Zweiter Klasse

Zweiter Klasse

„Wenn du zur Arbeit gehst am frühen Morgen, wenn du am Bahnhof stehst mit deinen Sorgen, da zeigt die Stadt dir asphaltglatt im Menschentrichter

Hindi-Handy

| 9 Lesermeinungen

Fleißiges Arbeiten im ICE wird zuweilen durch Nebengeräusche unterbrochen. Spekulationen über Art und Quelle des Geräuschs können jedoch zu Verwechslungen führen.

Viele Menschen, die tagtäglich den ICE nutzen sind einfach wahnsinnig fleißig. Letztens hatte ich mal wieder solch einen Sitznachbarn. Direkt nach dem Einsteigen stellte er seine Rückenlehne senkrecht, strich seine Krawatte glatt, erweckte sein Notebook aus dem Ruhemodus und plazierte seinen Kaffeepappbecher auf der kleinen Fläche zwischen Tastatur und Touchpad. Quasiakrobatisch hangelte er dann seine Hände am Kaffeebecher vorbei zur Tastatur und tippte völlig unfallfrei gefühlte 200 Anschläge pro Minute in sein Arbeitsgerät.

„Ich kann auch fleißig sein“, dachte ich mir und holte voller Energie eine dicke Arbeitsmarktstudie aus der Tasche, die ich die Tage schon immer mal durchlesen wollte. Konzentrieren konnte ich mich nicht. Denn irgendwie war da dieses Geräusch im Hintergrund. Musik. Leise zwar, aber durchaus ablenkend. Ein bisschen quietschig. Bollywood.

Mein Sitznachbar hatte es auch gehört. Er stoppte die Tipperei, lauschte und fragte dann: „Ein Kinderfilm?“ – „Nein“, sagte ich. „Ein Hindi-Film.“ – „Was? Über diese Länge? Das ging vorhin schon die ganze Zeit so.“ – „Ja, ja“, sagte ich. „Die dauern doch immer Stunden.“ – „Auf dem kleinen Display?“ Mein Sitznachbar schaute verständnislos drein. Ich auch.

Dann verstand ich: Der Mann meinte einen Handy-Film. „Nicht HANDY“, sagte ich. „HINDI. Bollywood.“ – „Ach so.“ Der Krawattenmann lauschte noch mal. „Stimmt“, sagte er dann, und fuhr fort,  mit seinem komplizierten Greif-um-den-Kaffee-herum-Griff in die Tastatur zu hämmern. „So kann man doch nicht arbeiten“, murmelte er dabei. Im Hintergrund dudelte es.

Als es Zeit war auszusteigen nahm ich mir vor, im Vorbeigehen die Quelle der Hindi-Musik ausfindig zu machen. Und tatsächlich: Etwa fünf Sitzreihen weiter saß ein kleiner Mann mit einem riesigen Kopfhörer auf den Ohren. Die Rückenlehne hatte er gemütlich zurückgestellt, die Krawatte gelockert, sein Fuß wippte fröhlich im Takt. Und in der Hand hielt er ein winziges Handy auf dessen Display Shah Rukh Khan und seine Schauspielerkollegen tanzten.


9 Lesermeinungen

  1. Paulchen sagt:

    Nette Frau Bös,
    Sie haben...

    Nette Frau Bös,
    Sie haben mein Mitgefühl, aber bitte was sind Hindifilme
    und wo liegt Bollywood?
    Herzlichst P.

  2. tberger sagt:

    <p>Was Sie auf Ihren...
    Was Sie auf Ihren Bahnfahrten – für die ich Ihnen im übrigen noch alle Gute wünsche, ich freue mich als Vielfahrer schon sehr auf weitere Geschichten – noch bemerken werden, ist die […] schlechte Angewohnheit […], laut Musik aus Handies zu hören.
    Nicht über Kopfhörer, was schon ärgerlich genug sein kann, sondern über Lautsprecher. Da können Sie mit Ihrem Freund der überraschend auftretenden Tanzeinlagen noch glücklich sein; Sie werden diese Gesellen aber auch noch kennenlernen.
    Ich bin mittlerweile dazu übergegangen, längere Fahrten nur noch in den hervorragenden Ruheräumen in der ersten Klasse zu verbringen. Lohnt sich auf jeden Fall, das ist das beste, was die Bahn seit langem eingeführt hat. Und für den äußersten Notfall wohnen in meinem Notebook noch zahlreiche MP3s, so daß sich levantinischer HipHop mit Kopfhörern und Eumir Deodato schnell in den unhörbaren Hintergrund verbannen läßt.
    Ich habe allerdings schon mehrfach überlegt, leistungsfähige Bose-Aktivlautsprecher mitzunehmen, und lautstarke Mitreisende mit Pucchini zu züchtigen. Vielleicht trauen Sie sich das ja mal 🙂
    Nochmals allzeit gute Fahrt, und mögen die Streckenstörungen immer hinter Ihnen auftreten
    Thomas Berger

  3. Raffy Ryff sagt:

    <p>@Paulchen:...
    @Paulchen: Bollywoodfilme sind 4 stündige (h)indische Schmachtfetzen mit viel Musik, noch mehr Tanz, unerträglichen Romanzen und wackelnden Köpfen. Unbedingt sehenswert.
    Gehen Sie ins Kino und tauchen Sie ein. Sie werden es nicht bereuen.

  4. Muriel sagt:

    <p>Bollywood-Musik? Das ist...
    Bollywood-Musik? Das ist doch gar nichts. Ich saß gestern zwei Stunden lang mit der Frauenreisegruppe Aus Der Hölle in einem Großraumabteil. Ich ahnte schon, dass es ein Fehler war, Platz genommen zu haben, als ich das vielstimmige viel zu laute Lachen hörte. Und als dann irgendein Mobiltelefon begann, die ersten Takte von „Ti amo“ zu spielen und alle laut und schief mitsangen, wusste ich, dass die kommende Reise sehr, sehr hart werden würde.

  5. offtopic sagt:

    Liebes Paulchen,
    man kann so...

    Liebes Paulchen,
    man kann so etwas auch im Internet nachschlagen („googeln“), wenn man es denn so gar nicht weiß…

  6. Cao Ky sagt:

    Geschilderte Erlebnisse sind...
    Geschilderte Erlebnisse sind der Grund, warum ich grundsaetzlich keine Sitzplatzreservierung mehr kaufe. Man hat dann doch mehr Freiheit, sich einen besseren Platz zu suchen. – Eine Idee waere die Einfuehrung des Bordbibliotheksabteils. Da darf dann wirklich weder geschwaetzt, Musik gehoert noch telefoniert werden … eben wie in einer Bibliothek. So ein Abteil wuerde sich wohl schon einiger Beliebtheit erfreuen, und wenn der Platz da 1-2 Euro mehr kostet (um die Nichtnutzer fernzuhalten), waere das immer eine gute Investition. In diesem Sinne Gute Fahrt!

  7. Muriel sagt:

    @Cao Ky: Im ICE zumindest gibt...
    @Cao Ky: Im ICE zumindest gibt es ja eigentlich schon die Ruhebereiche. Die nimmt bloß leider niemand Ernst.

  8. Cao Ky sagt:

    @Muriel: Genau, das ist das...
    @Muriel: Genau, das ist das Problem: das kleine „Shshsh“ Icon wird gerne uebersehen. Auch kann man im Internet nicht die Option Ruhebereich auswaehlen, sollte man einen Platz reservieren wollen. Da muss man auf Glueck hoffen, einen Platz mit ruhigen Nachbarn zu finden — oder ansonsten eben die Landschaft anschauen waehrend ein Alleinunterhalter am Handy oder gegenueber den Mitreisenden schwadroniert. Solange es sich nicht um die medizinischen Details der letzten Erkrankung handelt geht es ohne sofortiges Umsetzen.

  9. bigbug21 sagt:

    Gegen solche nervigen...
    Gegen solche nervigen Geräusche helfen zuverlässig Noise-Cancelling-Kopfhörer. Spätestens in moderater Lautstärker gehörter Musik geht darin jedes Handygespräch, jeder Knopf im Ohr und sogar die allzuoft nervigen Standarddurchsagen des Bahnpersonals unter.

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