Zweiter Klasse

Grauer Burgunder

Wir Bahncard-100-Pendler bleiben ja gern unter uns. Verstecken uns morgens müde hinter unserer Zeitung. Tippen abends wahlweise in Handy oder Laptop oder setzen zumindest die Kopfhörer auf, um uns von den Mitreisenden und von eventuell uns ereilenden Gesprächen abzuschirmen. Umso überraschter war ich, als mich am vergangenen Donnerstag die E-Mail eines gewissen Herrn L. erreichte, die sich folgendermaßen las: 

Sehr geehrte Frau Bös,

 es ist etwas ungewöhnlich, aber wenn Sie am letzten Donnerstag im ICE von Frankfurt Richtung Köln bis nach Siegburg (oder Limburg) um ca. 17:00 mitgefahren sind, dann

– haben wir gemeinsam im Speisewagen gesessen,

– haben wir uns kurz und nett unterhalten, u.a. über verschiedene Sonntagszeitungen,

– habe ich Ihr Wasser und Ihren Grauburgunder bezahlt, da Sie das offensichtlich vergessen haben und so ausgestiegen sind.

Ich habe die Rechnung gerne übernommen, keine Ursache, es war eine nette Unterhaltung.

Wenn Sie nicht diese Dame sind, dann ist es eine andere Dame aus der FAZ-Redaktion, die in Köln wohnt und nach Frankfurt pendelt. Vielleicht kennen Sie diese Dame und können die Mail weiterleiten. Die besten Grüße!

Da ich üblicherweise weder um 17 Uhr Feierabend mache, noch denselben im Speisewagen verbringe, leitete ich die E-Mail in einem schnellen Impuls an die einzige mir bekannte weitere Frankfurt-Köln-Pendlerin im Hause weiter, versah sie peinlicherweise noch mit dem Titel „Prost“ und erhielt postwendend folgende Antwort: 

Liebe Nadine,

ich hatte letzte Woche frei, war also auch nicht die Dame aus dem Speisewagen, die ihr Wasser und ihren Grauburgunder nicht bezahlt hat. Und frage mich, wer sonst noch in Frage käme, die anderen Pendler sind doch Männer, oder? Liebe Grüße. 

Ich war so weit wie vorher. Und sah mich gezwungen, dem freundlichen Mitreisenden zurückzuschreiben und ihn um eine detailliertere Beschreibung der Gesuchten zu bitten. Die lieferte er zügig und überraschend genau: Haarfarbe, Kleidungsstil, früherer Arbeitgeber, Gegenstand der derzeitigen Berichterstattung. Allein: Ich konnte all diesen Details bedauerlicherweise keine Person zuordnen. Auch nachdem ich mehrere weitere Kolleginnen ins Vertrauen gezogen hatten, fand sich die Gesuchte nicht. Herr L. schrieb: 

Hallo Frau Bös,

haben also die Hinweise nichts gebracht! Es gibt wahrscheinlich zu viele Damen bei der FAZ, auf die diese Beschreibung passt. Egal, es war interessant und spontan. Ich werde die Sache „zu den Akten legen“ und bei zukünftigen Bahnfahrten auf dieser Strecke die Augen besonders offen halten. 

Aufgrund der doch allzu großen Enttäuschung des lieben Herrn L. fühle ich mich verpflichtet ihm nun in größerem Rahmen ganz öffentlich zu antworten, also: 

Lieber Herr L., 

leider gibt es nicht zu viele, sondern zu wenige Damen in der F.A.Z., die auf Ihre Beschreibung passen. Sollte sich aufgrund dieser Zeilen doch noch eine solche finden, so wünsche ich ihr und Ihnen ein ganz zauberhaftes Wiedersehen. Sollte sich hingegen jemand genötigt gesehen haben, den Ruf der F.A.Z. dazu zu nutzen, fremde Menschen zu bezirzen und sich auf diese Weise einen Grauburgunder zu erschleichen, so bitte ich diese Person höflich, sich an einem der nächsten Donnerstage, gegen 17 Uhr im Bord-Bistro des ICE auf der Strecke Frankfurt-Köln einzufinden. Diese Person möge dann bitte als Erkennungszeichen eine Flasche Grauen Burgunders mit sich führen. Dann möge sie sich bitte förmlich entschuldigen und dem Herrn L. als Geste der Wiedergutmachung die Flasche überreichen. Sofern dies nicht geschehen sollte, lieber Herr L., werde ich mal bei Gelegenheit nach Ihnen schauen. Dann können wir von mir aus zusammen ein Gläschen trinken auf das Wohl der Unbekannten. Zahlen allerdings werden wir dann getrennt. Sonst denken Sie am Ende noch, ich fühlte mich doch angesprochen von Ihren netten Zeilen.

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