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Aufstand in der Türkei

Hasspredigten und Zitronen: Notizen aus Istanbul

Wimmelbild Istanbul: Wo versteckt sich die Polizei?

Normaler Alltag ist derzeit nicht möglich in Istanbul, denn Erdogan hält seine Drohkulisse aufrecht. Während die Leute jetzt schweigend demonstrieren, hält der türkische Ministerpräsident eine Rede nach der anderen.

In der Türkei fragen sich die Leute langsam, wie Erdogan das eigentlich schafft: Ständig hält er irgendwo lange Reden, in denen er schimpft, tobt, stundenlang frei spricht, Gedichte fehlerfrei rezitiert und auch ansonsten niemals wirr oder zusammenhangslos wirkt. Bei der AKP-Kundgebung vom Wochenende zählte er bei der Begrüßung seiner Anhänger erstmal die Stadtteile Istanbuls auf, aus denen Leute angereist waren.  Das war gar nicht so einfach, denn immerhin hat die 16 Millionen-Stadt 39 davon, und aus so gut wie jedem waren AKP-Leute vertreten. Erdogan bekam die Aufzählung trotzdem ohne Spickzettel hin, was natürlich hervorragend angekommen ist bei seinen Anhängern. Am Ende hatte er dann jedoch eine so kieksige Stimme, dass jene, die sich nicht als seine Anhänger verstehen, sehr stark hofften, seine Stimme bliebe ihm jetzt einfach mal für ein Weile weg. Das war aber nicht der Fall. Gestern hat Erdogan schon wieder zwei Reden gehalten. Abermals goss er Öl ins Feuer.

Eine dieser Reden war eine Fraktionsrede – Erdogans dritte seit Ausbruch der Proteste. Neben den üblichen Anschuldigungen, dass die Demonstranten alle Terroristen seien und vom Ausland ferngesteuert, redete er auch von der Polizei. Ihren massiven Einsatz von Tränengas gegen Demonstranten nannte er angemessen. Die Vorwürfe, die Polizisten hätten es mit ihrer Gewalt übertrieben, seien haltlos. „Was haben sie schon gemacht? Haben sie mit richtigen Patronen geschossen? Patronen benutzt? Nein.“, sagte Erdogan.  Angesichts der Zahlen, die gestern von der türkischen Ärztekammer veröffentlicht worden sind, war das blanker Hohn: 7822 Verletzte zählt das Land seit Ausbruch der Proteste, 59 davon sind schwerverletzt, sechs davon schweben noch in ∫Lebensgefahr, 11 Leute haben ein Auge verloren, außerdem gibt es 5 Tote. Statt Worte des Bedauerns sagte Erdogan jedoch: Die Polizei werde von nun an sämtliche Gesetzesverstöße ahnden, und weiterhin „ihre Pflicht“ erfüllen. Außerdem werde er die Polizeikräfte zahlenmäßig noch verstärken.

Noch mehr Polizei? Istanbul ist voll von Polizisten. Erdogan hat sie sogar per Flugzeug aus anderen Teilen des Landes eingeflogen. Viele von ihnen sind zum ersten Mal in Istanbul, und haben sich einen Ausflug an den Bosporus bestimmt ganz anders vorgestellt: Mit Sightseeing, Einkaufstouren und einem romantischen Abendessen mit der Freundin vielleicht, und nicht als brutalen Dauereinsatz gegen Demonstranten. Einerseits geht das Leben hier in vielerlei Hinsicht wieder seinen normalen Gang: Die Leute gehen zur Arbeit, sitzen im Café, der Taksim-Platz ist wieder für den Verkehr freigegeben, Kreuzfahrtschiffe legen wieder an und vom frühen Nachmittag an ist überall in den Straßen Stau. Aber es liegt eine unglaubliche Spannung in der Luft. Die Leute fragen sich, wie es jetzt weitergehen wird, soll, kann. Sie reden ständig darüber, finden aber keine Antworten. Auf ihr normales Leben konzentrieren können sie sich aber derzeit auch nicht, weil ja eigentlich nichts normal ist. Alltägliche Beschäftigungen wie Kochen, Rechnungen bezahlen, oder in langen Arbeitsbesprechungen zu sitzen, erscheinen plötzlich absurd. Das Problem ist, dass es der Protest-Bewegung bisher nicht gelungen ist, eine klare Führungsstruktur aufzubauen, die in der Lage wäre Forderungen zu formulieren, die über den Moment hinausgehen. Der Gezi-Park ist den Leuten als Versammlungsort genommen worden, deshalb trafen sie sich gestern Abend in anderen Parks der Stadt und diskutieren. Zudem zeigen Hunderte ihren Protest nun dadurch, dass sie sich schweigend auf den Taksim-Platz oder woanders hinstellen – in Gruppen, aber auch einzeln. Der Wille zum Widerstand ist in der Bevölkerung also noch vorhanden. Das weiß die Regierung, und deshalb stehen überall Wasserwerfer und Polizisten rum, die jederzeit wieder zuschlagen könnten. Erdogan hält seine Drohkulisse aufrecht, und in manchen Stadtteilen führt das zu seltsamen Situationen.

In Besiktas zum Beispiel, das schon berühmt ist für den gewitzten und beharrlichen Widerstand der dort lebenden Fußballfans, die sich Carsi-Gruppe nennen, hat die Polizei ihre Busse gut sichtbar im Zentrum des quirligen Viertels abgestellt. Doch die etwa zehn Busse sind leer, und auf den ersten Blick ist kein einziger Polizist zu sehen. Wo stecken die Polizisten? Blickt man von einem der Dachcafés hinunter auf das Viertel, dann ist es fast so, als betrachte man in einem Kinderbuch ein Wimmelbild, auf dem man den Hund mit dem Ball entdecken soll: Da ist das Seefahrt-Museum, da die Moschee, die Straße, die zu Erdogans Istanbuler Regierungsbüro führt, der Markt, die Bushaltestelle, die Anlegestelle für Dampfer, und dazwischen Tausende von Leute beim Einkaufen, Teetrinken, plaudern. Die Leute von Besiktas versuchen das ungute Gefühl, das die nicht sichtbaren Polizisten verursachen, mit Humor zu nehmen. Sie stellen sich  richtige Quizfragen dazu, mitunter klingen sie wie bei „Wer wird Millionär“. Frage: Wo sind die Polizisten in Besiktas? Antwort A: Sie verstecken sich in der Moschee. Antwort B: Sie verstecken sich im Büro von Erdogan. Antwort C: Sie verstecken sich im Seefahrt-Museum. Antwort D: Sie sind hinter der Ecke, um die Du gleich biegst. Meistens stimmt Antwort D.    

 

Interessant war, wie Erdogan seine Fraktionsrede enden ließ. Sinngemäß sagte er zu seinen Parteimitgliedern: Leute, seid nicht verzweifelt, wir kriegen das schon hin. Es klang fast wie eine Selbstbeschwörung. Dass er nun zusätzlich zu den Polizisten auch noch die Frauen in die Pflicht nehmen will, sagte er in der zweiten Rede, die er gestern außerdem noch hielt.

 

Der Anlass war die Auftaktveranstaltung einer neuen Initiative des Familien- und Sozialministeriums, die sich das „Familie Sein-Projekt“ nennt. Vorsicht, alle-Mann-in-Deckung, dachten da schon einige, denn wenn es um das Thema Familie geht, ist immer einiges von Erdogan zu erwarten. Zur Erinnerung: Vor einigen Monaten hat es in der Türkei eine riesige Abtreibungsdebatte gegeben. Für den türkischen Ministerpräsidenten ist Abtreibung Mord, und deshalb will er sie gesetzlich verbieten. Auch  Kaiserschnitt-Geburten sollten, wenn’s irgendwie möglich ist, seiner Ansicht nach abgeschafft werden. Denn sie stellen aus seiner Sicht einen Eingriff in einen natürlichen Vorgang dar und bei manchen Frauen können die Vernarbungen schließlich dazu führen, dass es bei Folgeschwangerschaften Komplikationen gibt. Folge: Weniger Kinder. Erdogan möchte jedoch, dass türkische Frauen möglichst viele Kinder bekommen, mindestens drei sollen es pro Türkin sein. Der jetzige Protest richtet sich ja auch dagegen, dass Erdogan sich mit derlei Gesetzesinitiativen und Aussagen unverhältnismäßig in das Privatleben der Leute einmischt. Trotzdem ließ der türkische Ministerpräsident es sich gestern nicht nehmen, wieder davon anzufangen. Er sagte, dass Kaiserschnitt-Geburten und Abtreibungen dazu führten, dass die türkische Nation schrumpfe. Das sei natürlich ganz im Sinne jener, die das Land schwächen wollten. Doch dieses Spiel werde man „ihnen“ (wer hinter dieser Verschwörung steckt, sagte er diesmal nicht) kaputtmachen. Und deshalb komme es jetzt sehr auf die türkischen Frauen an, sie stünden bei der Verteidigung des Landes quasi in der ersten Reihe. Man staunte, als man das hörte: Frauen in der ersten Reihe? Normalerweise mag Erdogan sie lieber unsichtbar.