Helmut Mörchen (Jahrgang 1945 und SPD-Mitglied) erzählt, warum er trotz Pfarrerseltern nicht richtig links wurde und wie er beim Bier-Trinken die Liberalen kennenlernte.

Ich bin zwar acht Jahre älter als Sie, Herr Hank, teile aber viele Erfahrungen mit Ihnen. Allerdings mit einem ausgeprägt protestantischen Hintergrund – Pfarrerssohn, dann aber wieder eine erste Parallele: Villigster wie Sie Cusaner.
Während Sie ein Nach68er waren, war ich – politisiert durch das Elternhaus – ein Vor68er. Schon als 16jähriger Schüler gründete ich an meinem Neuwieder Gymnasium einen „Politischen Arbeitskreis“. Ein Thema unter anderen bereits 1961 die „dritte“ Welt. Die Erfahrung meines Vaters, Mitglied der Bekennenden Kirche, dass die NS-Diktatur vor allem durch den Politikverzicht des Bildungsbürgertums während der Weimarer Republik möglich wurde, trieb mich in die Politik, die ohne Parteimitgliedschaft nicht möglich war: an meinem 21. Geburtstag trat ich deshalb der SPD bei. Ein halbes Jahr vor der Großen Koalition, das ist mir wichtig. In Rheinland-Pfalz verlief das für mich im negativen Ausschlußverfahren. Die CDU Peter Altmeiers kam natürlich überhaupt nicht in Frage, die FDP war mir unbekannt, blieb also nur die auch wenig attraktive SPD. Links war ich nicht.
In den ersten Studiensemestern in Bonn 1964ff. , Germanistik und Philosophie, spielte die Politik darum auch erst mal keine Rolle, der Erwerb qualifizierter Scheine zur Hauptauswahl ins Evgl. Studienwerk stand im Vordergrund. Und bevor es dann losging mit 68, hatte ich mich aus persönlichen Gründen schon an die Universität Saarbrücken aufgemacht.
Marx’ Pariser Manuskripte
Hier gab es ein erstaunliches Miteinander von liberaler Professorenschaft und gemäßigten Studenten. Der konservative Rektor Hermann Krings stand an der Spitze der Demonstration nach der Ermordung Benno Ohnesorgs am 2. Juni 1967. Höhepunkt der Bewegung war dann die Begleitung Cohn-Bendits im Frühling 1968 zur Goldenen Bremm, dem Grenzübergang nach Frankreich, wo die Grande Nation Panzer auffahren ließ, um die Einreise Cohn-Bendits zu verhindern. Dass er dann 500 Meter weiter über die grüne Grenze nach Frankreich und nach Paris gelangen konnte, demonstriert die augenzwinkernde Souveränität des de Gaulleschen Frankreich.
Politisch eingebunden im Saarbrücker SPD-Ortsvereins St. Johann – dort traf ich einen als frisch eingestellten Mitarbeiter der Saarbrücker Stadtwerke völlig frustrierten Cusaner, den unser Ortsvereinsvorsitzender Günter Slotta gelegentlich angetrunken vom Rednerpult bugsieren musste: Oskar Lafontaine.
Die Ergänzung zu einer solchen SPD fand ich an der Uni nicht beim SHB, oder gar SDS, sondern beim LSD, dem liberalen Studentenbund. Ich habe sehr schnell die Freiheit als das für mich wichtigste Gut zu begreifen gelernt. Ich habe weder das Kapital gelesen, noch die vielen anderen Broschüren auf den Büchertischen, dafür aber im Philosophischen Seminar mit Karl-Heinz Ilting Marx’ Pariser Manuskripte. Mein wichtigster philosophischer Lehrer wurde aber Karl-Otto Apel, der uns mit Peirce vertraut machte.
Meine Dissertation über die politische Essayistik und Publizistik der Weimarer Republik schrieb ich bei Helmut Kreuzer, einem viel zu wenig gerühmten Germanisten, nach Saarbrücken dann in Bonn und Siegen. Er öffnete uns den Blick für die Trivialliteratur, das Leben jenseits des bigotten Bildungsbürgertums – sein Buch „Die Boheme“ haben sogar Katrin Passig und Sascha Lobo im Blick auf ihre „digitale B.“ gewürdigt – und dank seiner USA-Erfahrungen als Professor in Houston/Texas – redete er uns schon 1969 alle linken Träume aus und prophezeite auch für Deutschland die bevorstehende Wende, die Sie so überzeugend am Jahr 1972 festgemacht haben.
Mein Bier trank ich aber abends bedingt durch eine enge Freundschaft mit dem Studienstiftler Robert Leicht eher im Kreis der Saarbrücker Jura- und Wisostudenten. Und lernte dort Werner Maihofer und Arthur Kaufmann kennen. Herbert Giersch bin ich wohl nicht persönlich begegnet, aber er ist mir als einer der damaligen Saarbrücker Stars in der Erinnerung sehr präsent.
Karl Barths Römerbrief – unerträglich
Der liberale Impuls war eine gute Ergänzung meiner damaligen sozialdemokratischen Grundüberzeugung. Ich war nie ein Gläubiger, ein Nachbeter. Nach dem Verlust des Kinderglaubens am Ende der Pubertät wollte ich nie wieder etwas „bekennen“, niemandes „Schüler“ oder gar „Nachfolger“ sein. Um meinen Vater postum zu verstehen, las ich Karl Barths „Römerbrief“ und war erschrocken über den für mich unerträglichen Überredungsgestus dieses Buches. Der Satz „Überzeugen ist unfruchtbar“ aus der „Einbahnstraße“ Walter Benjamins wurde zu einem ein Motto meines Denkens.
Darum habe ich im Gegensatz zu Ihnen keine Konversion, in welche Richtung auch immer, durchmachen können. Sondern bin ein Fragender geworden und geblieben, einer der gern ins Unreine denkt, bevor er in Schönschrift entscheidet: klar formuliert und ethisch begründet. Und da sehe ich uns auf einem gemeinsamen Weg. Wohin der auch führen mag?
Nach diesem Fragezeichen ein weiterer Blick zurück. Wie Ihnen fehlten auch mir während des Studiums wegen des Schielens auf gute Noten der „Mut“ und auch die „Zeit“ zu ungewöhnlichen und mutigen Schritten. Wir waren doch sehr brav und leistungsorientiert, wollten zwar nicht in die üblichen Laufbahnen, aber mit der Promotion doch einen vorzeigbaren Studienabschluss vorlegen. Also nicht Oberstudiendirektor werden; nein, wir waren unbescheidener, wir wollten positiv auffallen, bei den Wichtigen und Richtigen, wer auch immer die sein mögen, Beachtung finden. Und waren dazu bereit, uns auch stilmäßig anzupassen, die richtigen Klamotten, wenn’s nottut Krawatte, anzuziehen und die geltenden Umgangsformen zu beachten.
Der Roman Antonia Baums (wie Sie ja auch bei der FAS!) „Ich wuchs auf einem Schrottplatz auf, wo ich lernte, mich von Radkappen und Stoßstangen zu ernähren“ schildert eine Gegenwelt zu unseren Mainstream-Milieus. Theodor, ausgeflippter Arzt, Wettbürogründer, Drogenhändler, Autonarr und Kunstbetrüger, zu dem im Vergleich Harry Rowohlt ein gepflegter Beau ist, erklärt seinen Kindern nach einem Krisengespräch mit deren Schuldirektorin die entscheidende Differenz zu ihr:
„Ich bin aber in einem ganz anderen Sinne bürgerlich, das heißt: Ich bin für eine umfassende Bildung im humanistischen Sinne, und ich bin für Klarheit. Das zieht sich wie ein roter Faden durch mein Leben. Klarheit darf man aber nicht mit Vorschriften-Religiosität verwechseln, und diese Schnepfe, das sieht man eben als einigermaßen geübter Beobachter, ist eine Vorschriften-Schnepfe. Steht in einer Vorschrift, dass Bach ein Genie war, geht sie ins Kaufhaus und kauft sich alles von Bach. Sie ist einfach eine dumme Bach-Gans, versteht ihr das?“
Antonia Baums Roman ist – auf eine ganz verquere Weise – auch ein Beitrag zur Diskussion zur Wertebildung. Für mich im Moment ein wichtiger Komplementärtext zum Buch von Rainer Hank.
Dr. Helmut Mörchen war Leiter der Kurt-Schumacher-Akademie in Bad Münstereifel
Das Buch zum Blog von Rainer Hank gibt es hier:

Sehr geehrter Herr Mörchen,
Sie sind ein klassischer Sozialliberaler. Die gab es schon immer: In letzter Zeit waren die nur selten die dominierende Strömung innerhalb der FDP, aber schon mal dagewesen: zwischen 1969 und 1982 zum Beispiel; sagt Wikipedia → https://goo.gl/GwEHcK
Wikipedia: »Am politisch einflussreichsten war der Linksliberalismus in der Bundesrepublik Deutschland zwischen 1969 und 1982, als die FDP mit der SPD die Sozialliberale Koalition bildete und sich mit den 1971 verabschiedeten Freiburger Thesen – flankiert von der „Streitschrift“ Noch eine Chance für die Liberalen ihres damaligen Generalsekretärs Karl-Hermann Flach [15] – zu einem „demokratischen und sozialen Liberalismus“ bekannte.« Hier möchte ich noch das Wort »freiheitlich« hinzufügen.
Wäre mal wieder Zeit! …
Was soll es denn?
Haben Sie denn ernsthaft danach gesucht, ein Linker zu werden? Nach Ihren Literaturbelegen eher nicht. Sie schildern doch die ganz gewöhnlichen Irrungen und Wirrungen eines normalen Menschen, der nicht auf seinem Gehirn sitzt.
Ich bin gespannt, wer dem Buch noch seine Krücken verleihen wird.
Mit freundlichen Grüßen
Bernard del Monaco