Antwortversuche auf die Frage „Wie wird man links?“
Von Rainer Hank
Wie wird man eigentlich links? Die meisten Menschen sind jung, wenn sie links werden. Und wenn sie älter sind, sind viele von ihnen nicht mehr links. Das hängt nicht nur mit dem viel zitierten und heimtückischen Satz zusammen, dass, wer mit zwanzig nicht links sei, kein Herz habe, wer es aber mit vierzig immer noch sei, keinen Verstand habe. Sondern es hängt auch an den prägenden Erfahrungen, die man als Jugendlicher macht.

Der Kollege Nikolaus Piper von der Süddeutschen Zeitung hat jüngst in einem Essay mit dem schönen Titel „Ich bin so frei“ über sein Linkssein berichtet: Es war eine Melange aus Lektüre der in den fünfziger und sechziger Jahren beliebten Halbstarken-Literatur (Jack Kerouac „On the road“) mit Che-Guevara-Romantik und dem Traum von einer langen Fahrt im Greyhound-Busse durch die Weiten der USA. Bemerkenswert daran ist, dass das Linkssein damals viel mehr mit einer diffusen Sehnsucht nach Freiheit und Befreiung zusammen ging als mit dem heute geläufigen Pathos von Gleichheit und Gerechtigkeit. Zwar, so berichtet Piper, sei er abstrakt damals, wie die meisten, für die Verstaatlichung der Wirtschaft gewesen. Er fügt allerdings hinzu: „Mir wollte von Anfang an nicht einleuchten, was gewonnen gewesen wäre, hätte man dem netten Herrn Kressin aus unserem Kirchenchor seine Maschinenfabrik weggenommen.“
Hans Werner Sinn war ein Falke
Auch der Münchner Ökonom Hans-Werner Sinn, Chef des Ifo-Instituts, hat sich jüngst als Ex-Linker geoutet. Anlässlich seiner Abschiedsvorlesung vor großem Auditorium in München, die nachzuhören nicht genug empfohlen werden kann, gab Sinn einen Rückblick auf ein halbes Jahrhundert Zeitgenossenschaft und erwähnte als Urszene seines Linksseins die Zugehörigkeit zu den „Falken“ in einem kleinen Dorf bei Bielefeld in den frühen sechziger Jahren. Die Falken sind ein eigenständiger deutscher Kinder- und Jugendverband, der aus der sozialistischen Arbeiterjugendbewegung hervorgegangen ist. Aber auch hier war es nicht irgendeine Theorie früher Marx-, Engels- oder Bebel-Lektüre, die den jungen Hans-Werner zum Linken hätte werden lassen, sondern die Erfahrung der Gemeinschaft, die man bei den Falken vor allem in den sommerlichen Zeltlagern machen konnte. Sinn, so erzählt er uns wenige Tage später am Rande eines Interviews, war nicht nur „Falke“, sondern als junger evangelischer Christ auch Mitglied des “Christlichen Vereins Junger Männer“ (CVJM) und auch hier waren es abermals die Zeltlager, von denen er heute noch schwärmt: „Die hatten ein Angebot, dem man sich gar nicht verschließen konnte.“
Die Bedeutung der Zeltlager für die Biographie junger Männer hat die Soziologie bisher sträflich übersehen (jedenfalls weist der Katalog der Deutschen Nationalbibliothek keine einschlägige Monographie dazu aus). Bündische Erfahrungen der Jugendbewegung seit der Jahrhundertwende um 1900 vermischen sich dabei mit christlichen, sozialistischen, auch völkisch-nationalen Gemeinschaftsgefühlen. Das Stadtkind sollte die unverfälschte Natur kennen lernen, Freiheit in guter Luft und unter Gleichen gleichen Alters erfahren. Man trug „Kluft“, saß am Lagerfeuer und sang schmissige Lieder von Wildgänsen, die durch die Nacht rauschen und Treue zu Gott und den Menschen.
Was die Zeltlagererfahrung im Kern mit dem Sozialismus verbindet, kann man am besten in der letzten Schrift des großen marxistischen Philosophen Jerry Cohen nachlesen. „Sozialismus – warum nicht?“ ist das kleine Büchlein überschrieben. Der Essay beginnt mit einer schwärmenden Beschreibung eines Zeltlagers, wo es keine Hierarchien gibt, keine Herr-Knecht-Verhältnisse, wo alles allen gehört und jeder nach seinen Bedürfnissen das bekommt, was er braucht. Für Cohen ist das Zeltlager in der Tat die Urszene der sozialistischen Gesellschaft der Gleichen. Gemeinsam wird alles geteilt; jeder trägt seinen Teil zum Gelingen des Ganzen bei. Im kleinen Kreis ist dieses Leitbild nicht nur Gebot wechselseitiger Anteilnahme aneinander, sondern auch Ausdruck kluger und effizienter „betriebswirtschaftlicher“ Organisation. Es ist eine Welt, in der wir einander nie als Mittel zum Zweck benutzen, sondern uns stets um unserer selbst willen anerkennen. Die einen kochen eben, die anderen spülen.
Zeltlager und Urchristentum
Eine Ferienfreiheit oder das Zusammenleben in der Familie wie eine Marktwirtschaft zu organisieren, käme niemandem in den Sinn. Aber soll man daraus schließen, dass man umgekehrt die Gesellschaft als Ganze wie eine Ferienfreizeit einer egalitären Gemeinschaft organisieren kann? Das ist offenbar die Utopie des Sozialismus. Es ist auch die Utopie des Urchristentums, wo es in der Apostelgeschichte (Apg 2,44f) heißt: „Alle Gläubiggewordenen aber waren beisammen und hatten alles gemeinsam; und sie verkauften die Güter und die Habe und verteilten sie unter alle, je nachdem einer es nötig hatte.“
Nikolaus Piper, Hans Werner Sinn und auch der Autor dieses Blogs haben sich irgendwann und zu unterschiedlichen Zeiten vom Linkssein verabschiedet. Explizit oder implizit war es der Philosoph Friedrich A. Hayek, der dazu den philosophischen Anlass gab: Offenbar sind dezentrale spontane Ordnungen einer planwirtschaftlichen Ökonomie oder einer urchristlich-sozialistischen Utopie in der Praxis überlegen – jedenfalls dann, wenn es um eine Volks- oder gar die Weltwirtschaftsordnung geht. Das war die Offenbarung Hayeks. Hätte er Recht – wofür vieles spricht – dann wäre es der entscheidende Fehlschluss der Linken, ihre frühe Zeltlagererfahrung aus romantischer Nostalgie universalisieren zu wollen.
Jerry Cohen (1941 bis 2009), ein kanadischer Jude, hätte das vehement bestritten. Sozialismus ist nicht nur wünschbar, sondern auch machbar, meinte er. In seiner Kindheit hat er regelmäßig und gerne das zionistisch-sozialistische Sommercamp „Kinderland“ besucht. Später ist er Philosoph geworden und hat bis zu seinem frühen Tod im Sommer 2009 in Oxford gelehrt (übrigens als Nachfolger des berühmten liberalen Denkers Isaiah Berlin). Da war auch seine Neigung für das wilde Zeltlagerleben in der freien Natur längst der Sympathie für die bürgerlichen Annehmlichkeiten der intellektuellen Eliten in Oxford gewichen. Aber – anders als das Klischee von Herz und Verstand es will – hat Cohen auch nach dem Ende des Kommunismus an der sozialistischen Utopie festgehalten und, so erzählen seine Studenten, gerne, seine Vorlesungen mit dem Absingen von Arbeiterliedern begonnen. „Jeder Markt“, so schließt er seinen Essay mit einem Zitat Albert Einsteins, „ist der Versuch der Menschheit, die räuberische Phase menschlicher Entwicklung zu überwinden. Jeder Markt ist ein räuberisches System. Unser Versuch, die Räuberei zu überwinden, ist bis jetzt gescheitert. Ich glaube nicht, dass Aufgeben die richtige Lösung ist.“
Unser Blog „What’s left“ ist nun bald ein Jahr alt. Aber veraltet ist er noch lange nicht. Eine Weile machen wir noch weiter. Wie Jerry Cohen glaube auch ich, dass jetzt aufgeben nicht die richtige Lösung ist.
Das Buch zum Blog von Rainer Hank gibt es hier:

Gescheitert??
Die Zeltlagerutopisten versagten damals kläglich … konstatiert Herr Knappmeyer. am 29.12. Ich frage zurück: Welche „Zeltlagerutopisten“ meinen Sie, Herr Knappmeyer?
Und ganz allgemein – eher in Richtung von Herrn Hank gefragt: Von welchen Zeltlagern ist hier die Rede?
Wenn – da Herr Sinn in seinen Erinnerungen darauf verweist – die Zeltlager der Sozialistischen Jugend gemeint sind, dann sind diese – im Kontext des an dieser Stelle Geschriebenen – doch gründlich missverstanden worden.
Vielleicht mangels eigener Anschauung und Praxis?
Zeltlager, in denen „es keine Hierarchien gibt, keine Herr-Knecht-Verhältnisse, wo alles allen gehört und jeder nach seinen Bedürfnissen das bekommt, was er braucht“ waren und sind die Falken-Zeltlager nicht, nie gewesen. Natürlich „Herr-Knecht-Verhältnisse“ hat es hier deshalb nicht gegeben, aber romantisch-idealistische Versuche, sich aus dem Alltag der Kinder bzw. Zeltlagerteilnehmer/innen zu lösen und voraussetzungslos „ideale Welten“ zu schaffen, sind diese Zeltlager nicht.
Am Anfang stand eine Idee, ein programmatischer Begriff der (… aber nur bei oberflächlicher Betrachtung) dazu verleitet, dies anzunehmen: Der Begriff des „Neuen Menschen“ nämlich, der zuerst von den österreichischen „Kinderfreunden“ und hier insbesondere von dem philosophischen Kopf des Austromarximus Max Adler ausformuliert wurde (Max Adler und andere waren Lehrer an der „Kinderfreundeschule“ in Schloss Schönbrunn).
Eine Vision – gewiss, deren Umsetzung aber keineswegs weltfremd, sondern sehr konkret und alltagsbezogen erfolgte.
„Kinderrepubliken“ wurden diese Zeltlager genannt und sie waren gemeint als Einübung in demokratisch-sozialistische Verhaltensweisen auf kindgemäße Weise:
Es ging um Mitwirkung der Kinder an der Gestaltung der Zeltlager selbst – eine spielerische Form der Mitwirkung, die die Kinder und Jugendlichen auf tatkräftiges Engagement in der parlamentarischen Demokratie orientieren sollte: Es wurden Zeltsprecher und Bürgermeister gewählt und Lagerparlamente gebildet.
Es waren wirklich große Veranstaltungen mit mehreren Hundert Teilnehmer/innen. Die erste „Kinderrepublik“ fand 1927 auf der Rheininsel Namedy mit über 2.000 Kindern statt.
„Das Hauptanliegen der „Kinderrepubliken” leitete sich bereits aus deren Namen ab: Es ging in erster Linie um eine konsequente Erziehung zur Demokratie. Soweit möglich, sollten die Kinder selbst über die Gestaltung des Lebens in „ihrer” Republik entscheiden. Angesichts einer Größe von bis zu 2.500 Teilnehmern waren eine „Verfassung” und daraus resultierend Dorf- und Lagerparlamente notwendig, die es nach entsprechendem Wahlkampf zu wählen galt und deren Beschlüsse für alle, auch für die erwachsenen Helfer, bindend waren. Eine große Rolle spielte in den Republiken stets auch der Gedanke von Koedukation und Gleichberechtigung. So gehörten etwa 1930 dem vierköpfigen „Vorstand” der Kinderrepublik auf der Insel Namedy drei Mädchen an, wobei die sich – so hob es ein Artikel in einer sozialdemokratischen Zeitung hervor – in den „Parlamentsaussprachen” durch „große Sachlichkeit und Geschicklichkeit” in der Argumentation ausgezeichnet hätten.“
https://www.jugend1918-1945.de/thema.aspx?s=5302&m=3445&v=5302
Nazidiktatur und Krieg zerschlugen diese Entwicklung, aber ich selbst habe in den 60er und 70er Jahren noch an Zeltlagern mit 600, 800 oder über 1.000 Kindern teilgenommen. Mein größtes war im österreichischen Döbriach mit fast 3.000 aus mehreren Ländern.
Lieder haben wir damals gesungen, die ihrer ihrer Zeit voraus waren:
„Birkengrün und Saatengrün: Wie mit bittender Gebärde hält die alte Mutter Erde, daß der Mensch ihr eigen werde, ihm die vollen Hände hin, ihm die vollen Hände hin.„
(aus „Wenn wir schreiten Seit’an Seit’“)
Ein frühes ökologisches Statement der Arbeiterjugendbewegung
Gescheitert, Herr Knappmeyer? Das käme auf die Maßstäbe für Erfolg oder Misserfolg an, für falsch oder richtig. Ja – darüber müssten wir reden. Aber die Geschichte ist ja noch nicht zu Ende …
Wer sich näher für das Zeltlager als Element sozialistischer Erziehung (im Kontext der deutschsprachigen Arbeiter/jugend/bewegung) interessiert, der sei verwiesen auf das Archiv der Arbeiterjugendbewegung in Oer-Erkenschwick, dessen Jahrestagung Ende dieses Monats sich mit den Zeltlagern der Internationalen Falken-Bewegung der vergangenen 60 Jahre beschäftigt
https://www.arbeiterjugend.de
https://www.jugend1918-1945.de/thema.aspx?s=5303&m=3445&v=5303
https://www.jugend1918-1945.de/thema.aspx?s=5302&m=3445&v=5302
https://stadt-relaunching.de/Brandt.html
Bei dieser Gelegenheit „DANK!!“ an Herrn Hank für den Blog … und bitte folgen Sie Jerry Cohen: Nicht aufgeben – auch wenns sooo sehr viele nicht zu interessieren scheint
Ein notwendiges Selbstgespräch auch diese Kolumne, sie würde fehlen, gäbe es sie nicht -
und spricht eben auch vom Scheitern, welches alle Suche stets begleitet.
Darin liegt ja auch des Lesers Sympathie mit Hank begründet; wie wohl der so täte, als ob er von sich selbst als ein weitgehend bereits Gefunden-Habender glauben würde, läsen es ältere und jüngere Leser sehr wohl anders.
Im Übrigen kann aber Weiterentwicklung sehr von auch vom Ferienlager zurück ins Ferienlager führen – und dann bei Bedarf erst darüber hinaus?
Und sagte auch viel über die Herkunftsfamilien damals in ihrer Zeit aus, dass eben doch ein anderes, größeres Kollektiv – “Gruppe”? – unbewußt eine kluge Weiterentwicklungsrolle und kulturelle Selbstfindungsaufgabe übernehmen müßte -wäre männliches Testosteron endlich vollkommen ohne den Mechanismus vorstellbar? (Erinnert daran, wie manche Oberkommandierende heute noch von “Vietnam” sprächen.)
Und die FAZ urteilte evtl. einmal mehr so eng, wie sie inzwischen leider selbst unbemerkt geworden wäre – oder sich selbst “sicherheitshalber” “freiwillig” so eng führte?
Man google evtl. “Sudan. Heimkommen zwischen Traum und Wirklichkeit.
Aug 29, 2015 • 15:08 – Mehr als fünf Jahre liegen hinter uns, fünf Jahre unterwegs, fünf Jahre auf fünf Kontinenten, geprägt von ständig Neuem. Täglich neue Orte, neue Menschen, neue Herausforderungen. Jeden Tag die Auseinandersetzung mit Unbekanntem und Unbekannten. Eine Auseinandersetzung im positiven Sinn, die bereichert, die lehrt und den Blick schärft. Aber auch eine Auseinandersetzung die Energie zehrt, die fordert und manchmal überfordert. In Teilen wechseln wir die Länder wochenweise. Mit jedem Land, oft sogar mit jeder Region, manchmal alle paar Kilometer ein anderer Kulturkreis, andere Sprachen, andere Religionen, andere Sitten, andere Verhaltensweisen bei den zahlreichen persönlichen Begegnung mit 10, 20, 50 oder 200 Menschen tagtäglich.”
Denn das wäre was? Das Zeltlager als Reise? Und wer gewönne, verlöre, nähme, bekäme entlang solcher Lebensverwendung? Nein, solche nutzen die Freiheit zugleich konservativ und progressiv und freiwillig und gebunden und eben garnicht – und wären eben so gesehen nie “weg” (!).
Nein, FAZ und Hank nur und erst nutzten – und zwar an der realen Weltzeit vorbei (!?) – ihr Wissen zur – angeblich nur? – überlegenen Aus/Verbreitung “bipolar”-einseitiger Sichtweisen und Möglichkeiten? Als wäre man/jeder gezwungen unfrei entlang gemachter hankscher Vorgaben wählen oder sich früher oder später entscheiden zu müssen, so wenig also nur – ” als gäbe es nur ein besseres von a. nach b.”? Und nichts sonst? Außer solch einseitiger Nützlichkeitserwägungen? Wo hier aber die Freiheit des blühenden Unkrauts?
Und wie wären Gespräche auch mit solchen, die zwar auch mit im Zeltlager waren, aber das Gebotene dort sowieso immer auch nur mit Notwendigkeit z.B. durch die Brille auch angelsächsisch gefärbter literarischer Selbstironie sahen, zu werten? Stichwort “Mit Thomas Mann und Bert Brecht nie ins Zeltlager gehen, dafür aber ein kleines später sinnlos vor dem Ausschuß für unamerikanische Umtriebe eingeladen sich finden”?
… denn der Ausschuß für unamerikansiche Umtriebe war im Kern nämlich auch eine Zeltlager höchst kleinbürgerlicher Natur, Lösung: “Keine Zeltlager, keine falschen Kleingeister, so einfach” – das aber doch höchstens auch nur als die triviale Lösung einer gesellschaftspolitischen wie persönlichen Einheitengleichung zu sehen, nicht? Stichwort: “Geist ist immer mehr als solche Zeltlager, aber dem wahren Geiste schadete eines doch wohl auch nicht?”
Evtl. auf Youtube “Thomas Mann, Deutsche Hörer 1” anhören. Mal sehen, wann die FAZ DAS der Allgemeinheit als DIE NORMALE Freiheit (in sozialer Verantwortung, sicher) für Deutschland IN JEDES Stammbuch schriebe? Sicher erreichbar.
Und der Geist, aus dem Thomas-Mannsches Handeln entsprungen wäre, wäre nur sein eigener gewesen? Immerhin TM einen umgekehrten pers. Entwicklungsweg gegangen, Kind seiner Zeit. Bildung macht unfrei.
Antithese:
Jerry Cohen ist keine Widerlegung des „Klischees von Herz und Verstand“, sondern eine Bestätigung. Entscheidend ist, was mit „Verstand“ gemeint ist.
Wenn damit Intelligenz gemeint ist, ist es wirklich ein „heimtückisches Klischee“. Aber wenn wir sagen, ein Mensch hat Verstand, ist verständig, dann meinen wir nicht seine Intelligenz. Intelligenz schützt bekanntlich nicht vor Dummheit. Einsteins Diktum, dass zweierlei unendlich sei, das Weltall und die menschliche Dummheit, er sich aber beim Weltall nicht ganz sicher sei, schloss sicher die Dummheit der Intelligenten ein. Und er liefert selbst ein Beispiel mit der zitierten Voreingenommenheit seines Marktverständnisses. Der Mensch hat also nicht entweder Verstand, oder er hat keinen. Es gehört seit Menschengedenken zur menschlichen Natur, dass der Mensch den Verstand ausschalten kann bzw. erst garnicht einschalten, wenn er seinen Wünschen und seinem Wunschdenken im Wege ist.
Ich denke, dass der Satz über die Rolle von Herz und Verstand für die linke Weltanschauung sagen will: Erwachsen werden heißt, sich selbst und seinen Selbstbetrugstechniken auf die Spur zu kommen, Wunschdenken und die Rationalisierung von Irrationalem zu erkennen und zu minimieren.
Wie man links wird?
Man braucht nicht mehr die Phänomenologie des Linksseins, um das globale Wohlstandsgefälle beispielsweise als auslösendes Element des Terrorismus zu begreifen. Und schon gar nicht, um zu verstehen, dass hauptsächlich die Ungleichheit der Individuen in der Neuzeit eben dieses Wohlstandsgefälle bewirkt. Ach was, schon immer. Die Frage ist nur, ob ‘wir’ es dabei bewendet sein lassen. Ob wir das Wohlstandsgefälle durch die Konkurrenz von Ungleichen weiter exzessiv wachsen lassen mit der Konsequenz, dass wir daran über kurz oder lang alle zugrundegehen. Oder ob die Eliten bereit sind, den Rest der Menschheit – in ihren Augen – weiter durchzuschleppen.
Zeltlager hatten nicht das Programm, alle Menschen zwangszubeglücken
Richtig! Geben Sie Ihr Blog nicht auf, bevor nicht (fast) alles gesagt ist.
Zum Zeltlager-Sozialismus passt, finde ich, „Unser politischer Common Sense – Politik als Folklore“ von Nick Srnicek und Alex Williams in der FAS.
Und dazu passt die Feststellung: GRÜN sein, heißt nicht erwachsen werden.
Die Zeltlager und die erste (juden)christliche Gemeinde unterscheiden sich vom Sozialismus entscheidend dadurch, dass ihr Programm nicht die Zwangsbeglückung der Menschheit war. In der aktuellen deutschen Softversion sind an die Stelle der Stalinistischen Methoden und ihrer abgeschwächten Varianten Bevormundung, Diskriminierung (z. B. von Eltern, die ihre Kleinkinder nicht staatlichen Kollektiven überlassen wollen) und Benachteiligung durch die Institutionen getreten, durch die die Linken marschiert sind.
Petrus sagte zu Hananias (nach der Neuen Genfer Übersetzung): „Niemand hat dich gezwungen, das Land zu verkaufen; es war ja dein Eigentum! Und nach dem Verkauf stand es dir frei, mit dem Erlös zu machen, was du wolltest.“
Linke sind gnadenlose Antipluralisten, auch wenn sie das Wort gern im Munde führen, solange es ihren Zwecken dient.
Die israelischen Kibbuzim sind vielleicht der wichtigste und erfolgreichste Versuch von freiwilligem Sozialismus. Die kollektive Betreuung und Erziehung der Kinder ist allerdings kläglich gescheitert. Der Sozialismus wird immer an seinem falschen Menschenbild scheitern.