„Es passieren manchmal ungute Dinge, aber die versuchen wir zu vergessen“, sagt der Erzbischof der armenisch-apostolischen orthodoxen Kirche, Sahan Sivaciyan. Andere nennen diese „unguten Dinge“ Genozid an den Armeniern, bei dem 1915 nach türkischen Schätzungen 300.000 Armenier getötet wurden. In anderen Schätzungen ist von rund 1,5 Millionen getöteten Armeniern die Rede.
Dem damaligen Morden hat Franz Werfel in seinem 1933 erschienenen Buch „Die vierzig Tage des Musa Dagh“ ein literarisches Mahnmal gesetzt. „Das Buch haben wir nicht gern“, ätzt Sivaciyan aus seiner schwarzen Kutte, die sich – gleichsam als Sinnbild des Berges Ararat – spitz über seinem Kopf auftürmt. „Wir wollen uns nicht in diese Geschichte einmischen.“
Zwar sind die armenischen Christen die größte nicht-muslimische Gemeinschaft in der Türkei – die Schätzungen liegen zwischen 60.000 und 140.000 armenischen Christen, von denen die große Mehrzahl in Istanbul lebt. Doch die Zahl der Armenier steht in keiner Relation mehr zu den prachtvollen, auf feudale Repräsentation ausgelegten Gemächern des Patriarchatsgebäudes im Viertel Kumkapi in Istanbul.
Erzbischof Sivaciyan verweist aus seinem roten Samtsessel mit sichtbarem Stolz auf das Jahr 301, als die Armenier als erste das Christentum zur Staatsreligion machten. In gewissem Sinn ist die armenisch-orthodoxe Kirche auch in der Türkei noch Staatsreligion – nur bedeutet das kein Privileg, sondern behördliche Gängelung. Auch das sieht Sivaciyan anders: „Der Staat zahlt uns Strom und Wasser. In Armenien müssen wir dafür zahlen.“ In diesem Punkt gewährt die Türkei weiter das Privileg aus der Zeit osmanischer Herrschaft, als dem Patriarchen Wasserträger und Kerzen gestellt wurden.
Dass die Delegation der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) unter Leitung des Ratsvorsitzenden Wolfgang Huber am vergangenen Freitag freimütig über Politik sprechen wollte, behagte dem Erzbischof nicht. „Sind sonst noch Fragen da?“, versucht er die Konsultation einem Ende entgegenzuführen. „Wenn noch jemand etwas sagen will, jetzt ist es zu spät.“ Mit der heiteren Definition „Kirche ist, wenn wir gemeinsam über schöne Dinge reden“, geleitet er die Protestanten aus dem Saal.
Draußen, im Garten des Patriarchats, bedauert ein Priester im Gespräch mit Wolfgang Huber, dass man nicht offen über den Genozid habe sprechen können. In geschlossenen Gebäuden und am Telefon vermeiden Mitarbeiter aller christlichen Gemeinden aber ohnehin offene Worte.
Hätte der Patriarch der Armenischen Apostolischen Kirche in Konstantinopel, Mesrob II., Bischof Huber empfangen, wäre der Empfang weniger unterkühlt ausgefallen. Mesrobs Schicksal ist das gegenwärtige Drama der armenischen Kirche: Im Jahr 1998 wählte man den gerade einmal 42 Jahre alten Priester, der in Istanbul geboren ist, das deutsche Abitur hat, in Amerika studierte und in Jerusalem promoviert wurde, zum Patriarchen – obwohl das Amt nach dem Senioritätsprinzip Sivaciyan zustand und türkische Behörden Mesrobs Wahl zu verhindern suchten.
Mesrob ist nicht nur gebildet und ökumenisch aufgeschlossen: Lange Zeit war er die personifizierte Hoffnung der Armenischen Kirche in der Türkei, die nur noch über 18 Geistliche verfügt, wobei die Hälfte von ihnen über 75 Jahre alt ist. Weil das Priesterseminar vom türkischen Staat geschlossen worden ist, muss Nachwuchs in Jerusalem ausgebildet werden.
Doch Mesrob kann weder Wolfgang Huber empfangen noch irgendjemand anderen. Wahrscheinlich wird er niemals wieder sein Amt ausüben können. Um das Jahr 2006 begann sich der Zustand des jungen Patriarchen zu verschlechtern, 2007 fiel Mesrob dann von einem Tag auf den anderen in einen Zustand völliger geistiger Umnachtung.
Den Journalisten
Hrant Dink hat Mesrob aber noch beerdigt, nachdem der Herausgeber der armenisch-türkischen Wochenzeitung Agos am 19. Januar 2007 vor den Türen des Redaktionsgebäudes von dem 17 Jahre alten Ogün Samast erschossen wurde. Laut einem Augenzeugen soll der Mörder „Ich habe den Ungläubigen erschossen“ gerufen haben. Heute weist an der Stelle nichts auf die Bluttat hin. Die Menschen eilen auf dem Bürgersteig entlang, während sich neben ihnen der Verkehr zäh durch das Zentrum Istanbuls schiebt. Einen Hinweis auf die Agos-Redaktion sucht man neben der schweren Holztür vergebens.In den engen Räumen der Zeitung ist Hrant Dink hingegen allgegenwärtig. Im Flur empfängt die Besucher ein Comic-Strip, der die Ermordung Dinks darstellt. An den Wänden hängen Hrant-Dink-Fotografien, Hrant-Dink-Zitate, Hrant-Dink-Gemälde. Die Redakteure – nicht ausschließlich Armenier – zwängen sich in ein Büro. An der Wand hinter ihnen hängt ein quadratischer Teppich mit dem armenischen Alphabet – es gleicht der Rückseite des Enkolpions, das die Bischöfe der armenischen Kirche vor der Brust tragen.
Religion sei bei Argos nur dann ein Thema, wenn die Religionsfreiheit unterdrückt sei, sagt die Redaktionskoordinatorin. Über den Mord an den drei freikirchlichen Missionaren in Malatya, über Messerattacken auf einen Priester oder das gefährdete syrisch-orthodoxes Kloster Mor Gabriel habe man selbstverständlich berichtet. „Ansonsten spielt Religion keine große Rolle. Wir sind eine linke Zeitung“, sagt ein Redakteur.
Die Offenheit, mit der Hrant Dink die Minderheitenrechte in der Türkei auf die Tagesordnung setzte, empfanden die elitären, laizistischen Kreise als Angriff auf das nationalistische Kernprinzip des Kemalismus. Das politische Selbstbewusstsein Hrant Dinks, das inzwischen viele jüngere Angehörige der armenischen Minderheit übernommen haben, stand aber auch im Gegensatz zu der Schere, die in den Köpfen mancher Geistlicher Regie führt. Auch Patriarch Mesrob II. umschrieb das, was vor allem ausgewanderte Armenier offen als Genozid anklagen, mit den Worten, die in der Türkei üblich sind. Als er sein Amt noch ausübte, begann man aber, in den Kellerräumen des Patriarchats ein kleines Museum einzurichten, das an Zeiten erinnert, in denen die Situation der Kirche weniger bedrückend war. Es wurde eine charismatische Jugendgruppe gegründet, Mesrob fuhr mit Jugendlichen zum Skifahren.
Ob man den Entfremdungsprozess zwischen den jungen Armenisch-Orthodoxen, die oft aus wohlhabenden Familien stammen, und der Geistlichkeit so hätte stoppen können, bleibt ungewiss. Dass jüngere Geistliche der Armenier sich den religiösen Herausforderungen des säkularen Istanbuls jenseits der Beschneidung der Religionsfreiheit durch den türkischen Laizismus weiter stellen, gibt zumindest Anlass zur Hoffnung.
Einen Bericht über die griechisch-orthodoxe Kirche in der Türkei lesen Sie in der F.A.Z.-Ausgabe von Donnerstag, den 19. März 2009.