Ich muss es ehrlich gestehen: Ich bin nicht immer eine produktive ICE-Fahrerin. Es gibt ja Mitreisende, die ziehen noch nicht einmal ihren Mantel aus, bevor sie beginnen, hektisch in ihren Laptop zu tippen. Mir hingegen passiert es hin und wieder, dass ich statt zum Arbeitsgerät zu einem Roman greife. Das mag in anderen Zügen gang und gäbe sein. In meinem ICE kann es aber durchaus zu kritischen Blicken der fleißigeren Mitreisenden führen. Gleichsam, als hätte man den Roman mitten im Büro während der Arbeitszeit aufgeschlagen.
Der beste Zugfahrer-Roman ist „Fundbüro“ von Siegfried Lenz. Nicht nur, weil er zum größten Teil am Bahnhof spielt. Sondern auch deshalb, weil er dem Reisenden ermöglicht, trotz 300 Stundenkilometer schneller Fahrt in eine Art nostalgische Bahnwelt einzutauchen. In eine Welt, in der die Züge noch langsamer fuhren, in der statt i-Phones noch die Telefonzelle am Bahnhof benutzt wurde, in der man noch mit D-Mark zahlte – und in der man ins Fundbüro ging, wenn man im Zug etwas verloren hatte.
Der Protagonist des Romans, Henry Neff, arbeitet in solch einem Fundbüro. Dort sammelt er alles, was die Menschen im Zug liegen gelassen haben. Vom Verlobungsring über den Hockeyschläger bis hin zu einem Vogelkäfig inklusive Dompfaff. In Henry Neffs Fundbüro gibt es meterlange Regale, in denen die Fundsachen wochenlang aufbewahrt werden. Die Kollegen sind freundlich. Sie füllen mit der Hand Formulare aus und schreiben ihre Briefe mit einer mechanischen Schreibmaschine.
Fasziniert von Henry Neffs bunter Fundbüro-Welt stieg ich eines Abends am Kölner Hauptbahnhof aus und wollte es wissen: Gab es so etwas heutzutage noch? Ein Fundbüro mit bunten Regalen und freundlichen Mitarbeitern, die nach längst verlorenen Sachen kramen und einen „Eigentumsbeweis“ verlangen, wenn sich ein angeblicher Besitzer meldet? Ich musste eine Weile suchen und schließlich eine Mitarbeiterin am „Info-Point“ nach dem Fundbüro fragen. „Ganz hinten in der Ecke neben dem Douglas-Laden“, erklärte die Dame und tatsächlich: Dort war ein schlichter blau-grauer Tresen hinter dem ein dunkelblau gekleideter Bahnangestellter stand und mir recht freundlich einen guten Abend wünschte.
Ich meldete einen schwarzen Schal als verloren. Die Geschichte stimmte, tatsächlich hatte ich vor mehreren Wochen einen schwarzen Schal im ICE vergessen. Von der Romanhandlung angestachelt, sah ich den Fundbüro-Mitarbeiter erwartungsvoll an: „Ich bin irgendwie erst jetzt auf die Idee gekommen, nach dem Schal zu fragen“, sagte ich. Der uniformierte Mann sah mich an als sei ich ein wenig verrückt, erklärte jedoch geduldig, dass das Kölner Fundbüro alle Sachen nur eine Woche lang behalte und anschließend ins zentrale Fundbüro nach Wuppertal schicke. Dieses wiederum sei am besten per Telefon erreichbar. Er gab mir einen Papierschnipsel mit einer Telefonnummer. Damit war die Sache für ihn erledigt. Ich war enttäuscht. Das war nicht das Fundbüro aus meinem Roman. Keine bunten Regale, keine emsigen Archivare, keine antiquierten Schreibmaschinen. Und auch das Mitleid des Fundbüro-Mitarbeiters hielt sich in Grenzen.
Um meine Enttäuschung nicht allzu lange dauern zu lassen, kramte ich in der Straßenbahn schnell den Roman aus der Tasche. Bald war die Welt wieder in Ordnung. Henry war so freundlich und nett wie immer. Ein Mädchen bekam seine verlorene Flöte zurück und ein Herr seine Aktentasche. So sehr in Ordnung war die Welt, dass ich meine Station verpasste und mit dem Buch auf den Knien noch einen kleinen Straßenbahn-Umweg fuhr. Immerhin: Hier hatte ich dann doch noch eine Bahn gefunden, in der ich lesen konnte, ohne mir strafende Blicke von den Mitreisenden einzufangen.
<p>"Fundbüro" ist auch einer...
„Fundbüro“ ist auch einer meiner Lieblingsromane für die Bahn. Als herkömmlicher Regionalexpresspendler zwischen Köln und Düsseldorf kommt man zu der ein oder anderen Lesestunde – oft auch unfreiwillig bei Verspätungen.
Meine Begegnung mit der Neuzeit der DB-Fundsachenrückgabe holte mich ebenfalls in die harte Realität zurück: Ich vergaß geistesabwesend, dass ich wegen einer Dienstreise zusätzlich zu meinem Rucksack einen Koffer dabei hatte. Erst in der Straßenbahn merkte ich dass ich den Koffer im Zug vergessen hatte und fuhr zum beschriebenen Fundschalter im Kölner Hauptbahnhof zurück. Die Bediensteten dort versuchten einen Schaffner des Zuges telefonisch zu erreichen, was ihnen nicht gelang. Auf meine Beschreibung hin erntete ich ein freundliches Lächeln, wobei es wohl eher ein Auslächeln war: Der Koffer sei schwarz, klein und irgendein No-Name-Produkt… Ich rief also die empfohlene Hotline der DB (für eine natürlich hohe Gebühr) an und meldete meinen Koffer als verloren. Die Dame am anderen Ende der Leitung war allerdings nicht davon überzeugt, dass mein Koffer unbedingt wieder zu mir zurückkehren müsse und vertröstete mich auf einen Anruf in den nächsten zwei bis drei Wochen. Nach dem Motto „Hilf Dir selbst“ fragte ich im Fundbüro, ob der Zug vielleicht auf seinem Rückweg aus Aachen (schließlich war es ein Pendlerzug) in Köln vorbeifahren würde. Die Bahnbediensteten fanden diese Idee amüsant und ich erntete nur ein „Neeiinnn, gaaanz bestimmt nicht!“ Ich ließ allerdings nicht ab von meiner verwegenen Idee und wartete geduldig zwei Züge aus Aachen ab. Im dritten Zug endlich wurde ich fündig: Mein Koffer stand noch so wie ich ihn verlassen hatte zwischen den Sitzen. Kein Henry Neff hatte sich ihm angenommen, kein DB-Suchtrupp war unterwegs um ihn mir wieder zu bringen. Stolz ging ich zu den Angestellten des Fundbüros und meldete freudestrahlend meinen Fund. Außer einem irritierten und desinteressierten Blick ernetet ich jedoch keine Rekation – weder Lob noch Anerkennung oder vielleicht sogar Scham, dass ich es selbst besser konnte als die professionellen „Finder“. Manchmal ist es doch so einfach: Roman ist Roman und DB ist DB. Die harte Realität macht auch vor verlorenen Koffern und Schals keinen halt…
Als Niebahnfahrer finde ich...
Als Niebahnfahrer finde ich diese Welt unglaublich bizarr & fast reizvoll. Die haben wirklich (noch) Fundbüros!? Liebe Nadine Bös, bittebitte berichten Sie öfter von solchen Wunderorten der Eisenbahn!
Also ich habe mit dem Kölner...
Also ich habe mit dem Kölner Fundbüro eine hervorragende Erfahrung anzubieten: schnelle und freundliche Aufnahme meiner Suche und am nächsten Tag kriegte ich per Email den Hinweis wann ich meine Sachen (die gefunden waren) abholen könne, völlig hotline frei und auch mit einer Rückrufnummer, die nicht 0,12 oder mehr cent pro Minute kostet. Insgesamt muss ich auch sagen: die Bahn ist viel besser als ihr Ruf (geworden). Komplimnt für die gute Blog-Idee.
Damals, das...
Damals, das Reichsbahnfundbüro Friedrichstrasse – ein Schalter im Tunnelübergang zwischen S- und U-Bahn, zugänglich nur für West-Berliner.
Suche nach verlorenem Schirm. Frage des Reichsbahners:
„Welche Art? Knirps? Stock?“
„Stock.“
„Welche Farbe wollen sie denn? Schwarz, rot oder grün?“
„Grün.“
Er verschwindet im Lager und kommt mit einem grünen Schirm zurück. Zwar nicht mein verlorener, aber immerhin, ein Schirm in der Wunschfarbe.
Manche wurden dort Stammkunde.