Der Wirtschaftshistoriker Werner Plumpe erzählt von seiner linken Vergangenheit – und warum er heute kein Linker mehr ist.

Es lag an der Langeweile. Lange, bevor ich Teil der linken Jugendbewegung wurde, habe ich mich gelangweilt. Degenhardts Lied war so etwas wie die eigene Verzweiflungshymne: “Wenn die Spinne Langeweile/Fäden spinnt und ohne Eile/Giftig-grau die Wand hochkriecht/wenn’s blank und frisch gescheuert riecht … ” Noch heute kann ich den Text weitgehend auswendig! Und die Sexualnot spielte eine Rolle. Und fehlende Vorbilder bzw. deshalb der ältere Bruder, der bereits an der Universität studierte und Teil der dortigen Bücherwelt war. Und schließlich der Zufall. Auf dem Marktplatz der kleinen Stadt im nördlichen Ruhrgebiet bzw. südlichen Münsterland, ganz wie man möchte, tat sich was. Ältere Schüler hatten im Gewerkschaftshaus einen Republikanischen Club gegründet; später so um 1970/71 kamen maoistische Studenten aus Bochum und verkauften den „Kampf der Arbeiterjugend“. Die hatten schon ein Auto und waren sehr streng.
In Bochum gab es aber auch Rote-Punkt-Demonstrationen und Wasserwerfereinsatz. Das war eindrucksvoll. Und auch die täglichen Fernsehbilder aus Vietnam spielten eine große, empörende Rolle. Das trug vor allem zum moralischen Ruin der Älteren bei, die sich davon nicht distanzieren konnten oder wollten. Also standen wir Primaner irgendwann bei den politischen Debatten auf dem Markt nicht mehr abseits, sondern mittendrin. Bei welcher der Gruppen man landete, war der reine Zufall. Viele gingen zu den Jusos, die sich revolutionär gaben, aber Spießer waren. Die kannte man von der Schule. Die Maoisten kannte man auch von der Schule, aber die Arbeiterjugendlichen nicht. Bei denen bin ich in der Unterprima gelandet, habe gleich ein Amt bekommen (Bildungsbeauftragter) und war schnell anerkannt, sozusagen als Intellektueller. Aber bei dieser SDAJ, die den Kommunisten nahestand, gab es auch Disziplin und alten kommunistischen Adel, aus dem man eigentlich kommen sollte. Das war für uns „bürgerliche Jungen“ – ich war beileibe nicht der Einzige – gerade spannend: Dieses vermeintlich unverklemmte, ehrliche, traditionsreiche proletarische Milieu der Bergarbeiterviertel unserer Stadt, die man zuvor aus Respekt vor der überlegenen Körperlichkeit der dortigen Jugend eher gemieden hatte.
Wir wollten die Gesellschaft begreifen
Und dann hatte die kommunistische Variante einen weiteren Zug, dessen Bedeutung mir heute klarer ist als damals. Im Milieu der KPD, die sich aus taktischen Gründen DKP nannte, ging es zu keinem Zeitpunkt um das, was seinerzeit als „Reformismus“ verschrien war: Sozialpädagogik hatte keinen guten Ruf. Es ging einerseits um Gesellschaftskritik, andererseits um wissenschaftlichen Sozialismus, also darum, die Gesellschaft zu begreifen und aus diesem und durch dieses Begreifen zu verändern. Meine Eltern, beileibe keine Marxisten, haben das unterstützt; zu Weihnachten während der letzten Schuljahre wünschte ich mir jeweils Bände der MEW – und bekam sie auch prompt unter den Tannenbaum! Vor diesem Hintergrund war die Arbeiterschaft des Bergbaus daher aber nicht nur spannend und fremd zugleich; sie verkörperte auch zumindest in der Theorie eine Art revolutionäres Subjekt, das so wichtig war, dass der kleinbürgerliche Alltag der meisten Bergarbeiterfamilien nicht weiter ins Gewicht fiel. Das ließ sich mit der Vorstellung von „falschem Bewusstsein“ leicht plausibilisieren, ja verlieh der eigenen Tätigkeit eine zusätzliche Weihe. Wir bürgerlichen Kinder waren dazu berufen – selbstverständlich unter Anleitung – die Arbeiterschaft von ihrer eigenen Mission zu überzeugen. Das gelang nicht – weder im Ruhrgebiet noch anderswo; doch mittlerweile war ich Student, und die ganze Frage daher ohnehin ein Problem der Texte und ihrer richtigen Interpretation geworden. Spätestens seit dem Beginn des Studiums war mein Linkssein etwas, das durch den Bezug zur Realität bestenfalls gestört worden wäre.
Die Welt der Bundesrepublik, wie sie in den 1970er Jahren war und in der wir ganz selbstverständlich weitgehend reibungslos lebten, nahmen wir politisch nur dann zur Kenntnis, wenn das nützlich war. Die Massenarbeitslosigkeit der Zeit etwa war daher eine willkommene Bestätigung unserer theoretisch ohnehin bewiesenen Überzeugung, der Kapitalismus sei instabil. Und die Krise des Keynesianismus in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre bestärkte unsere Haltung zur Sozialdemokratie, die zwar Arzt am Krankenbett des Kapitalismus sein wollte, es aber wieder einmal nicht hinbekam. Über den „Weltökonomen“ Helmut Schmidt haben wir linken Wirtschaftsstudenten viel gelacht. Der Niedergang der eigenen kommunistischen Vorstellungen, die eben nie „die Massen ergriffen“, blieb dabei ausgespart, denn das theoretische Konzept war ja richtig. Was kann die Theorie dafür, wenn die Menschen sie nicht begreifen?!
Sex und Umweltschutz: Die moralistische Spielart des Linksseins
Aber das war nur eine Variante des Linksseins. Es war schnell klar, dass wir mit unserer Orientierung am realen Sozialismus auch unter den linken Studenten nicht in der Mehrheit waren. Die meisten linken Studenten waren weiterhin bei den Jusos, doch kam Ende der 1970er Jahren mit den „Spontis“ eine neue Gruppe auf, die ich damals grandios unterschätzte, eben weil sie theoretisch so anspruchslos schien. Diese Milieu, das mich ähnlich wie die Welt der Jusos nie angesprochen hat, erlebte zusammen mit den Grünen in den 1980er Jahren eine geradezu imposanten Aufschwung, weil sie, anders als wir marxistischen „Theoretiker“ alles wollten, und zwar sofort. Sie hatten geringe Barrieren (keine Kapitalschulungen!), machten gute Partys, hatten einfache, sofort begreifbare Themen (Umweltschutz, Sex) und ersetzten das, was wir mit Gesellschaftskritik betrieben, durch Moralisierung. Sie passten perfekt in das Milieu der 1980er Jahre. Sie wollten die Gesellschaft nicht wirklich ändern, sondern sie menschlicher machen, wobei sie einfach unterstellten, irgendwie seien die Verhältnisse unmenschlich. Dadurch wurde „Linkssein“ plötzlich offen für alle möglichen Strömungen, die sich, aus welchen Motiven auch immer, an der Gesellschaft rieben und ihr dieses Reiben als moralisches Makel ankreideten: Mir geht’s nicht gut, und Du bist daran schuld! Das hatte und hat den Vorteil, dass sich die „Linke“ als Gewissen einer Gesellschaft aufspielen kann, deren Produkt sie im Grunde ja selber ist. Sie ist heute die Betreuungs- und Therapieinstanz für die Fehler einer Gesellschaft, deren Existenz und Funktionieren aber gerade Bedingung dieser moralisch überlegenen Position (und ihrer Finanzierung) ist. Zugespitzt: Es soll nicht mehr wirklich etwas geändert werden, sondern es geht um die Betreuung der Opfer, die es ja – streng genommen –ohne die heutige Gesellschaft nicht gäbe.
Diese Tradition des „Linksseins“, die heute die Vorherrschende ist, hatte indes mit dem, wovon ich überzeugt war, nichts zu tun. Meine Abkehr, der Bruch mit meinem eigenen Linkssein erfolgte daher auch viel radikaler spätestens als mir klar wurde, dass weder der Marxismus noch seine zahlreichen Derivate praktisch und/oder theoretisch überzeugen, was ich ja lange Zeit angenommen hatte. Die Tatsache, dass kein einziges nichtkapitalistisches Experiment wirtschaftlich funktionierte, dass das sowjetische Lager an der eigenen Unfähigkeit, moderne Wirtschaftsstrukturen zu schaffen, zu Grunde ging, die Tatsache, dass China seinen wirtschaftlichen Sozialismus kurzerhand über Bord warf und damit grandiose Erfolge erzielte, sich gleichzeitig politisch aber als ziemlich rabiate Diktatur präsentierte, ließ sich irgendwann einfach nicht mehr verdrängen. Auch die Hoffnung auf Kuba war trügerisch, und von den vielen sozialistischen Experimenten in der sog. Dritten Welt war in den 1980er Jahren nicht mehr viel übrig, von Albanien und Kamdodscha zu schweigen. Das konnte nicht einfach mit dem US-Imperialismus erklärt werden oder auf eine ominöse Tendenz zum bürokratischen Staatssozialismus zurückgeführt werden, den man, wäre der Vorwurf zutreffend gewesen, marxistisch außerdem gar nicht hätte erklären können – oder nur mit Dutschkescher Unklarheit!
Der Wirtschaftshistoriker lernt, den Kapitalismus zu lieben

Nein: mit offenen Augen war zudem für mich als Wirtschaftshistoriker nicht zu ignorieren, dass keine Planwirtschaft bislang das geleistet hatte, was sie auf der Basis der Kritik an der kapitalistischen Anarchie gerade versprochen hatte, eine krisenfreie, ausgeglichene Entwicklung der Produktivkräfte und eine dauernde Verbesserung des Lebensniveaus der Menschen. Nichts von diesen Versprechungen ist eingelöst worden, und das keineswegs allein aus ungünstigen Umständen, die es gegeben haben mag, sondern aus strukturellen Schwächen, die – das wurde mir klar – genau die relativen Stärken einer kapitalistisch-marktwirtschaftlichen Ordnung spiegelten. Seither kann ich nicht mehr aus grundsätzlichen Überlegungen eine Wirtschaftsordnung kritisieren, zu der es zumindest bislang keine plausible Alternative gibt.
Die moralische Linke der 1980er Jahre hat den realen Sozialismus nicht gemocht. Sein Untergang war ihr kein Menetekel. Dass sie seinen Zusammenbruch daher mehr oder weniger kommentarlos hingenommen hat, liegt aber nicht nur an diesem Desinteresse. Es hat auch etwas damit zu tun, dass sich die heutige Linke ungern auf Fragen alternativer Entwürfe festlegen lässt, sondern sich lieber in der moralischen Kritik von Zuständen ergeht, deren Ende sie gar nicht wünschen kann, da sie von deren Bewirtschaftung auch finanziell profitiert. Man ist zugleich Kritiker und Nutznießer, könnte man zugespitzt sagen, ja kann dies beides nur sein, weil es sich gegenseitig erst möglich macht. Die Moralisierung macht die Position überdies hermetisch. Wenn die Energiewende moralisch sakrosankt ist, ist es ungehörig zu fragen, ob der gigantische Subventionszirkus wirtschaftlich überhaupt sinnvoll sein kann. Die SED/PDS/Linke hat hier sehr schnell gelernt, ihren Marxismus zu Wagenknechtscher Folklore geschrumpft und sich dem Moralisieren von Zuständen, die man nicht ändern kann und auch nicht ändern will, aber doch für schrecklich hält, angeschlossen. Daran zu erinnern, wie eine Welt aussieht, in der die Linke vierzig Jahre lang den Ton angegeben hat, ist dann geradezu ungehörig, denn sie ist ja selbstverständlich für das Gute zuständig, so dass das Nichtgute eben nicht links ist. Das geht gelegentlich in Erinnerung an die DDR nicht ohne eigenartige Pirouetten, aber das macht nichts. Dass es keineswegs das internationale Finanzkapital braucht, um Staaten in schwere Schuldenkrisen zu stürzen – war Ende der 1980er Jahre jedem Beobachter der DDR klar; heute erinnert man sich nicht mehr oder will sich nicht gern erinnern, ist aber um so überzeugter, dass das alles an den Banken liegt!
Warum ich heute kein Linker mehr bin
Ich bin kein Linker mehr; im Sinne des gegenwärtigen Linksseins war ich es, ehrlich gesagt, wahrscheinlich nie. Mitleid und Hilfe sind für mich keine linken Haltungen, sondern zumindest in der Tradition meiner Erziehung christliche Einstellungen, die keinen politischen Ort haben. Der Welt meiner Herkunft war ich in den 1970er Jahren aus einer Vielzahl von Gründen überdrüssig; ich habe es oben angedeutet. Die Alternative hierzu musste freilich theoretisch überzeugen. Anfänglich schien der Marxismus ein Lichtblick, doch war er es, je länger je mehr, immer weniger, zumal er von allen konzeptionellen Widersprüchen abgesehen auch ein falsches Bild vom Menschen protegiert. Irgendwann wurde mir klar, dass Bergarbeiter keine Opfer waren, sondern Menschen, die ihr Leben so führen wollten, wie sie es taten. Und für ihre Art zu leben, hatten sie zumindest so gute Gründe wie ich für meine. Wir aber hielten uns für souverän: Verführt sind immer die anderen!
Seit mir das klar ist, sympathisiere ich mit der Welt, in der ich lebe, nicht zuletzt weil sie gerade wegen ihrer marktwirtschaftlich-liberalen Verfassung ganz ordentlich funktioniert und für Änderungen offen ist, weil sie Gestaltungsspielräume schafft und nicht politisch schließt, und weil mir die Hybris fehlt zu unterstellen, andere Menschen hätten für ihr Tun und Handeln weniger gute Gründe, als ich sie mir selbst selbstverständlich zugestehe. Die Menschen sind insofern für sich selbst verantwortlich und daher eben auch frei. Sie sind keine hilflosen Opfer gesellschaftlicher Strukturen, oder zumindest nur in dem Maße, in dem ich es auch selbst bin. Andere betreuen oder anleiten zu wollen, hat etwas Bevormundendes, den Menschen das Verantwortungsgefühl und ihre Autonomie Bestreitendes, ihre Freiheit in Frage Stellendes.
Die Gesellschaft ist vielmehr, wie sie ist, weil eine große Zahl von Menschen in ihr selbstbestimmt leben kann und will. Das immunisiert die Gesellschaft nicht gegen Kritik, doch hat sich die Kritik jeweils nach Maßgabe des durch sie Möglichen selbst zu rechtfertigen. Diese Selbstkritik aber ist der gegenwärtigen Linken, die allein für das Gute Verantwortung übernehmen will, alles Schlechte anderen in die Schuhe schiebt und sehr viele Menschen für Betreuungsfälle, ja Opfer hält, vollständig fremd. Sie ist der allzuständige Betreuer, der stets aus großem Edelmut heraus handelt. Sie ist daher ähnlich selbstgefällig wie die Wiederaufbaugeneration, die uns seinerzeit so gelangweilt hat!
Werner Plumpe, geboren 1954 in Bielefeld und aufgewachsen in Recklinghausen, ist Professor für Wirtschaftsgeschichte an der Goethe-Universität Frankfurt
[…] Sie diesen glänzenden autobiografischen Essay von Prof. Werner Plumpe über die Irrtümer und Ideologien der Neuen Linken seit den späten 1960ern. Unter der Überschrift […]
So geht's
Danke für diesen Beitrag. Ein schönes Beispiel, wie linke Ideen in einem Wohlstand ersäuft wurden, der nur doch nur geborgt war, wie sich seit einigen Jahren herausgestellt hat. Zurückzahlen darf das die Generation der Kinder der Möchtegern-Linken in den 1970-er und 1980-er Jahren.
[…] (Mehr in: Wirtschaftspolitik – FAZ.NET) […]
Unterhaltsam zu lesende Selbstreflexion, Herr Plumpe.
“Seither kann ich nicht mehr aus grundsätzlichen Überlegungen eine Wirtschaftsordnung kritisieren, zu der es zumindest bislang keine plausible Alternative gibt.”…dieser Satz von Ihnen “tut mir weh”.
Die zehn Gebote der Bibel sind die Alternative.
Keine Verbote, keine anderen Vorschriften jedweder Art.
Sowohl für den Einzelnen, als auch für Gesellschaft(en).
Der “Haken” an dieser Alternative…die Evolutionsziel ist…
sie bedarf das einsichtige Begreifen von Vernunftdynamik und Qualität
in Abhängigkeit von Reifung und Differenzausgleich…Vernunft-Bildung.
D.h. die Realisation braucht eine homogene Mindest-Vernunftqualität
der “Menschheit” als Resultierende. Erst bei “Not wendendem”
Reifegrad und Einsicht(grad) “aller” Menschen ist ein “zwangloses!”
10 Gebote-Leben” sowohl als Einzelperson, als auch als “Gesellschaftsperson(en)” möglich. DAS Zukunft-Reifeweg-Projekt der Bibel(geschichte)…Ihnen bekannt, oder?
Alle bis dahin erforderlichen “Zwang(Gesetzesnotwendigkeit)”
enthaltenden Gesellschaftsformen sind eben Zeitgeist reifeabhängige “Gesellschaft(en)-Zwischen-Lösungsformen”…
bis 10 Gebote-Ziel erreicht ist.
Beschleunigend wirken, auf das Erreichen dieses Zieles bezogen
und außerdem Vermeidung von Kriegen, Auseinandersetzungen,…
könnten gezielte “Vernunft-Bildung-Systeme” sein…könnten.
Sonst nimmt die Evolution ihren Lauf wie in der Gegenwartgeschichte
zu beobachten. Vernunft-Bildung-Differenzausgleich durch Kriege…u.s.w.
Der “Zeitgeist-Geschichte-Erleben-Weg” bis das 10 Gebote Ziel
erreicht ist, liegt quasi in unserer Hand.
Das Ziel aber wird erreicht werden…
Geist-Auge (Bildung) um Geist-Auge, Zeitreife-Zahl(-Zahn) um
Zeitreife-Zahl.
Die Frage wieviel Menschen das Zielerreichen erleben und wie
die Erde dann aussieht, bestimmt die humane Einsicht.
Der Grad der homogenen humanen Vernunft der Menschheit, bestimmt den Grad ihres humanen (Zusammen-)Sein…von Erde-Paradiesgrad, bis Erde-Höllengrad.
MfG
W.H.
Sehr gut! Dazu brauchen wir jetzt noch von jemandem das Pendant, "Warum ich als gelernter
DDR-Bürger schon zu DDR-Zeiten aufgehört habe, Marxist zu sein”. Als ich mich Mitte der 80er Jahre gegen Revisionismusvorwürfe zu verteidigen hatte, fiel mir irgendwann die Frage ein, wieso bin ich eigentlich verpflichtet, Marxist zu sein? Und ich wußte sofort: Diese Frage durfte ich in der DDR niemals laut sagen.
Was mich an solchen Rückblicken immer wieder wundert, ist eine Konstante:
Der Verweis darauf, wie wenig Realitätsbezug linke Theorie hatte. ich war nie links, aus vielen Gründen, aber einer davon war die Beobachtung der Menschen meiner Umgebung. Ich brauchte keine Theorie, um zu wissen, dass der harte Kern von Kapitalismus (Marktwirtschaft, Preisbildung durch Angebot und Nachfrage) sich an jeder Stelle im alltäglichen menschlichen Verhalten wiederspiegelt. Und dass die Marx´sche Mehrwerttheorie falsch sein musste, weil ein Ding soviel wert ist, wie jemand bereit ist, dafür zu zahlen.
Aber wenigstens hatte die “alte” marxistische Linke noch eine echte, in sich konsistente Theorie. Und eine nachvollziehbare historische Basis in den Ausbeutungsverhältnissen des Frühkapitalismus. Ich finde die neue Linke noch ungeniessbarer. Sie legt einfach die Messlatte in Höhen, dass selbst Jesus oder Buddha Schwierigkeiten hätten, sie nicht zu unterlaufen. Und schreibt das regelmässig unvermeidliche Unterlaufen in der Praxis dann dem “System” oder dem “Kapitalismus” zu, ohne auch nur irgendeine Form von Alternative anbieten zu können.
Der Marxismus war ein glatter, häufig mörderischer, Fehler in der Praxis, weil seine Theorie fehlerhaft war. Das neue Linkssein hat noch nicht einmal eine theoretische (geschweige denn praktische) Alternative anzubieten. Nur moralinsaure Selbstüberhöhung, gepaart mit Inquistionsphantasien und intellektuellem Patriarchalismus.
Gruss,
Thorsten Haupts
Frohe Weinachten.
Lieber Herr Hank,
Sie sind ein kluger Mann und einer der wenigen verbliebenen nonkonformistischen FAZler. Würden Sie die Überschrift noch einmal überarbeiten?
Ihr TS
Danke...
…für den Hinweis!
Warum ich von Tag zu Tag immer linker werde (Jahrgang 1953)
Naja, wäre ich Wirtschaftshistoriker an der Uni Frankfurt, würde ich das nicht unbedingt an die große Glocke hängen. Aber unter Pseudonym – die Gedanken siind frei!
Können denn die Menschen hier “selbstbestimmt leben”, angesichts der Billigjobs und der drohenden Altersarmut? Sieht denn niemand die Schrift an der Wand, auf der Libyen, Syrien, Ukraine steht, das Gebllde, das man noch 1971 US-Imperialismus genannt hat, wie wild um sich schlägt und uns alle in den Abgrund ziehen will.
Jaja, “what’s left”, sehr witzig. “What’s right”?
Bravo, Bravissimo!
Hier hat jemand die Welt beobachtet, aus der Beobachtung gelernt, und dann noch die richtigen Worte dafür gefunden, um sie niederzuschreiben. Man möchte dem Autor am liebsten die Hand schütteln.
Welch brilliante Analyse
Es tröstet mich ungemein ihre Worte zu lesen, weil es mir den Glauben an Intelligenz und Lernfähigkeit zurückgibt. Und die moderne Linke letztlich als egoistische Opportunisten entlarvt, die linke Moralität als Schutzschild und Verschleierung der eigenen Arroganz benutzt.
Um Links zu sein, bin ich zu spät geboren, so dass ihre Erkenntnis der Wahrnehmung meiner Jugend entspricht.
Aber Linken wie Ihnen gehört mein Respekt. Schade dass sich eine andere Linke durchgesetzt hat, als ihre. Denn ihr Linkssein wäre eine echte Alternative die zumindest Respekt verdiente, die aktuelle Lonke macht heutige Wahlen so alternativlos, jedenfalls wenn man sich nicxht blenden lässt.