Gleichheit wird maßlos überschätzt. Das meinen jetzt auch ein paar häretische Linke.

Stellen Sie sich vor, ein kleiner Glücksvogel macht Ihnen und allen anderen Lesern dieses Blogs ein Geschenk von einer Million Euro. Für die meisten von Ihnen käme das Millionengeschenk nach den vergangenen turbulenten Tagen an der Börse gerade recht. Aber es würde zweifellos auch die Ungleichheit in der Welt ein klein wenig vergrößern: Die Schere öffnet sich. Doch hätte irgend jemand dadurch Nachteile? Keinesfalls. Niemand verschlechtert seine Situation, einige verbessern sie. Wo ist das Problem? Die Tatsache, dass die vom Glücksvogel bewirkte Ungleichheit alle Nicht-Blog-Leser unglücklich oder neidisch macht, weil sie nicht beschenkt wurden, ist kein überzeugender Einwand: Ressentiment ist menschlich, aber nicht zugelassen vor dem Forum der Vernunft.
Die allermeisten Philosophen halten Ungleichheit gleichwohl für ein großes moralisches Problem. Kommt der Glücksvogel zum Beispiel in Gestalt eines schönen Erbes daher, sprechen sie von „unverdientem Vermögen“: Als ob das Geldgeschenk mit einem moralischen Makel behaftet wäre, weil der Beschenkte für seinen Vermögenszuwachs nichts geleistet hat. So sehr hat sich die Leistungsgesellschaft und das ihr zugrunde liegende Prinzip der absoluten Meritokratie inzwischen als einzige akzeptable Rechtfertigung von Vermögenszuwächsen bei uns eingenistet.
Macht Ungleichheit unglücklich?
Flankierend melden sich neuerdings auch Ökonomen zu Wort, die herausgefunden haben wollen, dass Ungleichheit die Menschen unglücklich macht. Weil immer mehr Volkswirte sich auch für das Glücksempfinden der Leute zuständig erklären, halten sie Ungleichheit für einen unerträglichen Zustand, den es, wenn schon nicht abzuschaffen, so zumindest zu lindern gilt. Als ob sie sich zusätzlich munitionieren müssten, wollen die Ökonomen auch noch den Beweis führen, dass größere Ungleichheit das Wachstum beschädigt. Dahinter steht der Gedanke, dass jene, die weniger Geld haben als andere, durch ihr Schicksal demotiviert werden. Sie würden mehr leisten, hätten sie Zugang zu ihren wahren Fertigkeiten, was ihnen mehr Einkommen und der Gesellschaft einen größeren Wohlstand bescheren würde.
Karrt man all die viele Unzufriedenheit mit der Ungleichheit zusammen, nimmt es nicht Wunder, dass Ungleichheit inzwischen als eine fürchterliche Ungerechtigkeit gilt, die bekämpft werden muss. Die Instrumente sind immer die gleichen: Nehmt den Reicheren und gebt den Ärmeren. Umverteilung soll nach Auffassung der Egalitaristen das wirksamste Mittel zur Herstellung von Gerechtigkeit sein. Darin sind sich alle einig. Sie unterscheiden sich allenfalls in der Einschätzung, wie konfiskatorisch der Zugriff auf das Eigentum der Reichen ausfallen darf. Aber sie treffen sich wieder in der Grundüberzeugung, dass der Zustand der Gleichheit nicht begründungspflichtig ist, jener der Ungleichheit indessen nicht begründungsfähig ist. Wo Ungleichheit war, muss Gleichheit werden, damit Gerechtigkeit herrscht.
Aufmarsch der humanitären Antiegalitaristen
Um so wohltuender ist es, dass sich da und dort subversiver Widerstand regt. Eine kleine, häretische Gruppe „humanitärer Antiegalitaristen“ – die sich mindestens so links verstehen wie die tonangebenden Egalitaristen – hat damit angefangen, die Beweispflicht umzudrehen. „Der fundamentale Irrtum des Egalitarismus liegt in der Annahme, es sei moralisch entscheidend, ob eine Person weniger ale eine andere hat, unabhängig davon, wie viel jeder von beiden hat“, schmettert der Philosoph Harry G. Frankfurt in einem demnächst erscheinenden Büchlein „On Equality“ („Über die Gleichheit“) dem Mainstream entgegen. Frankfurt, geboren 1929, war die meiste Zeit seines Lebens Professor an der Universität Princeton. Weil unscharfes Salbadern diesen Denker nervös zu machen pflegt, widmete er eines seiner bekanntesten Bücher dem Thema „Bullshit“. Vieles, was die Gebildeten heute über Gleichheit daher quasseln, würde Frankfurt gewiss auch Bullshit oder Humbug nennen.
Zwei von Frankfurts Einwänden gegen den Vorrang der Gleichheit sind besonders schlagend. Erstens entkräftet er die Meinung vieler, dass auch beim Geld das Gesetz das abnehmenden Grenznutzens gelte. Und er zeigt zweitens, dass die gute moralische Absicht der Egalitaristen am Ende moralisch unakzeptable Folgen in Kauf nehmen muss. Das Gesetz des abnehmenden Grenznutzens ist die jedermann bekannte Erfahrung, dass das vierte Bier lange nicht mehr so gut schmeckt wie das erste. Somit ist der Nutzen des ersten Glases höher als jener des vierten Glases, woraus die Freunde der Gleichheit die Berechtigung zur Umverteilung ableiten, denn dadurch würde sich der Gesamtnutzen aller Biertrinker erhöhen. Immer schon musste dieses vermeintliche Naturgesetz dafür herhalten, progressive Steuern zu legitimieren. Denn trifft es zu, freuen sich die Reichen über zusätzliches Geld weniger als die Armen, und tut es den Reichen weniger weh, wenn man es ihnen wegnimmt, während die Armen um so mehr Lust empfinden, wenn sie etwas kriegen.
Bei Geld, Sex und Kunst gibt es keinen abnehmenden Grenznutzen
Doch was beim Biertrinken passiert, muss nicht für das Geld zutreffen. Geld ist schließlich unbegrenzt verwendbar zur Befriedigung vieler Wünsche der Menschen. Wer kein viertes Bier trinken mag, freut sich gleichwohl über mehr Geld, mit dem er sich andere Konsumwünsche erfüllen kann. Es könnte sogar sein, dass man sich an mehr Geld immer mehr gewöhnt, so dass der Nutzen zusätzlichen Einkommens sogar noch steigt. Geld gehört – wie Sex oder der Genuss von Kunst – zu einer Gruppe von Dingen, von denen man nie genug kriegen kann, während das den Nutzen steigernde Erleben dabei sogar noch anwächst. Selbst wenn man diese Überlegungen nicht teilt, muss man zumindest anerkennen, dass die Selbstverständlichkeit der Formel „Gleichheit gleich Gerechtigkeit“ morsch wird.
Nicht anders geht es der moralischen Grundüberzeugung, wonach man einen Kuchen am besten in so viele gleich große Stücke teilt, wie Esser am Kaffeetisch sitzen. Das Kuchenmodell ist nämlich irreführend. Dazu stelle man sich ein Medikament vor, von dem ein Schwerkranker mindestens fünf Einheiten einnehmen muss, um zu überleben. Angenommen es gibt nun aber aus Gründen der Knappheit nur vierzig Einheiten dieses Medikaments, aber zehn gleich schwer Kranke, die auf es angewiesen sind, führt die Gleichverteilung dazu, dass keiner überlebt, während acht von ihnen gerettet würden, lässt man Zweie leer ausgehen. Womöglich wollen die Egalitaristen sich nur vor dieser moralisch schwer erträglichen Wahl drücken, wenn sie stur das Gleichheitsziel verteidigen?
Nicht die Herstellung von Gleichheit, sondern die Bekämpfung der Armut auf der Welt wäre den Schweiß der Edlen wert. Dass beides gerne verwechselt wird, ist der eigentliche Skandal: Als ob die Armen etwas davon hätten, dass man die Reicheren ärmer macht. Offenkundig ist der Treiber der Ungleichheitsbekämpfung der Neid; der Treiber der Armutsbekämpfung hingegen ist das Mitleid. Lässt sich Mitleid in marktwirtschaftliches Wachstum übersetzen, weicht die Armut. Wer es nicht glaubt, soll sich in China umsehen.
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