Hamburg, ein warmer Augustnachmittag. Auf dem Balkon sitzen zehn junge Frauen und schauen auf die Alster, die in der Sonne glitzert. Sie haben Orangensaft oder Tee vor sich, hin und wieder geht eine hinein und holt sich eine Zeitung von den Stehtischen oder etwas neues zu trinken. Dies könnte ein nettes Treffen im Café sein, doch die meisten der Abiturientinnen drehen ihren Becher unruhig in den Händen, manche sind blass vor Aufregung, andere haben hochrote Wangen. Sie warten im Foyer der Hamburger International School of Servicemanagement (ISS) auf ein Auswahlgespräch für einen Studiengang, der “ein Lebenstraum” wäre, wie eine von ihnen sagt; die anderen nicken mit Nachdruck. “BWL plus” heißt der Studiengang, es gibt ihn schon einige Jahre an der privaten Hochschule. Das Besondere ist, dass er in diesem Herbst erstmals mit einer Ausbildung zum “Equine Coach” verbunden wird. Eine Ausbildung zum Pferdecoach, eine andere Übersetzung wäre: ein Kombinationsstudium aus BWL und Pferdekommunikation. Hospitanzen in Tierkliniken, Gestüten und Unternehmen der Pferdewirtschaft unterbrechen die Seminarphasen in Hamburg. Die praktischen Anteile, die den Studenten dazu verhelfen sollen, Pferde ausbilden zu können, werden an der Andrea Kutsch Akademie in Kalifornien und am Standort der Akademie in Aachen sowie im Gestüt Lewitz von Paul Schockemöhle stattfinden.
Andrea Kutsch (Foto ISS)
Die Pferdetrainerin Andrea Kutsch ist in Deutschland in den Jahren 2005 und 2006 durch mehrere Fernsehdokumentationen über ihre Methode, mit schwierigen Pferden umzugehen, bekannt geworden. Im Vordergrund stand dabei der gewaltfreie Umgang mit den Tieren. Kutsch trat in dieser Zeit erstmals in Reportagen, bei “Planet Wissen” und auch in einer Teenie-Telenovela auf, in der sie sich selbst spielte. Damals war noch der Weltbestseller “Der Pferdeflüsterer”, verfilmt mit Robert Redford und Scarlett Johansson, in guter Erinnerung. Kutsch war bei dem kalifornischen “Horse Whisperer” Monty Roberts ausgebildet worden, der als eines der Vorbilder für die Figur des Pferdeflüsterers in dem Roman von Nicholas Evans gilt; sie durfte als einzige Deutsche seine Methode offiziell in Deutschland vertreten. Dementsprechend groß war das Medieninteresse, als Kutsch im Jahr 2006 zum ersten Mal einen Studiengang für Pferdetrainer ausschrieb, damals noch an ihrer Akademie in Bad Saarow. 4000 Bewerbungen gingen damals ein, sie kamen nicht nur aus Deutschland, sondern auch aus Kanada, Polen und Neuseeland. In vielen großen Medien erschienen Reportagen über die Akademie – sie hießen “Die mit den Pferden spricht” oder “Die Magie der Leitstute”. Auch ausländische Medien berichteten. Besonderes Staunen rief hervor, dass so viele junge Leute sich bewarben, obwohl ein Semester mehr als 3000 Euro kosten sollte. Zwei Jahrgänge wurden an der Akademie ausgebildet, 2009 erhielt sie sogar die staatliche Anerkennung als Fachhochschule, doch nach der Verteilung der Bachelor-Zeugnisse des Abschlussjahrgangs 2010 wurde der Studiengang vorerst auf Eis gelegt.
An der ISS in Hamburg fehlt an diesem Freitag eine wildromantische Kulisse wie die des Scharmützelsees, die in keinem Artikel über den Bad Saarower Studiengang gefehlt hat. Doch vielleicht passt das urbane Flair des Stadtteils Uhlenhorst viel besser zu dem, was die Bewerber von der Ausbildung in Pferdekommunikation heute erwarten. Das Studium hat nicht mehr viel mit der romantisch-verklärten Pferdeflüsterei zu tun, die man noch vor sieben Jahren mit dem Thema verband. Als der Studiengang in Bad Saarow entstand, klang das nach wildem Westen, nach dem Glamour des Robert-Redford-Films. Doch heute ist die große Zeit der Pferdeflüsterer in Deutschland vorbei. Die jungen Leute, die sich für den neuen Studiengang beworben haben, sagt Andrea Kutsch, wollten sich auch längst nicht mehr mit dem Etikett “Pferdeflüsterer” belegen lassen, legitimiert nur durch die Nähe zu einem von vielen Gurus. Stattdessen sei ihnen etwas anderes wichtig: dass sie eine Methode im Umgang mit Pferden lernen, deren Qualität wissenschaftlich bewiesen ist. “EBEC” heißt Kutschs Methode, “Evidence-Based Equine Communication”. Sie berücksichtigt unter anderem Erkenntnisse der Hirnforschung an Pferden.
Infoveranstaltung vor den Auswahlgesprächen in Hamburg (Foto ISS)
Bewerberin Annika, 21, aus Hamburg, die nach dem Abitur schon eine Ausbildung zur Bankkauffrau abgeschlossen hat, erhofft sich deshalb, die Schwierigkeiten verhaltensauffälliger Pferde besser verstehen zu lernen – “von der Pferdeseite her”, sagt sie, als sie im Auswahlgespräch Andrea Kutsch und dem BWL-Professor Achim Gutowski gegenübersitzt. Bisher reitet sie in ihrer Freizeit auf den beiden eigenen Pferden der Familie. Als sie ein Kind war, teilte sie sich mit ihrer Schwester ein eigenes Welsh Pony. “Es wurde schlecht eingeritten, wir haben dann versucht, das auszubügeln”, sagt Annika. “Wir hatten also ein niedliches Pony gekauft – und bei der täglichen Arbeit haben wir dann gemerkt, was alles schon schiefgelaufen ist.”
Das Sicherheitsbedürfnis in der Pferdeszene steige, sagt Andrea Kutsch. “Die Leute möchten kein nettes Kinderpony kaufen – und dann erleben müssen, dass es gefährlich ist.” Auch deshalb entwickele sich das Interesse an wissenschaftsbasierten Methoden so gut. “Ein Pferd bekommt bei uns das Siegel der Akademie – und dann kann der Kunde sich darauf verlassen.” Um ihre Methode als “evidenzbasiert” bezeichnen zu können, hat Kutsch sie schon mehrfach überprüft, zunächst in einer verblindeten Studie mit 800 jungen Pferden aus dem Gestüt von Paul Schockemöhle in Mecklenburg-Vorpommern. 400 Pferde wurden herkömmlich ausgebildet, 400 nach den Grundsätzen von Kutschs EBEC. Am Ende stammten 80 Prozent der Pferde, die auf der Eliteauktion “Performance Sales International” im niedersächsischen Ankum landeten, aus Kutschs Gruppe. Mit mehreren hundert Pferden stellte sie außerdem fest, dass ihre Methode junge Tiere besser auf den Hufschmied vorbereitet und es dort seltener zu gefährlichen Situationen kommt. Britische Wissenschaftler kamen unlängst zu ähnlichen Ergebnissen, als sie junge Pferde zufällig zwei Gruppen zuordneten. Die eine wurde nach den Grundsätzen von Monty Roberts ausgebildet, die andere konventionell. Richter, die junge Pferde beurteilen, benoteten die Monty-Roberts-Gruppe signifikant besser.
Die 18-jährige Bewerberin Katharina aus Villingen-Schwenningen hat selbst schon gute Erfahrungen mit den Methoden von Monty Roberts und Andrea Kutsch gemacht. Sie ist im vergangenen Jahr deutsche Jugendmeisterin im Westernreiten mit ihrem Pferd Billy geworden, in der Disziplin “Showmanship at Halter”, in der es darum geht, ein Pferd vom Boden aus vorzuführen, ohne den Kopf oder das Halfter zu berühren. Lediglich das Ende des Stricks darf der Pferdeführer in der Hand halten. Es gab aber eine Zeit vor einigen Jahren, als Katharina und Billy nicht so erfolgreich waren. Als sie neun Jahre alt war, ging sie mit dem Pferd auf das erste kleine Turnier. Zuerst verlief alles gut, aber schließlich kamen auch Aufgaben dazu, bei denen man galoppieren musste. “Als der Galopp dazukam, ist Billy gestiegen und hat gebuckelt, er hat sich gewehrt gegen den Druck, der von mir ausging”, erinnert sich Katharina. “Meine Eltern haben dann gesagt: Wir lassen das jetzt erst mal mit dem Turnier. Meine Mutter las die Bücher von Monty Roberts, danach gingen wir dann vor. Wir wollten von Grund auf eine neue Vertrauensbasis mit dem Pferd herstellen.”
Andrea Kutsch in Bad Saarow (Foto ddp)
Vertrauen zwischen Pferd und Reiter ohne Gewalt und Zwang – dass ihnen diese Werte wichtig sind, schildern auch die anderen Bewerberinnen. Es sind nur Frauen, die zum Auswahlgespräch erschienen sind, auch unter den Bewerbern seien 80 Prozent Frauen gewesen, erzählt Kutsch. Manche der Bewerberinnen haben jahrelang die Website der Andrea Kutsch Akademie im Auge behalten, um herauszufinden, ob wieder ein Studiengang angeboten werden würde. Ihnen ist gemeinsam, dass sie oft Widerwillen gegen konventionelle Ausbildungsmethoden und den üblichen Umgang mit Pferden in Reitbetrieben empfunden haben – das schildern sie im Auswahlgespräch. Auf der Suche nach einer gewaltfreien Alternative landeten sie bei den Büchern und Lehrgängen von Andrea Kutsch.
Gemeinsam ist allen aber auch das Interesse daran, einen Zugang zu schwierigen Pferden zu finden. Laura aus Landshut hat schon mit 13 Jahren das Reitabzeichen Klasse 3 gemacht. Später, vor dem Abitur, trainierte sie junge Pferde in einem Reitstall. “Ich hatte immer die Pferde, die so ein bisschen anders waren – nicht die Normalos”, erzählt die 19-Jährige.
Isabel, 25, aus Frankfurt wurde irgendwann von anderen darauf aufmerksam gemacht, dass sie ein besonderes “Händchen” für Pferde hat. “Ich wurde dann oft in Fällen gerufen, wenn Pferde nicht mehr reitbar waren”, sagt sie. Während die meisten Bewerberinnen schon im Vorschulalter mit dem Reiten begonnen haben, konnte Isabel erst mit elf Jahren durchsetzen, dass sie Reitunterricht bekam. Die Eltern waren skeptisch, denn Isabels ältere Schwestern hatten Stürze erlebt und waren im Reitunterricht demotiviert worden.
Von negativen Erlebnisse in Reitschulen berichten viele Bewerberinnen. Wohl auch deshalb erhielten die verschiedenen Pferdeflüsterer mit ihren alternativen Methoden und der anderen Atmosphäre im Umgang mit Pferd und Reiter, die sie boten, seit den neunziger Jahren so viel Zuspruch. Vor zwei Jahren befassten sich die Veterinärmedizinerin Ellen Kienzle von der Ludwig-Maximilians-Universität München und die Psychologen Reinhold Bergler und Tanja Hoff von der Universität Bonn wissenschaftlich mit der Motivation junger Reiterinnen zwischen 15 und 29 Jahren. Kienzle fasste in einer einführenden Übersicht zusammen, was die Kundinnen heute von Reitunterricht erwarten – und was nicht. Autoritärer Drill wird nicht mehr einfach so hingenommen – weder dem Pferd noch dem Reitschüler gegenüber. Stattdessen wird klar zwischen “guten” und “schlechten” Reitlehrern unterschieden. Über den schlechten Reitlehrer schreibt Kienzle: “Korrekturen sind persönlich und verletzend, Unterricht wird zum Egotrip, er telefoniert, macht schlechte Witze, Druck auf Reiter und Pferd, man benötigt starke Hilfsmittel wie scharfe Sporen, scharfe Gebisse oder Hilfszügel.”
Robert Redford im Film “Der Pferdeflüsterer” von 1998 (Foto dpa)
Auch wegen dieser neuen kritischen Haltung ist Andrea Kutsch überzeugt, dass den Absolventen viele Möglichkeiten offenstehen – vor allem durch die Kombination von BWL und Pferdekommunikation. “Die Absolventen brauchen BWL, um sich im Markt behaupten zu können”, sagt sie. Es ist ein Markt, der Stellen als Betriebsleiter großer Gestüte, als Experten bei Verbänden oder als Event Manager von Pferdemessen und Turnieren bereithält. Kutsch hat eigens eine Marktforschungsstudie in Auftrag gegeben, um das Potenzial des neuen Studienangebots auszuloten. 2000 Pferdebetriebe wurden gefragt, ob sie Absolventen einstellen würden, die über die Kombination BWL plus/Pferdekommunikation verfügen. “85 Prozent haben die Frage bejaht”, sagt Kutsch.
Für die meisten jungen Bewerberinnen ist es aber auch wichtig, dass sie neben den Kenntnissen in der Ausbildung von Pferden einen ganz normalen Bachelor in BWL erwerben. “Angenommen, ich würde eines Tages doch nicht mehr mit Pferden arbeiten wollen – wäre es dann möglich, in einem Unternehmen außerhalb der Pferdewirtschaft zu arbeiten?” fragt Katharina, 18, im Auswahlgespräch. Achim Gutowski bejaht: “Sie lernen hier Finanzbuchhaltung, Rechnungswesen, Controlling, Wirtschaftsenglisch, Wirtschaftsspanisch.” Auch einen Master könne Katharina noch draufsatteln, wenn sie wolle.
“Wenn man mit Pferden aufgewachsen ist, dann weiß man, was es bedeutet, mit Pferden zu arbeiten”, erklärt Katharina später, im Foyer der Hochschule hinter einer Tasse Tee. “Jetzt im Sommer muss man die Pferde um fünf Uhr morgens auf die Weide bringen, abends um neun müssen sie wieder rein, man kann sich nichts vornehmen, ohne diese Zeiten im Kopf zu haben. Das sind Dinge, die es in einem normalen Beruf nicht gibt. Wenn man eines Tages Familie hat, Kinder abholen muss, könnte es schwierig sein, die Arbeit in einem Pferdebetrieb damit zu vereinbaren. Man muss auch daran denken, dass mit Pferden immer ein Unfall passieren kann. Ich möchte deshalb die Option haben, später doch einen ganz normalen Beruf ausüben zu können.”
Nach dem Abitur hatte die 18-Jährige an ein Architekturstudium gedacht und auch den Infotag für Humanmedizin an der Universität Tübingen besucht. An Tiermedizin hatte sie ebenfalls Interesse. Aber das Einschläfern von Tieren, glaubt sie, hätte für sie zum Problem werden können. “Als ich den Studiengang in Hamburg sah, dachte ich: Du kannst auch in die positive Richtung gehen und trotzdem beruflich mit Pferden arbeiten.”
Auch bei anderen Bewerbern ist dieser Wunsch stark ausgeprägt. “Ein Traum wird wahr”, sagt Isabel, als Kutsch und Gutowski ihr sagen, dass das Gespräch positiv verlaufen sei. Eine andere Abiturientin fängt sogar an zu weinen, als sie erfährt, dass sie im September in Hamburg anfangen kann zu studieren.
Achim Gutowski fragt trotzdem jede Kandidatin: “Steht Ihre Familie hinter Ihrem Entschluss?” Das mag nicht nur mit dem ungewöhnlichen Studienfach zusammenhängen, sondern auch mit den hohen Gebühren für den Studiengang. Monatlich 920 Euro werden für das Studium fällig. Insgesamt kosten die sechs Semester bis zum Bachelor 33.000 Euro.
Doch die Bewerber hadern nicht mit diesen Preisen. “Ich habe so lange genau auf dieses Studium gewartet und immer gedacht, ich müsste die Erfahrungen auf andere Weise zusammensammeln”, erklärt Isabel. Eine andere junge Frau weiß nach jahrelanger unentgeltlicher Arbeit mit Pferden, dass sie ohne weitergehende Ausbildung auf Reiterhöfen immer “der Depp für alles” bleiben würde.
Die Gebühren scheinen auch für viele andere junge Leute mit starkem Interesse an Pferden zweitrangig zu sein. Schon jetzt haben sich 2000 Bewerber auf der Website der Andrea Kutsch Akademie registriert, um über das nächste Auswahlverfahren im kommenden Sommer informiert zu werden.