Zweiter Klasse

Zweiter Klasse

„Wenn du zur Arbeit gehst am frühen Morgen, wenn du am Bahnhof stehst mit deinen Sorgen, da zeigt die Stadt dir asphaltglatt im Menschentrichter

Der Ikea-Bomber

| 9 Lesermeinungen

„Herr Schaffner, Herr Schaffner, hier is ene herrenlose Täsch!", erklärte neulich im ICE eine Dame in schönstem Kölsch. "Janz bestimmt" habe der junge Mann eine vollgestopfte, blaue Ikeatasche im Gepäckfach des Waggons verstaut und sei dann ausgestiegen. "Janz bestimmt."

„Herr Schaffner, Herr Schaffner“; ließ sich neulich im ICE eine Dame vom Viererplatz schräg hinter mir vernehmen. Bemerkenswert war nicht nur die Lautstärke mit der sie auf sich aufmerksam zu machen suchte, sondern auch die sichtliche Aufgeregtheit in ihrer Stimme. Ich tippte zunächst darauf, dass sie die 300 km/h Reisegeschwindigkeit nicht vertrug und ihr urplötzlich übel geworden war. Doch als ich mich verstohlen umsah, erblickte ich keine blass-leidende Dame in gesundheitlicher Notlage, sondern eine durchaus in Gesichts- wie Kostümfarbe rosige Frau mittleren Alters. Statt eines Sitzplatzes beanspruchte sie zwei, thronte regelrecht auf der blau bezogenen ICE-Sitzbank und reckte einen wulstigen Arm anschuldigend in Richtung eines Gepäckfachs. „Herr Schaffner, Herr Schaffner, hier is ene herrenlose Täsch!“, erklärte sie in schönstem Kölsch.

Der Schaffner sah nach oben. Zwischen mehreren, sich stark ähnelnden schwarzen Trolleykoffern, einigen Laptoptaschen und einem roten Wanderrucksack hatte jemand im Gepäckfach eine breite, vollgestopfte, blaue Ikea-Plastiktüte verstaut. Eine von denen, die man am Ikea-Ausgang erwerben kann, um die ganzen Geschenkpapierrollen, Servietten und Teelichtlein unterzubringen, die man eigentlich gar nicht hatte kaufen wollen. So eine Tasche war es, auf die die rosa Dame mit ausgestrecktem Zeigefinger wies. „Ein junger Mann hat dat hier hinjelescht“, sagte sie. „Und dann is er ausjestiejen. Ohne de Täsch.“ – „Ist der denn auch wirklich ausgestiegen?“, fragte der Schaffner. „Janz bestimmt“, sagte die Dame. „Der hat ja noch sein Laptop runterjefahren und einjepackt und dann is er jejangen. Ohne de Täsch. Dat ist doch unheimlisch.“

Der Schaffner seufzte und machte sich daran, die offenbar gewichtige Ikea-Tasche aus dem Gepäckfach zu hieven. „Dann nehm ich die mal an mich“, sagte er und verschwand. Bald meldete sich die Dame wieder zu Wort. „Wissense“, sagte sie, an ihre Mitreisenden gewandt. „Isch komm nämlisch us Kölle. Und da hatten wir so ene Fall damals, isch weiß nit, obse dat wissen. Aber da ham solsche Leut so ne herrenlose Koffer deponiert im Jepäckfach und dann hinneher hat sisch herausjestellt, dat da Bomben drin waren. Isch will dem ja nix unterstelle dem junge Käl mit der Täsch do, aber man muss vorsischtisch sin heutzutaje.“

Ich blickte mich abermals im Waggon um. Die meisten Mitreisenden schauten angestrengt aus dem Fenster, tippten eifrig in ihre Laptops oder steckten die Nasen tief in ihre Bücher. Niemand antwortete auf die Rede der Frau. Hinein in die peinliche Stille, die nur von Tastaturklappern unterbrochen war betrat schon bald der Besitzer der Ikea-Tasche den Waggon, in der linken Hand ein Bier, in der rechten Deutschlands schnellste Currywurst zum Mitnehmen aus dem Bord-Bistro. Die Tastaturen verstummten. Der Mann setzte sich. Begann zu essen. Trank einen Schluck Bier. Minutenlang herrschte absolute Stille.

Dann kam es, wie es kommen musste. „Wo ist meine Tasche?“, fragte der Mann. Das Schweigen hielt noch immer. „Meine Tasche ist weg“, insistierte er und erhob sich aufgeregt von seinem Sitz. „Die war gerade noch da.“

„Die han isch beim Schaffner abjejeben“, ließ sich schließlich die rosa Dame kleinlaut vernehmen. – „Und warum, wenn ich fragen darf?“ – „Ja, Sie sinn ja ausjestiejen“, sagte die Dame. „Bin ich nicht“, sagte der Mann und zeigte auf Bier und Currywurst. „Ich war im Bord-Bistro.“ – „Wissense junger Mann“, sagte die Dame, „man muss eben einfach vorsischtisch sein heutzutaje“. Der Mann schaute ungläubig. Die Dame wand sich ein wenig in ihren beiden Sitzen. „Wissense“, sagte sie dann,  „da jab et mal so ene Fall damals, da ham auch so Leute so ne herrenlose Koffer deponiert im Jepäckfach. In Kölle. Da war isch quasi dabei. Isch komm nämlisch us Kölle. Und dann woren da Jasflaschen drin, in dene Koffer. Jasflaschen! Sin aber nit explodiert.“ Da setzte sich der Mann wieder hin, nahm erstmal einen Schluck von seinem Bier und sah hinüber zu der Dame in rosa. „Schade eigentlich“, sagte er.


9 Lesermeinungen

  1. Pendler sagt:

    Sehr schöne Geschichte! Ich...
    Sehr schöne Geschichte! Ich hätte nie gedacht wie sehr die tägliche Bahn-Fahrt das Leben um unglaubliche Erlebnisse, Kuriositäten aller Art, faszinierende und erschreckende Bekanntschaften und immer wieder auch viel Humor bereichert. Hoffen wir mal, dass die Bahn nicht bald einen Erlebniszuschlag einführt!

  2. <p>In einem Biergarten...
    In einem Biergarten „Aschenputtel“ am Rhein sitzt ein Liebespärchen. Ein Wasserskiläufer kommt vorbei. Er greift in ihre Handtasche. Detonation. Sie meint, ihr Vater hätte gesagt, ein Boot solle nicht Infinty heißen.

  3. abf sagt:

    alle sympathie fuer et...
    alle sympathie fuer et koellsche maedschen. fuer ihr raumgereifendes format ebenso. – keine fuer die betretenen tastaturklimperer. weniger noch als fuer den unflaetigen bierfreund.

  4. Herrlich, diese Geschichte!...
    Herrlich, diese Geschichte! Als regelmässiger ICE Kunde wünschte ich mir mehr von diesen Geschichten. Zumeist -und in zwischen von mir gefürchtet- hat man ja mehrere Sitzbankreihen das weibliche Bildungsbürgertum auf der Rückfahrt von Kirchentagen und/oder karitativen Veranstaltungen neben sich. Sie wissen schon, diese Veranstaltungen, die Ruhe, Einkehr, religiöse Tugenden vorleben, aber auf der Rückfahrt schon wieder vergessen sind. Und: die Themen die da abgehandelt werden, die gleichen sich jedes Mal.
    Da ist Opfer der BRD-Terrorpanik eine wilkommene Abwechslung.

  5. Plindos sagt:

    Allso, die Jeschich is jo...
    Allso, die Jeschich is jo adens nit schlääch. Isch sinn ooch ad ä poormol mit de ICÄ jefaahre. Ess jo ä Dinge met 300 Saache duresch de Weltjeschich ze jurke.
    Ungerställt, dat wör mia passäät, dan hät isch dat wie follecht kommetäät:
    Ischtäns@: Die fing Dame, die wo dat mit döm IKEA-Büggelsche döm Schaffne jemälldt hätt, hätt Rääsch jehatt. Damet dat ämol klaa ess. Dat hätt jo esu sinn könne, wat dann? Hätt ma dat IKEA-Büggelsche äfach ächsblodäre losse solle?
    Dat kann doch wohll net woar se!!!
    Zweytens@:Wo simma dann? Dat unfäschämp Jüngelsche, dä Schportsfrüng met singem Biesche un dä Currywuasch, dat wo dat jesach hätt, dat is ad en ming Ooche en doof Nuss, dem singe Mam un dä Pap dä hätte doch desfallsisch jekrische wie ä Kohorte Trauerwievere.
    Un all de Minsche, de wo do hüngere ühre Kompjutere jesässe hon un nix jesoot han, dat sin all feije Säu. Damet dat ooch amol klaa ess. Dä Aahl die hätt doch Tsifil-Kuraasch jehatt, wolle mer doch emol ährlisch se. Ma moss doch dä Dom in Kölle losse!
    Isch mein, isch well jo nix jesohd han.

  6. sterne sagt:

    @Plindos, ja sischa datt!

    @...
    @Plindos, ja sischa datt!
    @ Ndine Bös: Ich habe das Bahnfahren eingestellt. Hatte viel guten Willen, aber es ging einfach nicht mehr. „Wegen Verzögerungen im Betriebsablauf hat der Zug eine Verspätung von…“ Tja, „Verzögerungen im Betriebsablauf“ ist eine etwas rotzlöffelige Formulierung für „Verspätung“. Was wir der Bahn also abkaufen sollen ist, dass es „wegen Verspätung leider zu einer Verspätung“ kommt. Oh, danke. Ohne mich.
    Der Abschied von der Bahn kam aber wegen eines anderen Knüllers, der Verspätung „wegen hohen Fahrgastaufkommens“. Will heißen: „Sehr geehrte Fahrgäste, Ihretwegen sind wir zu spät! Sie sind zu hoch aufgekommen. Alles Ihre Schuld!“ Ich möchte in aller Demut die Bahn nie wieder durch mein zu hohes Aufkommen belasten. Und reise seither entspannt – ohne die Frechheiten eines gescheiterten „Unternehmens“.

  7. Schöne Geschichte. Ja jede...
    Schöne Geschichte. Ja jede Bahnfahrt bringt neute interessante Erfahrungen mit sich. Besonders interessant ist es eigentlich immer im Bordrestaurant, wenn man mit wildfremden Leuten am Tisch sitzt und sich dann näher kommt…

  8. Falko sagt:

    Sehr witzige Geschichte. Mach...
    Sehr witzige Geschichte. Mach mal dem Schaffner schön Angst mit der Bombe! 😀 Vielleicht sollte ich öfter Bahn fahren, aber da ja morgen wieder Streik ist, lasse ich das lieber.

  9. Andold sagt:

    Die Geschichte ist ein...
    Die Geschichte ist ein wunderbares Beispiel für das monotone Leben mancher Menschen. In solchen Situation mutieren sie gerne zu kleinen (oder gewaltigen) Superhelden bzw. selbernannte Aushilfsheriffs – frei nach dem Motto: die Welt retten mach ich nur zwischen 13:00 – 17:00Uhr

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