Zweiter Klasse

Zugtausch in Bonn-Beuel

Neben allen negativen Erlebnissen, die das tägliche Bahnfahren mit sich bringt, gehen doch allzu schnell einmal die positiven Überraschungen vergessen oder werden als selbstverständlich hingenommen. So habe ich mir schon vor einiger Zeit vorgenommen, einmal in einem Beitrag die guten Seiten des Bahnfahrens zu beleuchten. Da schien der nette Schaffner, dem ich gestern begegnete, ein willkommener Anlass. Zunächst jedenfalls.

Im ICE 10 von Frankfurt über Köln nach Brüssel Süd war das Chaos ausgebrochen: Streckensperrung zwischen Frankfurt Flughafen und Limburg Süd, Notarzteinsatz auf der Trasse, verwirrte belgische Fahrgäste, überfüllte Gänge, aber Glück im Unglück: Der Zug konnte immerhin die Unfallstelle umfahren und blieb nicht mitten auf der Strecke hängen. Langsam war sie allerdings, die Fahrt über die alte Rheinstrecke, groß war die Verspätung. Doch wir Reisenden nahmen es der Bahn nicht allzu übel. Für einen Notarzteinsatz kann das Unternehmen schließlich nichts. Und wie gesagt: Der Schaffner war freundlich und beantwortete alle Fragen geduldig und mehrsprachig.

Während wir so zwischen Koblenz und Mainz dahintuckerten, musste ich zu meinem Entsetzen feststellen, dass ich mein Portemonnaie im Büro liegengelassen hatte – mit der Bahncard 100, sämtlichen Karten, meinem Personalausweis und dem Bargeld, das ich an diesem Tag dabeihatte. So stand ich also mittel- und ticketlos vor dem freundlichen Zugbegleiter und war noch nicht einmal in der Lage mich auszuweisen. Ich erwartete, dass seine Laune kippen würde, er eine Standpauke halten und mich am zusätzlich eingeplanten Halt in Bonn Beuel des Zuges verweisen würde.

„Regen Sie sich nicht auf“, sagte statt dessen der freundliche Schaffner. „Das kann doch jedem mal passieren.“ Er müsse mir jetzt eigentlich eine Bearbeitungsgebühr von sieben Euro in Rechnung stellen, wolle aber diesmal Kulanz walten lassen und verzichte einfach darauf. Dann begann er, sich darüber Gedanken zu machen, wie ich am geschicktesten ohne Bahncard 100 und Portemonnaie am nächsten Morgen nach Frankfurt gelangen könne. Überwältigt von so viel unerwarteter Nettigkeit beschloss ich, nun geduldig die mittlerweile anderthalbstündige Verspätung zu ertragen und am nächsten Tag einen lobenden Beitrag über freundliche Bahnmitarbeiter zu publizieren.

Dieser Vorsatz hielt bis kurz vor der Ankuft am Zwischenhalt Bonn Beuel. „Meine Damen und Herren, leider ist ein technisches Problem an unserem Zug aufgetreten, so dass wir bedauerlicherweise ab Bonn Beuel unsere Reise mit diesem Zug nicht mehr fortsetzen können. Für die Fahrgäste nach Köln, Aachen, Lüttich und Brüssel wird in den nächsten 15 Minuten ein Ersatz-ICE bereitgestellt. Wir bitten um Entschuldigung.“ Mein belgischer Sitznachbar runzelte die Stirn und murmelte etwas von deutscher Effizienz und dass die auch nicht mehr das sei, was sie einmal war.

Es müssen mehrere hundert Leute gewesen sein, die sich nun mühsam auf den kleinen, zugigen Vorortbahnsteig in Bonn Beuel quetschten und dicht an dicht auf den Ersatz-ICE warteten. Nach etwa 15 Minuten traf tatsächlich ein Zug ein, der aus Brüssel kommend in Richtung Frankfurt unterwegs war. Auch dieser entließ mehrere hundert Leute auf den kleinen Bahnsteig.

Dann geschah Unglaubliches: Die Lautsprecherstimme forderte die Reisenden in Richtung Köln und Brüssel auf, in den Zug zu steigen, der ursprünglich nach Frankfurt unterwegs gewesen war. Die Reisenden nach Frankfurt hingegen wurden ermuntert, in eben jenen Zug umzusteigen, in dem wir bis eben noch unterwegs gewesen waren und der doch angeblich so kaputt war, dass er seine Fahrt unmöglich länger als bis Bonn Beuel fortsetzen konnte. Aus dem Fenster des neuen Zuges konnte ich noch beobachten, wie der alte, nun offenbar doch nicht kaputte Zug quietschfidel in dieselbe Richtung abreiste, aus der er gekommen war.

Eine Frage freilich blieb bis zum Ende offen. Waren die mehr als anderthalb Stunden Verspätung nun der Fehler der Bahn oder höhere Gewalt? Muss die Bahn die Fahrgäste für die Verspätung entschädigen oder nicht? Wäre der Zug auch ohne Notarzteinsatz auf der ursprünglichen Strecke vorübergehend kaputt gegangen und wundersam wieder gesundet? Und hätte der Zugtausch für sich genommen lang genug gedauert, um daraus einen Anspruch auf Entschädigung erwachsen zu lassen? Ich beschloss der Sache nicht weiter nachzugehen. Denn schließlich hatte ich ursprünglich ja ohnehin damit gerechnet, in Bonn Beuel des Zuges verwiesen zu werden. Wenn auch aus anderen Gründen.

Foto: Patrick Bernau/F.A.Z.

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