Bin ich noch links?, fragt Johannes Richardt: Na klar, findet er. Aber die meisten selbsternannten „Linken“ sind es nicht. Und liberal bin ich auch!

1998, als Rot-Grün die Bundestagswahl gewann, war ich 17 und freute mich sehr über den Wahlsieg. Solange ich denken konnte, war immer Helmut Kohl an der Macht gewesen. Endlich war er weg! Leider durfte ich noch nicht wählen, aber wenn ich gedurft hätte, hätte ich der SPD meine Stimme gegeben. Beim internen Wettbewerb zwischen Schröder und Lafontaine für die Kanzlerkandidatur hatte ich letzterem die Daumen gedrückt. Ich fühlte mich irgendwie „links“ – war für Gerechtigkeit und gegen Krieg. Dann kam das Jahr 1999 mit Lafontaines Rücktritt und vor allem dem Kosovokrieg. Beides empörte mich. Mein Denken wurde radikaler.
So besorgte ich mir erstmals ein Schüler-Abo der taz, fing an, mich ziemlich wahllos mit linker Theorie zu beschäftigen und trat letztlich in die PDS ein – für das ländliche Nordhessen, wo ich aufwuchs, eine ziemlich außergewöhnliche politische Geste. Naomi Kleins Ratschlag aus dem globalisierungskritischen Megaseller No Logo! Folgend, entfernte ich als Zeichen meiner Konsumkritik sämtliche Markenetiketten aus meiner Kleidung. Durch die Lektüre des Schwarzbuch Kapitalismus lernte ich neben sehr vielen neuen Fremdwörtern, die ich geflissentlich in meinem Lexikon nachschlug (Akkumulation, Apologet etc.), dass der Kapitalismus oder besser die gesamte Moderne unter kapitalistischen Vorzeichen eine alles zerstörende Maschine sei und wir unwiederbringlich auf ein große Katastrophe zusteuern. Als einziger Ausweg bliebe nur radikale Systemverweigerung. Diese pessimistische Analyse hinterließ starken Eindruck bei mir, passte sie doch bestens zu meiner damals ohnehin sehr düsteren Grundstimmung.
War ich wirklich auf der guten Seite?
Nach dem Zivildienst begann ich im Jahr 2003 ein Studium der Soziologie, Politik und Literatur im „linken“ Marburg. Es war die Zeit der Proteste gegen die vom damaligen hessischen CDU-Ministerpräsidenten Roland Koch geplanten Studiengebühren. In den Seminarräumen, WG-Küchen und Kneipen, auf Demos und Kundgebungen kam ich zum ersten Mal so richtig in Berührung mit der „real existierenden Linken“. Eine gewisse Desillusionierung ließ nicht lange auf sich warten.
Was war es, das mich damals störte? „Eine andere Welt ist möglich“, hieß es unter Bezugnahme auf den Slogan des ersten Weltsozialforums in Porto Alegre in meiner Marburger Zeit oft. Zweifelsohne. Nur wie sollte diese Welt aussehen? Und wie war sie zu erreichen? Bei meiner Suche nach Antworten merkte ich zunehmend, dass meine Ideen von einer besseren Welt mit dem, was die sogenannten Linken, mit denen ich in dieser Zeit in Kontakt kam, nicht zu vereinbaren waren. War ich wirklich auf der richtigen, der guten Seite? Zu weltfremd und dogmatisch erschienen mir die „Diskurse“, zu selbstbezogen der Protest, zu sinnentleert die Parolen und nicht zuletzt – zu wenig überzeugend die Protagonisten.
Ich fasste den Vorsatz, mich nicht mehr mit Politik zu beschäftigen (auch aus der PDS, in der ich ohnehin nie aktiv war, bin ich wieder ausgetreten…). Meine Interessen verlagerten sich vor allem auf Literatur und Philosophie. Allerdings nicht für lange. Mein politisches Bewusstsein ließ sich nicht so einfach wieder ausknipsen.
Zufällig stieß im Jahr 2006, während eines Besuchs der Frankfurter Buchmesse, auf den Stand des „Novo Magazins“, für das ich heute als festangestellter Redaktionsleiter arbeite. Ich schloss ein Studentenabo ab (meine erste Ausgabe trug den spannenden Titel „Angstindustrie“) und begann zu lesen. In den darauffolgenden Jahren zog ich für mich entscheidende Denkimpulse aus dieser Zeitschrift. Das freiheitlich-humanistische Magazin hatte auch eine linke Vergangenheit. Im Gegensatz zur Mainstreamlinken hatten sich die Macher aber den Glauben an Fortschritt, ein optimistisches Menschenbild, einen positiven Begriff von Freiheit und – sehr wichtig für mich – eine Offenheit gegenüber anderen Sichtweisen und die Lust am konstruktiven Streit bewahrt. Die damals noch eher schmalen Hefte munitionierten mich mit Argumenten für politische Diskussionen mit meinen nach wie vor überwiegend „links“-tickenden Freunden und halfen mir, besser einzuordnen, was mich am Zustand der Welt, aber auch am gegenwärtigen linken Denken so störte.
Was mich an der Linken stört
Heute weiß ich, was mein Problem mit der Linken war und ist: Sie hat sich weitestgehend von ihren humanistischen Grundlagen verabschiedet. Sie ist misanthropisch, pessimistisch und relativistisch geworden. Was sich heute „links“ nennt, ist das Gegenteil von progressiv. Mit denjenigen, die in der ersten französischen Nationalversammlung auf der linken Seite Platz genommen hatten, hat es nichts mehr zu tun. Dort saßen die, die sich für Wandel und Veränderung einsetzten, die Experimentierfreude, Innovation und Fortschritt als etwas Positives begriffen und die Fahne von Vernunft, Freiheit, Wissenschaft und den säkularen Werten der Aufklärung hochhielten. Diese Progressiven – was gleichzusetzen war mit Linken – gingen davon aus, die Welt morgen zu einem besseren Ort machen zu können. Diese Haltung bestimmte linke Politik von der französischen Revolution bis ins frühe 20. Jahrhundert. In dieser Zeit waren es Konservative und Reaktionäre, die am stärksten linke Ideale wie Vernunft, Eigeninteresse, Individualrechte und Fortschritt in Zweifel zogen. Heute sind es Leute, die sich selbst als Linke bezeichnen.
Bei der Frage, wie wir sieben Milliarden satt bekommen sollen, stehen viele Linke heute fest in der Tradition des bereits von Karl Marx kritisierten Überbevölkerungstheoretikers Thomas Malthus. Wenn man ihnen erzählt, dass nicht nur Armutslinderung sondern mindestens ein westlicher Lebensstandard für alle das Ziel sein muss, halten sie einen für verrückt. Wo die klassische Arbeiterbewegung noch auf die Kraft der freiwilligen Selbstorganisation setzte, sehen heute gerade Sozialisten den Staat als einzigen nennenswerten Akteur für Veränderung. Wo frühere Linke noch von einer Welt des Überflusses für alle träumten (Marx‘ „Reich der Freiheit“), predigen sie heute Konsumverzicht und „degrowth“.
Mit ihrer romantischen Skepsis gegenüber Wissenschaft, Technologie, Wachstum, Fortschritt und letztlich auch Freiheit wendet sich die ergrünte Linke gegen alles, was die historische Linke wollte. Dabei muss der moderne Ökologismus fast schon notwendigerweise autoritär sein, weil er das menschliche Streben nach mehr (sei es nun mehr Freiheit, mehr Wohlstand, mehr Konsum) als destruktiv und gefährlich begreift. Ökolinke sehen im Menschen vor allem einen Schädling im planetaren Organismus, den man auf ein klimaverträgliches Maß eindämmen muss.
Es geht nicht mehr um eine bessere Zukunft für alle, sondern um die Feinjustierung des Status Quo durch Umverteilung, bei der das Geld meist nur von der rechten Tasche in die linke wandert und die Hauptsache ist, dass der Staat jeden Euro auch einmal in der Hand hatte. Das nennt sich dann soziale Gerechtigkeit und geht mit immer mehr paternalistischen Eingriffen in die Lebensführung der Bürger einher. Denn als Gegenleistung für seine „Geschenke“ möchte der Staat zunehmend mitbestimmen, was die Bürger essen, trinken oder rauchen, wie sie ihre Kinder erziehen, wieviel Energie sie verbrauchen usw. Vom progressiven Gedankengut scheinen lediglich progressive Steuersätze übriggeblieben sein.
Bin ich jetzt ein Liberaler, oder was?
Vor diesem Hintergrund meiner wenig freundlichen Sätze über die heutigen Linken, stellt sich die Frage, ob ich mich noch als solchen bezeichnen würde. Manche alte Freunde ziehen mich gerne damit auf, dass ich doch schon längst ein Liberaler sei und es mir nicht eingestehen wolle.
Klar bin ich noch links! Ich will eine bessere Welt und Wohlstand für alle. Leider sind es nur die meisten anderen „Linken“ nicht mehr. Vor allem, weil sie dem Mythos von den Grenzen des Wachstums auf den Leim gegangen sind. Und liberal bin ich auch, ich will mehr Freiheit für alle. Leider sind es die meisten Liberalen nicht wirklich. Sie knicken ein, wenn es um die kompromisslose Verteidigung der Meinungsfreiheit geht. Sie trauen sich nicht, für den Wert der Freizügigkeit einzustehen und offene Grenzen zu fordern. Sie versuchen zu oft, den Wert der Freiheit nur ökonomisch zu begründen, statt ihn absolut zu verteidigen.
Ich lehne die Staatsgläubigkeit vieler Linker ab, aber auch den Marktfetischismus vieler Liberaler. Um die Menschheit voran zu bringen, brauchen wir beides: die freie Entfaltung des Individuums und die kollektiven Handlungsmöglichkeiten souveränen, demokratischer Staaten. Bei Novo nennen wir uns Humanisten. Nicht weil in der Redaktion Latein gesprochen wird, sondern weil wir den Menschen als Gestalter seiner Umwelt wirklich ernst nehmen. Wir glauben, dass es besser ist das Menschenmögliche immer weiter auszuweiten, als es zu begrenzen. Aus dieser Position heraus sammeln und diskutieren wir Argumente für den Fortschritt.
Johannes Richardt ist Redaktionsleiter des Magazins NovoArgumente und Gründungsmitglied des humanistischen Think-Tanks Freiblickinsitut e.V.
Das Buch zum Blog von Rainer Hank gibt es hier:

[…] (erschienen im FAZ-Blog What’s left?) […]
"Vielleicht kann das Individuum im Bemühen um Persönlichkeit sich selbst
glücklich, die Welt dabei aber auch ein Stück weit besser machen.”
Denkste: Es bleibt dabei, das Meer des Leidens ist ohne Anfang und ohne Ende, nur du allein kannst ihm allein entrinnen, denn die 4 Wahrheiten bleiben nur für den Einzelnen, sie beziehen sich niemals auf ein Kollektiv:
1. Das Leben im Daseinskreislauf ist letzlich leidvoll, dies ist zu durchschauen.
2. Ursache des Leidens sind Gier, Hass und Verbleindung. Dies ist zu überwinden.
3. Erlöschen die Ursachen, erlischt das Leiden, dies ist zu bewirken.
4. Zum Erlöschen der Leiden führt ein Weg, der edle achtfache Pfad, er ist zu begehen.
Setzen sie sich hin, suchen sie in sich dort, wo kein Lüftchen weht, immer wieder, und sie allein können sich aus dieser Welt und Leid verabschieden.
"Heute weiß ich, was mein Problem mit der Linken war und ist:
: Sie hat sich weitestgehend von ihren humanistischen Grundlagen verabschiedet. Sie ist misanthropisch, pessimistisch und relativistisch geworden. ”
So ganz haben sie das wohl nicht verstanden, sonst wären sie nicht links geblieben. Rudolf Bahro hat es den Grünen vorgesagt und auch seinen EX-SED Funktionären. Sie sind noch weit davon entfernt, was es heißt frei zu sein, und zu wissen, was Freiheit ist. Das lernen sie nicht von Marx, nicht von Trotzki, nicht von Marcuse. Sie sind eingesperrt im Hotel PDS und genießen die Freiheit, alle Räume diese Hotels aufsuchen zu können. Sie können ausschecken, aber diese WeltAnsicht verlassen können sie nie.
Ein bisschen links sein ist wie ein bisschen schwanger sein
Nach Ihrem Artikel ist es leicht nachvollziehbar, dass Ihnen Ihre eigene Positionsbestimmung nicht so leicht fällt. Aber dass Sie die Wurzeln Ihrer Weltanschauung im gesellschaftspolitischen Planschbecken der französischen Aufklärung statt im prallen Leben der linken Weltbewegung suchen, ist mir etwas rätselhaft.
Nicht die Linken sind staatsgläubig, sondern die menschliche Gesellschaft ist es seit Anbeginn der Zivilisation. Der Grund dafür waren die Ungleichheit unter den Menschen und die äußerst unterschiedlichen und wechselnden Lebensbedingungen. Aus denselben Gründen gab es stets Bemühungen um eine Fortentwicklung des Staatswesens. Gegenwärtig sind wir doch selbst Zeugen dieser Prozesse.
Ein gemeinsames kollektives Handeln aller Menschen in einem Staat würde die Gleichheit und einen hohen Entwicklungsstand aller voraussetzen. Hier müssen wohl doch Normen und Reglementierungen des Staates einsetzen. Aber immerhin, siehe ‚‚Utopia‘‘ und ‚‚Der Sonnenstaat‘‘.
Ich denke, dass die EU eine Weiterentwicklung der europäischen Staaten ist und die Staaten im Jahrhundert der modernen Völkerwanderungen noch eine bedeutende Rolle spielen werden. Die internationale Solidarität der Linken und der Arbeiterklasse haben in dieser Entwicklung eine große Bedeutung.
Mit freundlichen Grüßen
Bernard del Monaco
Die Begriff "links" und "rechts" haben sich überlebt
und sollten besser durch die Frage ersetzt werden, ob jemand mit seinem Engagement der Evolution, dem Fortkommen und der Weiterentwicklung der Menschheit dient. Ein Beispiel dazu: der in unserer Zeit zu Unrecht in Vergessenheit geratene Literaturnobelpreisträger Knut Hamsun, den heute viele als stramm “rechts” ansehen würden (zumindest bekannte er sich in beiden Weltkriegen und danach immer demonstrativ zu seiner deutschfreundlichen Haltung) stand bei vielen namhaften Autoren seiner Zeit (die nicht stramm rechts waren wie Mann, Zweig, Hemingway, etc) in hohem Ansehen. Selbst Marcel-Reich Ranicki hat ihn, in vollem Bewusstsein seiner oben angedeuteten Einstellung, in einer seiner letzten Sendungen des “Literarischen Quartetts” zur Lektüre empfohlen. Hamsun hatte Standpunkte, schlug sich aber keinem politischen Lager eindeutig zu. Er war auch nicht gottlos (wie er selbst sagte), verabscheute aber seelenlosen und sinnentleerten, erstarrten religiösen Dogmatismus. Von ihm stammen folgende Zeilen: “Als Kind musste ich Oftedal lesen. In ein- und derselben Predigt war die Rede von allem Möglichen. Da gab es Lehrbetrachtungen und Gebete fürs Kämmerlein, trübselige geistliche Lieder von der Liebe zu Jesus und plumpe, eifrige Bettelworte um Geld für die Armen. Mein Herz lehnte sich gegen diesen Transieder auf, der mit seinem eifrigen, lauten Gerede von Gott in meiner kleinen Seele herumwühlte.” Dies zeigt, welch ausgeprägtes Bewusstsein und welche Sensibilität Hamsun hatte. Wenn er apolitisch war, so war es sicher nicht aus Dummheit heraus. Er hätte es als Verarmung empfunden, nur einer Partei anzugehören. Nun, in einer Demokratie hat man schon die Verpflichtung, sich ein politisches Bewusstsein zu bilden und die romantischen Vorstellungen eines Hamsun lassen sich in der Moderne (leider?) nicht immer realisieren. Dogmatismus allerdings bedeutet immer Erstarrung. Er wird den feinen Nuancen nicht gerecht, die oft so wichtig sind. Sie, Herr Richardt, haben einfach nur eine kognitive Entwicklung durchlaufen, die sie zu neuen Erkenntnissen gebracht hat. Eine davon ist eben die, dass Dinge und Ideen sich wandeln. Allzu viele (vor allem auch im Bereich der angegrünten Linken) halten jedoch aus Bequemlichkeit und/oder Feigheit an vertrauten, aber erstarrten Strukturen fest. Was gestern noch als progressiv galt muss es heute nicht mehr sein. Wer die Welt besser machen möchte, der sollte bei sich anfangen, ein gutes Beispiel leben, das gesunde Maß in allem suchen, vielleicht würde das mehr bringen als aller Aktivismus und jede noch so forsch propagierte Ideologie. Da sie die französische Aufklärung und ihre Werte erwähnen: der mit ihr in Verbindung stehende Philosoph und Satiriker Voltaire hat seinen “Candide”, den Prototyp eines weltfremden Idealisten, am Ende seiner Reise um die Welt zu folgender Erkenntnis gelangen lassen: “Il faut cultiver son jardin”. Von Shakespeare stammen folgende Zeilen: “This above all, be true to thineself and it must follow as night follows day, thou can’t not be false to any man.” Dies bedeutet wohl folgendes: Wenn man sich selbst treu bleibt (damit ist sicher kein oberflächlicher Egoismus gemeint), dann wird man letzten Endes den anderen auch am meisten nützen. Von Goethe stammen folgende Zeilen: “Volk und Knecht und Überwinder, sie gestehn zu jeder Zeit, höchstes Glück der Erdenkinder sei nur die Persönlichkeit”. Vielleicht kann das Individuum im Bemühen um Persönlichkeit sich selbst glücklich, die Welt dabei aber auch ein Stück weit besser machen.