Zweiter Klasse

Zweiter Klasse

„Wenn du zur Arbeit gehst am frühen Morgen, wenn du am Bahnhof stehst mit deinen Sorgen, da zeigt die Stadt dir asphaltglatt im Menschentrichter

Zugschlaf

| 4 Lesermeinungen

Wer den ICE zu ungewöhnlichen Tageszeiten benutzt, trifft zuweilen auch ungewöhnliche Leute. Neulich zum Beispiel musste ich schon so früh in Frankfurt sein, dass ich direkt den allerersten Zug morgens um 4.20 Uhr ab Köln nahm. Dort traf ich einen bemerkenswerten, wenn auch schläfrigen Mitreisenden.

Wer den ICE zu ungewöhnlichen Tageszeiten benutzt, trifft zuweilen auch ungewöhnliche Leute. Neulich zum Beispiel musste ich schon so früh in Frankfurt sein, dass ich direkt den allerersten Zug morgens um 4.20 Uhr ab Köln nahm.

Die erste Überraschung erlebte ich direkt am Bahnsteig: Trotz der Minustemperaturen, die an dem Tag herrschten, war der ICE pünktlich. Das war mir schon seit Wochen nicht mehr passiert. Außerdem war er angenehm leer. Mühelos fand ich einen Sitzplatz in einem Sechserabteil.

Außer mir saß dort noch ein weiterer Passagier. Er wirkte leicht zerknittert und gähnte verstohlen in seiner Fensterplatzecke. „Ist echt noch wahnsinnig früh“, sagte ich, um ihn ein wenig aufzumuntern. „Wie man’s nimmt“, antwortete er gleichmütig. „Ich fahr‘ schon die ganze Nacht Zug.“

Das wunderte mich. Schließlich kam der ICE bloß aus Dortmund. Da konnte er nicht die ganze Nacht gebraucht haben, um nach Köln zu reisen. Wahrscheinlich kam er irgendwoher aus Norddeutschland und war in Dortmund umgestiegen.

Ich muss fragend dreingeschaut haben, denn er begann schon bald zu erklären: „Ich habe gestern Abend hier in Köln den letzten Zug verpasst.“ Das war zwar eine Begründung für den frühen Aufbruch am Kölner Hauptbahnhof. Nicht aber fürs nächtliche Zugfahren. Ich schaute weiterhin fragend.

„Naja“, sagte er. „Als ich gestern nach der Arbeit den letzten Zug in Köln verpasst hatte war ich zu geizig, um mir ein Hotel zu nehmen. Dann bin ich halt die ganze Nacht irgendwo in Deutschland herumgefahren. Mit Bahncard 100 kostet das ja nix.“ In Koblenz sei er gewesen und in Bingen am Rhein, später im Ruhrgebiet, in Duisburg, Essen, Dortmund. Ganz gut geschlafen habe er obendrein. „In den alten Intercitys mit den alten Sitzen, die sind doch recht bequem“, sagte er.

Ich war beeindruckt. Doch er setzte noch einen drauf: „Langsam bin ich das schon gewöhnt. In den letzten vier Wochen hab ich schon bestimmt zehn Mal den letzten Zug verpasst.“ Ich rechnete kurz nach. Vier Wochen – das machte zwanzig Arbeitstage. Wenn die Geschichte stimmte, hatte er in mindestens der Hälfte der Fälle in irgendwelchen Zügen übernachtet. „Da wird der Zug ja schon fast zum zweiten Zuhause“, sagte ich. „Stimmt“, sagte er. „Schließlich ist die Bahncard 100 im Monat ja mindestens genauso teuer wie eine Wohnungsmiete.“

Als er das sagte, kam mir ein schrecklicher Gedanke. Der Mann wohnte doch nicht etwa im Zug? Abteil statt Schlafzimmer – das konnte ich mir ja gerade noch vorstellen. Bord-Bistro statt Küche – da wurde es schon schwieriger. Jeden Tag kalte Suppe mit fettigem Fleisch. Und zum Frühstück mäßig aufgebackenes Fertigcroissant. Und dann? Zähneputzen in der Zugtoilette? Umziehen? Waschen?

Ich musterte ihn verstohlen. Wie zerknittert sah er aus? Könnte es sein, dass er schon mehrere Nächte hintereinander…??? Ich überlegte gerade, wie unhöflich es wäre, ihn danach zu fragen, als er sagte. „Jetzt fahre ich erstmal nach Hause nach Limburg und gehe unter die Dusche.


4 Lesermeinungen

  1. Das Verweilen in S- und...
    Das Verweilen in S- und U-Bahnen ist ja schon (Haupt- und Großstädtestandard) – dass das auch in der Bahn funktionen kann und sich optional so bestimmt auch bei Liebeskummer, Langweilige, verpassten Zügen, exzessiver Bahnneugierigkeit (was passiert so zwischen 2 und 4 Uhr morgens?), Anschlüssen & Müdigkeit anbietet, war mir neu. So relativiert sich auch eine weichenbedingte einstündige Verspätung (Fahrgast natürlich im Zug) bei der man sonst doch eigentlich meint: „Oh mein Gott, war ich jetzt lange im Zug – ich muss hier raus!“.

  2. plumtree sagt:

    Ich verkaufe in HH Fahrkarten...
    Ich verkaufe in HH Fahrkarten für den hiesigen Verkehrsverbund (HVV). Zwei meiner Kunden sind mir zuletzt besonders aufgefallen. Beides Obdachlose, die sich ganz untypisch, unabhängig voneinander, jeweils eine zeitlich unbebrenzte(und damit relativ teure) Monatskarten kaufen.
    Einen habe ich gefragt und die verblüffend ehrliche Antwort war: „Ich wohne in der U-und S-Bahn. Die sind warm, fahren die Nacht durch und man kann bei dem Gerumpel prima schlafen.“
    Die meisten U-Bahn Fahrer kennen ihn wohl schon und lassen ihn einfach weiterschlafen, solange der Wagen leer steht und nicht ausgesetzt wird.
    Ist bestimmt nicht so bequem wie ein IC oder ICE, aber sicher besser als ein Platz unter der Brücke.

  3. Raffy Ryff sagt:

    Nächtliche Zugsfahrten...
    Nächtliche Zugsfahrten empfehlen sich tatsächlich bei Schlafstörungen. Das monoton regelmässige Gerumpel und Geknatter wirkt beruhigend auf das Unterbewusste, versetzt den müden Reisenden noch vor dem ersten Halt in Tiefschlaf und entspannend Gestressten die harte Nackenmuskulatur. Nicht rezeptpflichtig.

  4. So etwas grob (sehr grob) in...
    So etwas grob (sehr grob) in der Richtung hatte ich auch einmal, als ich noch in Nürnberg wohnte. Ich hatte bis ca. 22 Uhr einen Termin in Hamburg, musste aber am nächsten Tag wieder früh in Nürnberg sein (und wollte natürlich einen innerdeutschen Flug vermeiden). Die Lösung war ein IC nach Köln, der dort 3 Uhr irgendwas ankam, und dann ein ICE, der mich gut achtzig Minuten später in die „Frankenmetropole“ brachte. Entgegen der Bahnhofswebsite hatte der Burger King aber in dieser Zeit geschlossen, so dass mir nichts Anderes übrig bleib, als solange übers Bahnhofsgelände zu streifen. Danach war das Einschlafen aber kein Problem mehr 🙂

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