Zukunft sehe man schwarz für die Versorgung ländlicher Gegenden und insbesondere von Nutztieren durch Veterinärmediziner, warnten Berufsverbände und Dachorganisationen immer wieder. Auch Vertreter anderer Berufe schalteten sich ein: Die deutschen Bauern zogen am selben Strang und mahnten etwa geänderte Zulassungsvoraussetzungen für das Veterinärmedizinstudium an, um Bewerber zu begünstigen, die später landwirtschaftliche Nutztiere betreuen würden.
Im vergangenen Jahr sind nun in beiden Staaten Studien veröffentlicht worden, die ein ganz anderes Bild vermitteln. In Amerika führte die „National Academy of Sciences“ eine Untersuchung durch, die kaum Evidenz dafür fand, dass Tierärzte bald knapp werden. Stattdessen richtete die Analyse den Blick auf die Kosten der Ausbildung von Veterinärmedizinern: Sie seien an einem kritischen Punkt angelangt.
In Deutschland kam das Bundeslandwirtschaftsministerium unlängst zu einem vergleichbaren Schluss: Eine Umfrage unter 1586 Praktikern, die landwirtschaftliche Nutztiere behandeln, ergab, dass ein Nachwuchsmangel keineswegs zu befürchten sei. In der berufspolitischen Zeitschrift „Vetimpulse“ hieß es vor einigen Wochen: „Die Umfrage ist zwar nicht repräsentativ, denn es fehlen Angaben aus sieben der 17 Landestierärztekammern. Die Ergebnisse reichen nach Ansicht des Statistischen Bundesamtes aber aus, um den plausiblen Trend abzuleiten, dass es auch künftig genug Nutztierpraktiker geben wird.“
Die Überzeugung, dass genug Tierärzte zur Versorgung von Kühen, Schweinen und Geflügel da sein werden, ergibt sich auch aus dem Strukturwandel der Landwirtschaft: Kleinere Betriebe geben auf, die Tierhaltung konzentriert sich in großen Anlagen. Auch die Zahl einiger Tiere, etwa der Rinder und Zuchtsauen, schwindet. Insofern werden eher wenige große Spezialpraxen die riesigen Mast- oder Milchviehbetriebe betreuen. Die Praxen, die von Landwirtschaftsministerium befragt wurden, gaben zudem zu Protokoll, keine Schwierigkeiten bei der Suche eines Nachfolgers zu haben.
Diese neuen Daten sind eine große Überraschung, denn seit fast zehn Jahren beschäftigt die deutschen Tierärzte nun die Debatte um den Nachwuchsmangel auf dem Lande. Im Jahr 2006 rief die Bundestierärztekammer die Kampagne „Kuh sucht Arzt“ ins Leben; man verteilte Flyer an den tiermedizinischen Fakultäten, um Werbung für die Arbeit in der Landwirtschaft zu machen. Auch in einem Magazin, das dem ZVS-Bewerbungsheft beilag, bekam die Kampagne unter dem Stichwort „Aussichtsreiche Berufe“ damals ein paar Seiten. Die eigens gegründete Website „Vets4Vieh“ thematisierte das Problem und vermittelte Schnupperpraktika für Studenten, die sich in die Nutztierpraxis wagen wollten.
Auch medial wurde der angebliche Mangel intensiv begleitet. „Pferdenärrische Großstadtmädels“ schnappten „potentiellen Nutztierärzten“ die Studienplätze weg, hieß es 2007 im „Spiegel“. „Uns droht ein Fachkräftemangel“, sagte ein Berufsvertreter im gleichen Jahr der „Welt“. Und 2009 wurde der Brandenburger Landestierarzt Klaus Reimer in der „taz“ mit den Worten zitiert, in Brandenburg fehlten immer mehr Tierärzte für Rinder, Schweine und Schafe. Viele Lokalreportagen begleiteten zudem in den vergangenen Jahren niedergelassene Landtierärzte, die ihn immer wieder beklagten: den Nachwuchsmangel.
Tatsächlich sind inzwischen 85 Prozent der Erstsemester im Fach Tiermedizin Frauen, was sicherlich zu einem „gefühlten Mangel“ an Nachwuchsnutztierpraktikern beitrug. Neben anderen Gründen halten Tierärztinnen wohl die unregelmäßigen und langen Arbeitszeiten, die nicht mit einer Familie zu vereinbaren sind, von einer Arbeit mit Nutztieren ab. Aus Sicht des Landwirtschaftsministeriums berechtigt diese Beobachtung aber noch lange nicht dazu, von einem handfesten Nachwuchsmangel zu sprechen. Auch ein Team aus Tierärzten einer Gemeinschaftspraxis in Steinfeld, das die Folgen des landwirtschaftlichen Strukturwandels für den Tierarztberuf Ende 2012 im „Deutschen Tierärzteblatt“ analysierte, kam zu dem Ergebnis: „Die Praxen mit guten wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen (geregelte Arbeitszeit, geregelte Infrastruktur) haben bereits heute keine größeren Probleme, qualifizierten Nachwuchs zu generieren (…).“
Was die neuen Prognosen auf lange Sicht für die Tierärzte in Deutschland bedeuten, bleibt noch dahingestellt. Völlig unabhängig von den Möglichkeiten, Jobs bzw. Mitarbeiter zu finden, ist die Situation vieler junger Tierärzte nämlich schon seit Jahren prekär. Der Berufsstand hat nie einen Tarifvertrag abgeschlossen. Eine im Jahr 2007 veröffentlichte Studie, für die fast alle angestellten Tierärzte in Deutschland befragt wurden, ergab, dass in Praxen und Kliniken angestellte Tierärzte etwa 2000 (Ostdeutschland) bzw. 2500 (Westdeutschland) Euro brutto im Monat verdienen – unabhängig von der Anzahl der Berufsjahre. Eine Ende 2011 im „Deutschen Tierärzteblatt“ veröffentlichte Studie des Bundesverbandes der Veterinärmedizinstudierenden BVVD bestätigte diese Situation noch einmal. Möglicherweise fachen die neuen Zahlen auch die Debatte um eine faire Vergütung noch einmal an.
In Amerika jedenfalls konzentriert sich die Debatte jetzt, da die Daten da sind, auf die wachsenden wirtschaftlichen Probleme junger Veterinäre. Zwar werden angestellte Tierärzte in den Vereinigten Staaten im Vergleich zu ihren deutschen Kollegen recht gut bezahlt: Rund 46.000 Dollar Jahresgehalt erhält ein Berufsanfänger derzeit. Doch dieses Gehalt war schon einmal höher, es ist gesunken, seitdem die Absolventen den Markt überschwemmen. Und dazu kommt, dass die amerikanischen Tierärzte hohe Schulden für ihren Studienkredit zurückzahlen müssen, wenn sie erst einmal ihren Abschluss erworben haben. Das Verhältnis von zu tilgenden Schulden zum Einkommen sei doppelt so groß wie bei amerikanischen Humanmedizinern, heißt es aktuell in der „New York Times“, die einige Fälle dokumentiert, etwa den der 30 Jahre alten Tierärztin Hayley Schafer, die noch 312.000 Dollar zurückzuzahlen hat und sich die Frage stellt, wie sie jemals für das Rentenalter vorsorgen soll.
Schafer studierte an der teuersten Hochschule, die amerikanische Tierärzte ausbildet: der Ross University auf der Karibikinsel St. Kitts. Zweimal war Schafer an der University of California in Davis abgelehnt worden, weil ihre Noten nicht gut genug waren. Hätte man sie dort angenommen, müsste sie nun weniger als die Hälfte dessen, was auf ihrem Schuldenkonto angehäuft ist, zurückzahlen. Doch die Veterinär-Uni auf dem karibischen Eiland ist für viele die letzte Chance. Auch hier zeigt sich eine erstaunliche Parallele zu Deutschland: Wer den Numerus clausus für Veterinärmedizin hier nicht schafft und deshalb keinen der nur etwa 1000 Studienplätze jährlich in Gießen, Leipzig, München, Berlin oder Hannover erhält, kann sich immer noch bei der Veterinärmedizinischen Fakultät in Budapest bewerben und dort für Gebühren von etwa 10.000 Euro im Jahr studieren. Bis zum Physikum, also in den ersten vier Semestern, wird in deutscher Sprache unterrichtet. Danach können die Studenten hoffen, den frei werdenden Platz eines Studienabbrechers an einer der fünf Fakultäten in Deutschland zu bekommen – oder in Ungarn auf Englisch zu Ende studieren.
Auf ewig im Schuldenturm
Die weit überwiegend anonym geäußerte Niedertracht, anstatt eines Human- doch besser einen Tiermediziner zu konsultieren, begegnet verständigen Beobachtern tagtäglich vor allem im Internet auf den Kommentarseiten von Tageszeitungen. Daraus zu schließen, dass kein Mangel an Einsichtsfähigkeit, sondern an Veterinären herrscht, vertieft derlei Verfehlungen, die lediglich auf direktem Weg in’s Nichts führen. Zweifelsohne sind gegenwärtig rasch zunehmend mehr bereit, selbst den Preis für derlei Unernst zu entrichten, indem eigenhändig immense Schuldenberge den Ersteren gegenüber in aller Öffentlichkeit aufgehäuft werden; ohne allerdings dieselben jemals abzutragen.