Zweiter Klasse

Zweiter Klasse

„Wenn du zur Arbeit gehst am frühen Morgen, wenn du am Bahnhof stehst mit deinen Sorgen, da zeigt die Stadt dir asphaltglatt im Menschentrichter

Die Mutti ist tot

| 8 Lesermeinungen

An laut telefonierende Mitreisende im Zug habe ich mich beinahe schon gewöhnt. In der Regel wird dort Berufliches besprochen, das nächste Meeting geplant oder eine Anweisung an die Sekretärin durchgegeben. Letztens dagegen hatte ich eine Mitreisende, die ihren Gesprächspartnern eine durchaus traurige Mitteilung zu machen hatte. Und der ganze Waggon hörte mit.

Letztens stieg ich in einen relativ überfüllten ICE und suchte einen freien Platz. Ärgerlicherweise sah ich als erstes einen Zweiersitz, auf den jemand mehrere Taschen so drapiert hatte, dass sie wirkten wie ein Hier-Ist-Besetzt-Schild. Unwillkürlich musste ich an Sonnenliegen reservierende deutsche Urlauber denken. Schließlich fand ich aber doch noch einen Sitzplatz auf der anderen Seite des Ganges.

Von dort aus beobachtete ich wenig später, wie eine junge Frau ebenfalls sitzplatzsuchend, ebenfalls den Taschenberg bemerkte. Doch anders als ich ging sie keineswegs daran vorbei, sondern griff sich beherzt die Gepäckstücke, die auf dem Sitz am Fenster lagen, stapelte sie auf die restlichen Koffer und Taschen, die auf dem Gangplatz lagen und setzte sich dann selbst auf den Fensterplatz.

Dort saß sie nicht sehr lange. Schon bald kam eine ältere Frau auf sie zu, baute sich vor ihr auf, grüßte nicht erst lange, sondern blaffte direkt: „Das ist mein Platz.“ – „Sind Sie allein unterwegs?“, fragte die junge Frau. „Ja“, sagte die ältere. „Und ich habe da gesessen, wo Sie jetzt sitzen und dort gedenke ich wieder zu sitzen, also stehen Sie bitte auf.“ – „Dann wäre da ja noch der Platz neben Ihnen frei, wo jetzt die Taschen stehen“, antwortete die junge Frau. „Ja“, sagte die ältere Dame, „dann müssen Sie aber die Taschen wegräumen“. – „Aber das sind doch Ihre Taschen…“, versuchte es die jüngere Frau. „Ja, und das ist mein Fensterplatz, auf dem Sie sitzen und wenn Sie den anderen Platz haben wollen, dann müssen Sie halt die Taschen ins Gepäckfach räumen oder auf den Gang oder sonstwohin“, beharrte die ältere Dame. Die junge Frau gab auf und machte sich ans Werk.

Als beide saßen, begann die ältere Dame zu telefonieren – in beachtlicher Lautstärke. „Ja hallo, also, Du glaubst nicht, was passiert ist. Ich sitze gerade im Zug. Ja, weil, stell Dir vor, die Mutti ist tot.“ Kunstpause. Mehrere Leute im Zug drehten sich um. Die Sitznachbarin der Dame runzelte die Stirn. Dann ging das Telefonat weiter.

„Nein, heute früh um acht hat sie noch gelebt, da haben wir noch Pläne geschmiedet für Weihnachten. Da war sie noch topfit und hat mir am Telefon ganz viel von ihrem Urlaub erzählt. Naja und dann wollte sie raus gehen, Blätter zusammenkehren. Du weißt ja, wie sie ist, führt jeden Herbst Ihren persönlichen Kampf gegen das Laub. Und dann hat der Nachbar sie gefunden, im Vorgarten, da ist sie dann anscheinend zusammengebrochen und als der Notarzt dann kam, da war die Mutti schon tot.“ – „Nein, ich hab das von der Polizei erfahren, die kommen ja dann immer, wenn keine Angehörigen in der Nähe wohnen und dann hab ich mich gleich in den Zug gesetzt und jetzt bin ich unterwegs.“ – „Nein, danke, ich brauch keine Hilfe, ich wollte ja nur, dass du es weißt. Weil eigentlich war die Mutti ja noch topfit.“

Irgendwann endete das Telefonat mit den Worten: „Jedenfalls wäre es schön, wenn Du es noch ein paar Leuten sagen könntest, weil ich bin ja jetzt im Zug und da geht das nicht so gut.“ – „Ein wahres Wort“, murmelte die junge Sitznachbarin der Dame und vergrub sich hinter einem Ordner mit Papieren, den sie gerade durchlas. Sie las nicht lange. Denn schon bald erschallte eine mittlerweile vertraute Stimme aus Richtung Fenster. „Ja, hallo, ich bin’s, ich wollte dir nur Bescheid sagen. Die Mutti ist tot.“

Mehr Geschichten über Handytelefonate im Zug


8 Lesermeinungen

  1. Denken sagt:

    Das Privileg des Alters!...
    Das Privileg des Alters! Marotten!

  2. Raffy Ryff sagt:

    Muttis Platz ist jetzt frei....
    Muttis Platz ist jetzt frei.

  3. Moritz sagt:

    Ich finde die meisten alten...
    Ich finde die meisten alten Leute mit ihrem Weltbild welches besagt, dass nur wer alt ist entsprechend Lebenserfahrung und die Weisheit hat um ein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft zu sein auch nervig, aber: Auch wenn sich „die Mutti ist tot“ sich so schön treudoof spiessbürgerlich anhört, hat die Dame ja einen geliebten Menschen verloren – vor ein paar Stunden – da kann man sich ja mal überlegen, wie es einem selber in dieser Situation gehen würde…….

  4. A. K. sagt:

    Ich in dieser Situation würde...
    Ich in dieser Situation würde solche Nachricht bestimmt nicht von einem vollen Zugabteil aus verbreiten! Wenn es sich zeitlich nicht anders einrichten lässt, tritt man dazu wenigstens in den Gang und dämpft vielleicht die Lautstärke ein wenig, aber gerade ältere Leute meinen ja oft, sie müssten so laut reden, dass sie eigentlich doch kein Telefon mehr bräuchten.

  5. Michael sagt:

    Mir wäre das Thema...
    Mir wäre das Thema wahrscheinlich zu privat, ich würde das nicht in einem voll besetztes Zugabteil herausposaunen und alle zuhören lassen…

  6. shantitaxi sagt:

    Erheiternd bis erschütternd...
    Erheiternd bis erschütternd wie ‚deutsch‘ es hier zugeht. Meine Damen und Herren, ein bisschen mehr Sicht über den eigenen DB- Tellerrand wäre doch ganz wünschenswert.

  7. Philipp sagt:

    Gelobt sei die Erfindung des...
    Gelobt sei die Erfindung des iPods. Persönliche Schutzausrüstung für jede Solo-Bahnfahrt.

  8. Arndt sagt:

    Lustig.
    Kaum zu glauben das...

    Lustig.
    Kaum zu glauben das die Dame und der Autor da so mitgespielt haben.
    Ich verstehe auch nicht wieso jeder denkt, es hat was mit „den Deutschen“ zu tun!?

Kommentare sind deaktiviert.