Tierleben

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Christina Hucklenbroich bloggt über unser Zusammenleben mit Tieren: über Alltägliches und neu Erforschtes und lange Verborgenes

Sind deutsche Hunde ängstlicher als amerikanische? Eine Verhaltensexpertin im Interview

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Die Tierärztin Alexandra Moesta ist Verhaltensexpertin. Im Interview berichtet sie über die Erfahrungen, die sie international sammelte, und die Vorliebe der Deutschen für Hundeschulen.

Frau Moesta, ich war vor ein paar Wochen an der Tierärztlichen Hochschule Hannover und dort hingen Plakate, die auf einen „Rüpelkurs“ für Hunde hinwiesen. Worum geht es da?

Das ist ein Kurs für Hunde, die an der Leine andere Hunde anbellen.

Das kommt so häufig vor, dass dafür ein eigener Kurs angeboten werden kann?

Ja, das ist ein häufiges Problem. Viele Hunde haben in dieser Hinsicht unerwünschtes Verhalten gelernt.

Alexandra Moesta, 34, ist eine von nur etwa 60 Veterinärmedizinern weltweit, die den Titel „Diplomate“ des „American College of Veterinary Behaviorists (ACVB)“ führen darf. In Deutschland ist sie die einzige „Diplomate ACVB“ und hat bis Ende Juli eine Verhaltenssprechstunde für Hunde, Katzen und ihre Besitzer an der Tierärztlichen Hochschule Hannover geleitet. (Foto M. Gernert)

Wie kommt es dazu?

Da spielen verschiedene Komponenten eine Rolle. Zum einen sind es oft Hunde, die unsicher sind anderen Hunden gegenüber und die gelernt haben, dass sie an der Leine nicht wegkönnen und dass Angriff dann die beste Verteidigung ist. Zum anderen sind es auch häufig Hunde, die frustriert sind, weil sie an der Leine nicht zu anderen Hunden hinkönnen, nicht mit anderen Hunden interagieren können. Der Frust äußert sich dann im Bellen. Das unerwünschte Verhalten wird häufig durch den Besitzer verstärkt, weil er den Hund tadelt oder an der Leine ruckt, viele Leute schreien den Hund an, bellen dann quasi mit. Das führt dann dazu, dass die Erregung steigt. Viele unsichere Hunde lernen auch, dass der Besitzer schnell aus der Situation rausgeht, wenn sie an der Leine bellen, weil ihm das unangenehm ist. Das heißt, der Hund lernt: Das ist eine ganz gute Strategie, um aus so einer unangenehmen Situation herauszukommen.

Kommen eigentlich nur Hundebesitzer zu Ihnen, oder auch andere Tierhalter?

An der Tierärztlichen Hochschule Hannover  wird zur Zeit eine Sprechstunde für Hunde und Katzen angeboten. Der Bereich Verhaltensmedizin deckt aber noch viel mehr ab, Pferdeverhalten gehört dazu, Kleintiere, Exoten…

Sie sind ja eine von ganz wenigen Veterinärmedizinern, die den Diplomate-Titel für den Bereich Verhaltensmedizin haben. Etwa 60 dieser „Veterinary Behaviorists“ gibt es weltweit. Warum gibt es so wenige?

Gute Frage. Es ist ein relativ junges Feld. Das College der „Veterinary Behaviorists“, also den Zusammenschluss der Experten, gibt es erst etwa zwanzig Jahre. Es gibt relativ wenige Universitäten, die diese Spezialisierung anbieten, in den Vereinigten Staaten ermöglicht nur eine Handvoll die Ausbildung. Insofern kommen relativ viele Bewerber auf wenige Plätze. Allerdings steigt die Anzahl der fertig ausgebildeten und geprüften Diplomates. Letztes Jahr haben wir vier neue Diplomates bekommen, also vier Tierärzte, die die Prüfung bestanden haben. Die Prüfung ist auch relativ umfassend und schwer und hat eine hohe Durchfallquote, insofern dauert es, bis wirklich Nachwuchs ankommt. Es ist ein wachsendes Feld, es wächst aber eben nur langsam.

Auch in Europa gibt es Colleges für ganz unterschiedliche Richtungen der Veterinärmedizin, beispielsweise „Equine Internal Medicine“, also Innere Medizin für Pferde, oder Anästhesie oder Chirurgie. Man spezialisiert sich ebenfalls während einer mehrjährigen Residency und legt dann eine zentral abgehaltene Prüfung ab. Wird man in Amerika auch zentral geprüft?

In den USA ist die Prüfung einmal im Jahr, aber sie findet jedes Jahr woanders statt. Als ich sie letztes Jahr gemacht habe, war sie in North Carolina.

Ist das eine komplexe Prüfung mit schriftlichem, mündlichem und praktischem Teil?

Die Prüfung ist nur schriftlich. Sie dauert zwei Tage à 8 Stunden, und beinhaltet Multiple Choice- und Essay-Fragen.

Wie sah Ihre Ausbildung bis zu der Prüfung aus, mit der Sie eine von etwa 60 Experten auf dem Gebiet wurden? Sie haben ja in Hannover studiert und promoviert – auch schon im Bereich Verhaltensmedizin?

Im Bereich Verhalten, aber über das Verhalten von Legehennen. Ich habe mich immer für den Bereich Verhaltenskunde und Tierschutz interessiert, habe aber auch lange im nutztierethologischen Bereich gearbeitet und finde das auch immer noch sehr spannend. Es ging in meiner Dissertation um das Verhalten von Legehennen in einer Voliere unter Berücksichtigung des Staubbade- und des Sozialverhaltens. Danach habe ich dann ein Internship in der Kleintierklinik der Tierärztlichen Hochschule Hannover absolviert, eine zwölfmonatige Ausbildung, bei der man durch verschiedene Disziplinen durchrotiert. Danach habe ich dann in den Vereinigten Staaten meine Residency angetreten.

Das Internship in einer universitären Kleintierklinik hat ja nicht nur mit Verhaltensmedizin zu tun, man arbeitet in der Inneren Medizin, der Chirurgie, lernt etwas über Neurologie, über Augenheilkunde…

Genau. Das hatte tatsächlich gar nichts mit Verhalten zu tun. Man rotiert im Prinzip durch alle Bereiche der Kleintiermedizin. Das ist etwas, was die Diplomateausbildung auszeichnet: Das dahinterstehende College möchte, dass die Leute eine gesunde Basis haben. Man entscheidet sich ja für eine extreme Spezialisierung. Ich sehe heute ja wirklich nur Patienten mit Verhaltensproblemen. Man möchte natürlich, dass die Leute eine einigermaßen breite Basis haben, bevor sie sich dann so extrem spezialisieren.

Und als Sie die Basis hatten, haben Sie sich nach Amerika beworben. War es schwierig, einen Platz zu bekommen? Sie sind in Georgia gelandet, gab es dort viele Bewerber?

Es gibt recht viel Wettbewerb. Ich bin im Jahr zuvor in die USA gereist und habe mir verschiedene Universitäten angeschaut, zum einen, um einen besseren Eindruck zu bekommen, was denn da überhaupt gemacht wird, zum anderen, um mich vorzustellen, damit die Leute ein Gesicht dazu haben, wenn man schließlich eine Bewerbung schickt. Lustigerweise habe ich mich an der Universität in Georgia gar nicht persönlich vorgestellt. Ich hatte mich in Philadelphia vorgestellt und dort auch eine Stelle bekommen, dann ist aber das Residency-Programm gestrichen worden, das war zu Zeiten der Finanzkrise. Von dort gab es dann die Weiterempfehlung nach Georgia, und so bin ich dann nach Georgia gekommen.

Sind die Residencies für Tierärzte in Amerika anders als in Deutschland organisiert, werden die Leute, die das machen, wie Akademiker bezahlt?

(Lacht). Wie man ‘s nimmt. Es ist ein Gehalt, von dem man leben kann, wenn auch sicherlich  nicht auf großem Fuss. In den USA gibt es ja ein grundsätzlich anderes Prinzip. Die Ausbildung ist sehr teuer, man zahlt sehr hohe Studiengebühren, wenn man Tiermedizin studiert. Dafür verdient man aber auch einigermaßen gut, wenn man von der Uni kommt.

Es gibt dazu neue Zahlen. Sie zeigen einen großen Unterschied zwischen Tierärztinnen und Tierärzten in den Vereinigten Staaten, aber beide verdienen immerhin mehr als 100.000 Dollar im Durchschnitt, als Berufsanfänger allerdings weniger. In beiden Fällen liegen die Gehälter für angestellte Tierärzte aber weit über denen in Deutschland.

Was Berufsanfänger in den USA verdienen, hängt auch von der Region ab. In Georgia verdienen Berufsanfänger meines Wissens vielleicht 70.000 Dollar brutto pro Jahr. Das müssen sie auch verdienen, weil sie 100.000 Dollar oder mehr Schulden durch Studiengebühren haben. Das muss man auch bedenken. Insofern ist das ein etwas anderes Grundsystem in Amerika, und im Vergleich zu den amerikanischen Angestelltengehältern in Praxen und Kliniken  verdient man in Amerika als Resident deutlich weniger.

Aber mehr als in Deutschland?

Ich habe etwa 25.000 Dollar im Jahr verdient. Das ist vermutlich vergleichbar zu Residencies in Deutschland. Man investiert tatsächlich noch mal in seine Ausbildung. Aber die Idee dahinter ist, und in den USA geht das System auch auf, dass man später als Spezialist, als Diplomate, deutlich mehr verdient als normal qualifizierte Tierärzte.

Sie waren insgesamt drei Jahre in Georgia. Wie läuft eine Residency dort ab?

Das erste Jahr ist man relativ behütet. Man sieht die Patienten zusammen mit seinem Mentor, zumindest die ersten Fälle, man beobachtet, lernt, übernimmt dann mehr und mehr eigene Verantwortung. Das zweite Jahr ist eine Mischung; man sieht die Fälle alleine, ist aber angehalten, relativ viel Rücksprache zu halten, und hat immer einen Mentor dabei, wenn man jemanden braucht. Im dritten Jahr arbeitet man dann selbständiger, dann gibt es auch Zeiten, in denen man „Chief of Service“ ist und selbständig den Service leitet, ohne viel Rücksprache mit dem Mentor zu halten. Man wird also langsam an die Aufgabe herangeführt. Die große Stärke einer Residency ist natürlich, dass man unheimlich viele Fälle sieht, und dass an die Universitäten bzw. die Spezialisten dort auch viele Fälle verwiesen werden, das heißt, man sieht deutlich komplexere Fälle im Rahmen eines Residency-Programms. Deshalb ist diese extreme Spezialisierung überhaupt möglich.

Haben Sie in Amerika hauptsächlich Hunde gesehen?

Hunde, aber auch durchaus viele Katzen und hin und wieder Exoten. Viele Papageien. Ein paar Kaninchen. Wir haben mit einem Zoo eng zusammengearbeitet. Es ging dabei viel um Enrichment, also die Ausstattung der Gehege, und um Zootiertraining. Wir haben zum Beispiel Schwarzbären so trainiert, dass sie bei tiermedizinischen Maßnahmen kooperieren. Pferde gehörten auch dazu.

Sie sagen, dort bekommt man sehr komplexe Fälle. Könnten Sie ein Beispiel nennen?

Was ich immer besonders spannend fand: wenn man Interaktionen hatte zwischen einem verhaltensmedizinischen und einem beispielsweise internistischen oder dermatologischen Problem. Es war toll, dass an der Uni so viele Spezialisten vorhanden waren. Wenn ein Hund zum Beispiel seinen Schwanz gejagt hat und ich das Gefühl hatte, das könnte zwar ein Verhaltensproblem sein, aber es könnte auch ein neurologisches Problem dazu beitragen oder sogar die Hauptursache sein, dann konnte ich dort an der Uniklinik einen Neurologen fragen. Dermatologie ist auch so ein Bereich, in dem es viele Interaktionen gibt: Der Hund, der sich leckt – leckt er sich, weil er ein Angstproblem hat, weil er Stress hat? Gibt es da vielleicht eine allergische Komponente? Da gab es immer sehr interessante Wechselwirkungen und wichtigen Austausch zwischen Kollegen.

Was natürlich außerdem spannend ist an der Uni: Man bekommt auch extremere Fälle. Wir hatten ein großes Einzugsgebiet.  Es gab Leute, die sind fünf, sechs Stunden gefahren und haben in der Nähe übernachtet, um uns zu sehen. Man sieht also auch die Fälle, bei denen der Haustierarzt nicht weiterkommt. Diese Last Chance-Fälle.

Wie haben Sie die Ausbildung erlebt? Viele Leute, die an amerikanischen Universitäten waren, haben ja eine große Nähe zu den Hochschullehrern erlebt.

Es ist tatsächlich so. Es ist ein deutlich günstigeres Verhältnis von Lehrenden zu Lernenden – bei Studenten und Residents. Es gibt immer einen kompetenten Ansprechpartner, der Zeit hat, und das Verhältnis ist sehr kollegial. Das ist eine Riesenchance. Ich habe dort sehr gerne gearbeitet. So etwas hat aber natürlich auch seinen Preis. Dort ist die Tiermedizin, gerade an den Unikliniken, sehr teuer für den Patientenbesitzer. Diese extrem gute Betreuung muss man halt auch bezahlen.

Wenn man einen Hund hat mit einem komplexen Verhaltensproblem, kostet das dann so viel wie nach einem Verkehrsunfall mit schwieriger Wiederherstellung eines Tieres in Deutschland?

Es kann sehr schnell deutlich teurer werden. Die Verhaltensmedizin ist sogar der günstigere Bereich, weil wir „nur“ nach Zeit abrechnen. Gerade wenn man dann noch ein neurologisches Problem hat, der Hund braucht noch ein MRT, es müssen noch mal labordiagnostische Testsdurchgeführt werden – solche Leistungen sind dort deutlich teurer als hier. In der Chirurgie und Neurologie haben sich relativ schnell Beträge von mehreren tausend Dollar oder auch fünfstellige Beträge angesammelt. Die Unis haben ein hohes Niveau, aber das steht eben auch nicht allen Leuten zur Verfügung.

Ist das den Besitzern denn klar?

Ja, das wissen sie vorher. Das wird auch vorher abgesprochen. Man muss im Zweifelsfall vorher die Kreditkarte abgeben.

Ist die Verhaltensmedizin in Amerika ein besonders elitärer Bereich für Tierärzte? Oder hat man dort unabhängig von Abschlussnoten oder anderen Kriterien die Möglichkeit zu arbeiten?

Wenn man ein Residencyprogramm machen möchte, dann muss man zum einen schon relativ gute Abschlussnoten haben. Das ist aber, um ehrlich zu sein, das geringste Problem. Es gibt relativ viele Bewerber auf diese Plätze. Da werden ganz viele Fähigkeiten verlangt: Gute Noten, dann aber auch Soft Skills. Man will Leute haben, die belastbar, teamfähig sind, man muss wirklich zeigen, dass man das möchte. Irgendwie muss man beweisen, dass man die letzten Jahre darauf ausgerichtet hat, so eine Stelle zu bekommen. Da gibt es viel Wettbewerb.

Sie sind jetzt ja nicht mehr in Deutschland. Gibt es international mehr Möglichkeiten, im Bereich Verhaltensmedizin zu arbeiten?

Das kann man eigentlich so nicht sagen. Die Diplomate-Ausbildung in der Verhaltensmedizin hat sich noch nicht so sehr durchgesetzt. Das europäische College (Zusammenschluss der Experten) ist gerade erst ganz neu gebildet worden. Es gibt aber in Deutschland relativ viele Fachtierärzte für Verhalten. Es gibt auch viele Tierärzte mit einer Zusatzbezeichnung aus dem Bereich. Und es gibt relativ viele Patientenbesitzer, die offen dafür sind. Aber wenn man so eine internationale Ausbildung hat, wenn man drei Jahre in den USA eine solche Ausbildung durchlaufen hat, stehen einem selbst natürlich mehr Möglichkeiten offen.

Wohin gehen Sie denn?

Ich gehe nach England und möchte mich mehr auf den Bereich Forschung konzentrieren. Ich habe  die Möglichkeit, im Waltham Centre for Pet Nutrition, einem führenden Forschungszentrum der Firma Mars  zu arbeiten.

Wird die verhaltensmedizinische Sprechstunde denn weitergeführt in Hannover?

Dr. Dunia Thiesen-Moussa wird die Sprechstunde weiter führen. Sie ist Tierärztin mit der Zusatzbezeichnung Verhaltenstherapie und ich freue mich sehr, dass wir sie für diese Aufgabe gewinnen konnten.

Wurde die Sprechstunde gut angenommen in dem halben Jahr?

Ja, gerade jetzt nach der Aufbauphase merken wir, dass eine deutliche Nachfrage vorhanden ist. Mehrfach die Woche kommen Anfragen. Wir bieten die Sprechstunde nicht jeden Tag an, weil die Einzelsitzungen sehr lange dauern. Mit dem einzelnen Patienten und seinem Besitzer verbringt man sehr viel Zeit. Ein Termin dauert normalerweise zwei Stunden, und dann benötigt man noch mal vier Wochen Nachbetreuung, damit man überprüfen kann, ob das, was man sich als Therapieplan überlegt hat, funktioniert. Dabei spielen ja der Patient, sein Besitzer und die Umsetzbarkeit eine Rolle. Insofern muss man das im Nachhinein noch ein bisschen feinjustieren. Deshalb fließt in den einzelnen Patienten viel Zeit.

Sie sagten, ein typisches Beispiel ist das Bellen an der Leine. Was würde man denn da machen?

Das ist recht komplex. Es hängt natürlich davon ab, was die Ursache für das Bellen an der Leine ist. Eine häufige Ursache ist sicherlich, dass man einen unsicheren Hund hat, der gelernt hat, dass Bellen eine gute Strategie ist, um diese potentiell bedrohliche Situation – anderer Hund kommt auf einen zu – zu lösen. Ein paar Grundregeln kann man generell beachten. Eine Grundregel ist, dass man das Verhalten nicht bestrafen sollte. Das machen viele Leute, sie bestrafen mit Rucken an der Leine oder verbal. Das erhöht aber die Unsicherheit und macht das Bellen häufig schlimmer. Man sollte dann einen systematischen Trainingsplan entwickeln. Es gibt verschiedene Ansätze. Ein Ansatz wäre eine Desensibilisierung. Das heißt, man fängt in einem großen Abstand zum anderen Hund an zu trainieren. In einem Abstand, bei dem sich der eigene Hund noch auf einen selbst konzentrieren kann, wo er noch kein Bellen zum anderen Hund hin zeigen muss. Und dann gibt es auch wieder verschiedene Strategien. Eine Strategie ist, dass man ein Alternativverhalten antrainiert. Das könnte sein: Geh neben mir und schau mich an. Dieses Alternativverhalten im Beisein eines anderen Hundes belohnt man dann, man arbeitet sich schrittweise heran an die Situation. Es gibt zudem die Strategie, dass man versucht, dem Hund deeskalierendes Verhalten beizubringen. Aggression ist ja einfach nur eine Konfliktlösungsstrategie. Eine andere Konfliktlösungsstrategie wäre: „Zeig doch einfach Gesten der Deeskalation, wend den Blick ab, geh aus der Situation heraus.“ So etwas kann man einem Hund auch aktiv beibringen, man kann es anloben, man kann dem Hund beibringen, die Seite zu wechseln, hinter dem Halter Schutz zu suchen. Es gibt ganz viele verschiedene Strategien, abhängig davon, was die Motivation für das Verhalten ist, und was bei diesem Hund und bei diesem Halter am besten funktioniert. Ich behandle natürlich den Hund und versuche dessen Verhaltensproblem zu lösen, aber der Halter ist ein wichtiger Faktor dabei. Wenn eine bestimmte Strategie für ihn nicht funktioniert und er sie nicht gut umsetzen kann, dann hilft es auch nichts, wenn diese Strategie eigentlich für den Hund funktionieren würde. Sie muss ja für beide funktionieren.

Was gibt es noch für typische Probleme? Sie behandeln ja nicht nur Hunde…

Hier in Hannover sehen wir Hunde und Katzen. Deren Probleme scheinen sich hier ein bisschen von denen in den USA zu unterscheiden, was spannend ist. Ein Problem, das ich hier viel sehe, sind Hunde, die nicht gut allein bleiben können. Sie zeigen Winseln, Jaulen, an der Tür kratzen, Speicheln, wenn sie allein gelassen werden – bis hin zu Fluchtversuchen. Ich hatte eine Patientin, die versucht hat, aus der Wohnung zu flüchten, was natürlich sehr gefährlich war, und sie ist auch ´erfolgreich´ geflüchtet. Trennungsangst ist also ein häufiges Problem. Aggressionsprobleme gehören auch dazu, Aggression Menschen und anderen Hunden gegenüber. Zudem andere Angststörungen, etwa Geräuschangst, Angst vor Umwelteindrücken. Das sind im Hundebereich die häufigsten Probleme. Im Katzenbereich gibt es zwei Hauptprobleme. Zum einen ist das Unsauberkeit. Das ist ein spannender Bereich, weil man eng mit dem Haustierarzt zusammenarbeiten oder selbst mögliche körperliche Komponenten abklären muss. Und das zweite große Problem bei Katzen ist Aggression, insbesondere Aggression zwischen Katzen im gleichen Haushalt. Ein anderer Problembereich ist Aggression gegenüber Menschen, aber das habe ich in Deutschland nicht so häufig gesehen.

Sie sagten, sie sehen deutliche Unterschiede zu den USA. Vor allem haben die deutschen Hunde größere Schwierigkeiten, allein zu bleiben. Gab es noch andere Unterschiede? Und gibt es Gründe dafür?

Man muss vorsichtig sein in der Beurteilung der Frage, ob die Hunde wirklich schlechter allein bleiben können. Die eine Frage ist ja immer, welche Verhaltensprobleme gibt es in einer Population, und die andere ist: Für welche Verhaltensprobleme suchen die Besitzer Hilfe? Und in Deutschland ist wegen der Mietwohnungen und der relativ hohen Besiedlungsdichte ein jaulender und bellender Hund möglicherweise ein größeres Problem als etwa in Georgia, wo die meisten Leute ein Haus mit Garten haben. Wenn der Hund dort bellt, dann bellt er halt. Was ich in den USA häufiger gesehen habe, waren Aggressionsprobleme. Ich glaube aber nicht, dass amerikanische Hunde aggressiver sind, sondern dass die Halter eher beim Verhaltensmediziner Hilfe suchen. In Deutschland könnte es zum einen so sein, dass die Leute eher intervenieren, dass man es gar nicht erst so weit kommen lässt. Zum anderen bleibt noch der Aspekt, dass nicht jeder mit seinem Hund zum Verhaltenstherapeuten oder zum Tierarzt mit verhaltenstherapeutischer Ausbildung geht. Wir haben in Deutschland viele Hundeschulen; der Besuch von Hundeschulen ist in Deutschland verbreiteter als in den USA, und ich könnte mir vorstellen, dass viele Aggressionsprobleme dort in der Hundeschule bleiben und gar nicht erst bis zum Tierarzt vordringen.

Die Zahl der Hundeschulen ist ja stark gestiegen in den vergangenen Jahren, sie werden immer populärer.

Was positive und negative Seiten hat. Der Boom der Hundeschulen hat vielleicht auch etwas mit der Besiedlungsdichte zu tun, damit, dass man mit einem unerzogenen Hund hier schnell Probleme bekommt. Toll finde ich, dass in Deutschland viele Leute eine Hundeschule besuchen und ihnen sehr bewusst ist, dass man einen Hund beschäftigen, ihn artgerecht auslasten muss. Viele Leute machen Hundesport oder besuchen einen Erziehungskurs, das ist natürlich positiv. Auf der anderen Seite ist es ja leider so, dass man im Moment noch keine Qualifikation braucht, um eine Hundeschule aufzumachen. Es gibt sicherlich tolle Hundeschulen und fähige Trainer. Es gibt aber auch Trainer, bei denen  man sich wünschen würde, dass sie ein bisschen mehr Ausbildung genossen hätten.

Es gibt in diesem Bereich ja viele Selfmade-Experten, die teilweise inzwischen sehr prominent geworden sind, eigene Fernsehshows bestreiten und Bücher veröffentlichen, zum Beispiel Cesar Millan in den Vereinigten Staaten. Das sind natürlich keine Verhaltensmediziner und sie haben auch nicht vor einem Verband eine Prüfung abgelegt. Wie sieht man diesen Trend, wenn man Verhaltensmediziner mit einer derartig langen Ausbildung ist? Wie sehen es die Amerikaner?

Cesar Millan wird in den USA sehr kontrovers diskutiert. Gerade mein College, das American College of Veterinary Behaviorists, hat sich sehr bemüht zu informieren; es gibt mehrere Internetseiten zu dem Thema und mehrere „Position Statements“. Das Problem mit Cesar Millan ist, dass er zum Teil noch sehr altmodische, nicht wissenschaftlich basierte Trainingsmethoden benutzt, die teilweise tierschutzrelevant sind. Zumindest hat er das in der Vergangenheit gemacht, er ist jetzt wohl auch ein bisschen vorsichtiger geworden. Aber im Großen und Ganzen  sehe ich Cesar Millan sehr kritisch. In Deutschland gibt es ja Schritte in die richtige Richtung, zum Beispiel bietet die Tierärztekammer Niedersachsen eine Hundetrainerzertifizierung an. Dafür müssen Interessenten eine theoretische Prüfung in Form eines Multiple-Choice-Tests ablegen, und dann noch mal eine praktische Prüfung.. Ein Hundehalter kommt mit einem Hund und einem Problem, das sie vorher nicht kennen, und dann müssen sie innerhalb einer Dreiviertelstunde eine Lösungsansatz erarbeiten, einen Plan, wie sie das Problem langfristig aufarbeiten wollen. Schliesslich müssen die Prüflinge noch ein Fachgespräch bestehen.  Die Tierärztlichen Hochschule Hannover unterstützt das,  indem sie wissenschaftliches Fachpersonal als  Prüfer zur Verfügung stellt.

Wie deuten Sie es, dass Hundebesitzer ein so ein starkes Bedürfnis haben, Hundeflüsterer zu suchen, die ihre Probleme lösen?

Da spielen mehrere Faktoren eine Rolle. Zum einen leben wir mit Hunden ja sehr eng zusammen, und die meisten Hunde sind heute auch Familienmitglieder. Man ist bemüht, dieses Familienmitglied so weit wie möglich zu verstehen. Zum Beispiel kommen oft Fragen wie: Warum tut mein Hund das? – insbesondere, wenn es Verhaltensweisen sind, die wir nicht so gut nachvollziehen können, wie Kot fressen, Essen ‘stehlen’, nicht hören, wenn man ihn ruft. Da entsteht dann oft die Frage: Warum macht er das? Das ist die eine Motivation. Halter, die starke Probleme mit ihrem Hund haben, sind zudem versucht, sich dort Hilfe zu holen, wo man sie schnell findet, und Trainer mit einer starken Medienpräsenz sind natürlich sehr sichtbar.

Werden Verhaltensprobleme mehr oder sind die Leute einfach eher bereit, etwas dagegen zu tun?

Ich glaube nicht, dass Verhaltensprobleme zunehmen. Eine wichtig Rolle spielen beispielsweise neue Regelungen wie der Sachkundenachweis, der in Niedersachsen zur Pflicht geworden ist. So etwas gibt natürlich auch noch einmal den Hundeschulen und dem Training Aufwind und ruft ein gewisses Bewusstsein bei den Hundehaltern hervor. Die Halter beschäftigen sich intensiver damit und stellen sich die Frage: Würde ich denn den Hundeführerschein bestehen?

Es gibt ja in dem Bereich des Hundetrainings und der Verhaltenstherapie auch Trends. Wohin geht es aus Ihrer Sicht?

Ich denke, in den USA gab es mit Cesar Millan diesen dominanzbasierten Ansatz. Aber jeder Trend kommt auch mit einem Gegentrend. Cesar Millan hat auch ganz viel Gegenwind bekommen. Daneben gibt es viele unterschiedliche Communities, zum Beispiel die Clickertraining-Community etc. Dann gibt es die große Gruppe der Leute, die von allem so ein bisschen machen. Zumindest in Deutschland habe ich erlebt, dass der dominanzbasierte Ansatz sehr kritisch gesehen wird. Damit kommt man vielleicht in Deutschland nicht ganz so weit wie in den USA. Ich habe das Gefühl, dass deutsche Tierhalter sehr kritisch sind. Ich merke das oft in meinen Gesprächen, es wird viel nachgefragt. Das finde ich richtig. Ein Verhaltensspezialist oder Trainer sollte seinen Trainingsansatz immer logisch erklären können.

Die Fragen stellte Christina Hucklenbroich.

Alexandra Moesta ist eine von nur etwa 60 Veterinärmedizinern weltweit, die den Titel „Diplomate“ des „American College of Veterinary Behaviorists (ACVB)“ führen darf. Nach ihrem Studium, dem Staatsexamen im Jahr 2004 und der Promotion an der Tierärztlichen Hochschule Hannover hat sie an der University of Georgia eine dreijährige Spezialausbildung absolviert, die Tierärzten vorbehalten ist, eine „Residency“ im Bereich Verhaltensmedizin. Die 34-Jährige war der erste in Deutschland praktizierende „Diplomate ACVB“ und hat bis Ende Juli eine Verhaltenssprechstunde für Hunde, Katzen und ihre Besitzer an der Tierärztlichen Hochschule Hannover geleitet. Seit Anfang August ist sie als Pet Behaviour and Care Manager beim Waltham Centre for Pet Nutrition der Firma Mars Petcare tätig.


5 Lesermeinungen

  1. fionn sagt:

    Meiner Erfahrung nach
    reagieren alle Hunden aggressiv gegen Katzen. Wieso?

  2. EgonOne sagt:

    Ah, das Hundeleben ...!
    Schoenes Interview, und hoechst informative.
    Wer haette das gedacht dass es da ein Unterschied im Verhalten der Hunde giebt — besonders die Idee dass “deutsche Hunde aengstlicher seien als Amerikanische.”
    Nach meiner Laienhaften Erfahrung in Nord Amerika mit zwei Cocker Spaniels von unbekannter Herkujnft, kann ich berichten dass die Beiden — wovon jeder zwoelf Jahre lebte — beide die groessten Feiglinge waren die ich je kannte.
    Wenn es donnerte sind die unter dem Bett. Wenn jemand an der Haustuer klopft, wedeln die mit dem Schwanz und begruessen Jeden wie ein alter Freund. Selbst der Postbote musste sich nie verteidigen. Also freundliche, harmlose Wesen.
    Wir hatten einen Schnauzer in Deutschland — auch von fragwuerdiger Herkunft — der ein Kaempfer war und jeden — ob Mensch oder Tier der grosser war els er — sofort vertilgen wollte. Ein wahrer Held. Klopfte jemand an derTuer wurde er wild und wollte sein Terrain verteidigen. Nur unser Schrei “Back Killer” hielt den kleinen Wicht davon ab anzugreifen. Fuer Besucher war ads unangenehm … und die sprangen von der Tuer weg wenn die was von dem “Killer” hoerten.
    So ist manchmal das Handeleben. Einer kaempft, er andere nicht. Beide Lieben ihre Besitzer. So scheints.
    Bow Wow etc.

  3. guatuso sagt:

    Wer satt ist
    Ungeheuerlich. Da domestiziert der Mensch ein Tier, um dann viel Geld auszugeben, um dieses Tier therapeutisch zu behandeln.
    Sagt das mal einem hungerndem Menschen in Asien,Afrika oder Lateinamerika.

  4. antgru sagt:

    Stimmt nicht!
    Also mein “deutscher” Schäferhund frisst am liebsten “Amerikaner”! Natürlich diese Biskuitscheibchen mit Zuckerguß auf der Rückseite!

  5. BlueSatin sagt:

    wenig hilfreich für Hundebesitzer
    ich habe einen Landseer-Rüden, welcher 3 Jahre alt ist.
    Wenn uns ein anderer Rüde entgegen kommt, grollt meiner nicht, er grollt auch nicht zurück, wenn der andere Hund aggressiv ist.
    Bleibe ich stehen, bleibt er auch stehen.
    Weiche ich auf die Wiese aus und bleibe stehen, kommt er zu mir und bleibt bei mir stehen.
    Gehe ich einen Bogen um den anderen Hund, macht er es auch.
    Dies habe ich ihm nicht beigebracht, ich war auch in keiner Hundeschule, mein Hund verhält sich bei Begegnungen so positiv, weil ich für ihn Chef bin und er mir vertraut.
    Und gerade dieses Vertrauen kann durch Fehler von Hundehaltern verloren gehen.
    Nur – wie kann man dieses Vertrauen wieder gewinnen?

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