Die informellen Treffen, die seit der Räumung des Gezi-Parks nun jeden Abend in mehreren Stadtteil-Parks abgehalten werden, gewinnen langsam an Kontur. Jedenfalls macht das Treffen, das jetzt immer im Abbasaga Park in Besiktas stattfindet, einen äußerst guten Eindruck. Leuten, die manchmal die Musik der Istanbuler Band BaBa Zula hören, ist der Abbasaga Park wahrscheinlich ein Begriff. Denn es gibt ein Lied, das die Band dem Park gewidmet hat. Der Song heißt „Abbasaga Parki“ und in dem dazugehörigen Video, das man sich auf der Internetseite von BaBa Zula (www.babazula.com) anschauen kann, sieht man, wie Murat Ertel und die übrigen Bandmitglieder im Abbasaga Park spazieren gehen, Bäume umarmen, im Gras liegen und Quatsch machen auf dem Spielplatz, den es dort gibt. Das Lied, es ist produziert im Stil des Oriental Dub, entstand vor einigen Jahren. Es hat eine Vorgeschichte, an die sich bei der Auseinandersetzung um den Gezi-Park einige Leute erinnert haben dürften. Denn auch der Abbasaga Park sollte einmal einem Bauprojekt weichen. Als das bekannt wurde, gründete sich eine Bürgerinitiative, die Unterschriften sammelte und deren Mitglieder einige Male auch im Park übernachteten. Auch die Bandmitglieder von BaBa Zula gehörten ihr an. Die Initiative hatte Erfolg, denn nach einigen Monaten änderte die Stadtteilverwaltung von Besiktas ihre Bebauungspläne. Heute sagen viele, dass das nur deshalb gelingen konnte, weil Besiktas nicht von Erdogans AKP regiert wird.
In diesem Parks jedenfalls findet seit Montag jeden Abend ein Treffen statt. Es gibt dort ein kleines Amphitheater, bisher war es an jedem Abend brechend voll, und gestern Nacht waren sogar so viele Leute da, dass weitere Diskussionsgruppen gebildet wurden, die dann um das Amphitheater herum unter den Bäumen saßen. Die Leute sind unglaublich diszipliniert, und bemühen sich sehr darum, die Nachbarschaft nicht zu stören mit ihren Treffen. Immerhin beginnen sie ja erst um 21 Uhr, dauern in der Regel bis Mitternacht, und die Bewohner der Häuser ringsherum müssen am nächsten Morgen arbeiten. Außerdem wohnen viele Familien mit Kindern in der Nachbarschaft. Die Mikrofone sind deshalb nur ganz leise eingestellt, es darf nicht gerufen und auch nicht geklatscht werden, und sobald einem der Anwesenden doch mal ein spontanes Begeisterungsklatschen entfährt, machen alle sofort: SChhhhhhhhhtttt! Man hat sich auf bestimmte Handzeichen verständigt, damit trotzdem Kommunikation möglich ist: Bei Zustimmung heben die Leute die Hände in die Höhe und schütteln sie; bei Ablehnung werden die Hände über den Handgelenken gekreuzt; und wenn die Leute den Eindruck haben, dass das, was der jeweilige Redner gerade sagt, langsam langweilig wird, heben sie die Arme und lassen die Hände umeinander kreisen.
In dem Park, weit entfernt vom Taksim-Platz, fühlen sich die Leute relativ sicher. Eine Grundanspannung bleibt jedoch. Sie war zu spüren, als während eines Redebeitrags einmal plötzlich irgendwo das Knacken eines Walkie-Talkies zu hören war. Alle schreckten auf, guckten sich um, aber niemand konnte sehen, wer von den Anwesenden ein Walkie-Talkie bei sich trägt: Walkie-Talkies sind das wichtigste Accessoire der zivilen Polizisten. Niemand zweifelt daran, dass auch von ihnen welche zu den Treffen in den Parks kommen. Weil sich das aber nicht ändern lässt, wurde nach dem kurzen Schreck einfach weiterdiskutiert. Für größere Unruhe sorgte hingegen gestern Abend die Twitter-Nachricht, dass der Park im Stadtteil Yeniköy, in dem zeitgleich ebenfalls ein Treffen abgehalten wurde, gerade von einer Gruppe mit Messern bewaffneter Typen angegriffen wird. Alle waren sich sofort einig, dass das nur Anhänger der AKP sein könnten und einen Moment lang sah es so aus, als würden sie aufspringen und den Leuten in Yeniköy zur Hilfe eilen. Man entschied sich jedoch dagegen: Weitere Eskalation soll unbedingt vermieden werden. Verletzt wurde im Park von Yeniköy offenbar niemand, aber die bewaffneten Typen zwangen die Leute, ihr Treffen aufzulösen.
Wie immer bei Veranstaltungen, bei denen jeder, er etwas sagen möchte, das Mikrophon in die Hand bekommt, ist natürlich auch im Abbasaga Park viel hohles Zeug zu hören. Aber es werden auch wichtige Beschlüsse gefasst. Als jemand anregte, dass man sich nun „organisieren“ (türk.: örgütlenmek) müsse, war interessanterweise erstmal Ablehnung zu spüren. Eine Freundin hat es mir erklärt: Das Wort „örgütlenmek“ habe im Türkischen einen negativen Beigeschmack, sagte sie. Die Zivilgesellschaft in der Türkei ist noch eine sehr junge. Die Erfahrung, dass man sich auch abseits von Parteien „organisieren“ kann, ohne dabei automatisch ins Verbotene abzudriften, fehle den meisten Menschen in der Türkei. Beim Wort „sich organisieren“ würden deshalb viele eher an Illegalität denken, als daran, dass man seine demokratischen Rechte nutzen sollte. Deshalb geht es also auch erstmal nur in kleinen Schritten voran, doch die werden tatsächlich gemacht.
Beschlossen wurde, dass man einen Sprecher wählen muss, der beschlossene Ziele weiterkommuniziert und den Kontakt zu den anderen Park-Gruppen pflegt, dass es außerdem verschiedene Posten wie Buchhalter, Protokollführer und Sekretär zu besetzen gibt, und als gefragt wurde, wer von den Anwesenden sich solchen Aufgaben gewachsen fühle, hoben viele Leute ihre Hand. Als fast noch wichtiger erachtet wurde jedoch, nun gemeinsam auf jene Leute zuzugehen, die Erdogans Versuchen erlegen sind, die Gezi-Park-Bewegung zu diskreditieren. Zuvor hatte sich eine junge Frau gemeldet und erzählt, dass in dem Stadtteil ihrer Tante das Gerücht verbreitet worden sei, dass jeder Aktivist im Gezi-Park 1000 Dollar erhalten habe. Mit diesem Geld seien die Leute dazu animiert worden, einen Protest zu starten, der den sozialen Frieden im Land stört und der Türkei wirtschaftlich schadet.
Damit nicht alle mit rauchenden Köpfen nach Hause gehen, hatten sich die Organisatoren des Mittwoch-Treffens für das Ende des Abends eine hübsche Überraschung ausgedacht: Eine Opernsängerin in gelber Robe betrat das Amphitheater und sang eine italienische Arie. Es war wunderschön.
Auch mit anderen Mitteln wird der Protest weiterhin aufrecht erhalten. Es ist verblüffend, wie erfindungsreich die Leute sind. Zum Beispiel gibt es jetzt einen Klingelton für Handys, der aus lautem Töpfeschlagen besteht – eine Anspielung an das allabendliche Krachkonzert aus Fenstern und von Balkonen, das noch immer um Punkt 21 Uhr in der Stadt ertönt. Den Leuten, die jetzt jeden Tag am Taksim-Platz und anderen Orten Istanbuls ihrem Protest durch schweigendes Stehen fortsetzen, wurde hingegen ein T-Shirt gewidmet. Es zeigt den Schriftzug „Istanbul“, das I am Anfang ist jedoch kein Buchstabe, sondern ein stilisiertes, stehendes Männchen.
Zu den Steh-Demonstranten auf dem Taksim-Platz hat sich gestern übrigens eine Frau gesellt, die nur einen Bikini und Turnschuhe anhatte. Anstatt sich schweigend in die Demonstranten einzureihen, hörte sie Musik zu begann zu tanzen. Das kam bei den meisten überhaupt nicht gut an. Die Leute beschuldigten die Dame im Bikini, den Protest für Selbstdarstellung zu nutzen. Eine Demonstrantin regte sich so sehr auf, dass sie erst die Frau im Bikini anschrie und dann jene Männer, die nun nicht mehr geradeaus zum Bild Atatürks starrten, sondern auf die halbnackte tanzende Frau. Als einige Polizisten kamen um die Frau wegzuführen, zog sie ihre Kleider wieder an.
Die Zeitung „Hürriyet“ hat berichtet, dass die Frau im Bikini eine Deutsch-Türkin sei, die mit ihrer Performance die Leute zum Nachdenken habe bringen wollen: „In der Türkei muss Freiheit Einzug halten“, zitierte „Hürriyet“ sie. Auf der Internetseite der Zeitung ist der Artikel mit einem Foto der Bikini-Tänzerin heute Morgen der am meisten geklickte Bericht.