Das letzte Wort

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Die Welt ist voller Paragraphen und Aktenzeichen. Hendrik Wieduwilt und Corinna Budras blicken auf Urteile und Ereignisse im Wirtschaftsrecht.

Kündigung für "Emmely"

| 29 Lesermeinungen

Nicht nur Urteile von Strafgerichten können polarisieren. Ein Spruch von Arbeitsrichtern bringt gerade die halbe Nation auf die Palme. Denn „Emmely", eine Kassiererin in einem Supermarkt, hat nun auch von der Justiz ihre Kündigung erhalten. Nach mehr als 30 Jahren Betriebszugehörigkeit - und das für die mutmaßliche Unterschlagung von Leergutbons im Cent-Wert.

Nicht nur Urteile von Strafgerichten können polarisieren. Ein Richterspruch des Landesarbeitsgerichts Berlin brachte jetzt ebenfalls die halbe Nation auf die Palme. Denn „Emmely” (so der von Unterstützern und Berichterstattern solidarisch-verfremdete Name einer Kaiser-/Tengelmann-Kassiererin) hat nun auch von der Justiz die Kündigung erhalten. Nach mehr als 30 Jahren im Job. Eine mehrfache Mutter und Großmutter. Und das wegen der – mutmaßlichen – Unterschlagung von zwei Leergut-Pfandbons im Wert von zusammen nicht einmal eineinhalb Euro!

Ein grober Verstoß gegen das Gebot der Verhältnismäßigkeit? Bei solch einem Richterspruch muss man tatsächlich schlucken. Nicht nur, weil – wie es jetzt populistisch heißt – in diesen Tagen Manager ungestraft Milliarden verzocken, die dann vom Steuerzahler aufgebracht werden müssen. Sondern auch, weil sich Cent-Beträge im Verhältnis zu jahrzehntelanger Arbeitsleistung nun wirklich nicht als plausibler Grund für eine Kündigung ausnehmen. Eine fristlose sogar!

Doch man muss genauer hinschauen. Ferndiagnosen sind bei Gerichtsprozessen außerordentlich heikel. So hat sich einst halb Deutschland echauffiert über die Frage, ob Frau Weimar (geborene Böttcher) ihre eigenen Kinder ermordet hat. Illustrierten bezogen in Berichterstattungs-Kampagnen gegensätzliche Positionen (und im Gegenzug für Exklusiv-Informationen finanzierte ein Hochglanzmagazin sogar das Honorar eines renommierten Strafverteidigers für das Wiederaufnahmeverfahren). Doch kann ein Zeitungsleser schlauer sein als die Richter vor Ort, die (hoffentlich) die Akten gelesen und die die Zeugen sowie die sonstigen Verfahrensbeteiligten höchstselbst im Gerichtssaal erlebt haben?

Das Berliner Landesarbeitsgericht hat mit einer ungewöhnlich ausführlichen Presseerklärung versucht, viele Gegenargumente (“zu hartes Urteil” lautet jetzt der Aufschrei der Volksseele) im Vorhinein zu entkräften. Zwar kann ein Richter niemandem ins Herz schauen; dass vor Gericht so viel gelogen wird wie kaum sonstwo, lässt manch sensiblen Robenträger schier verzweifeln. Doch bemerkenswert ist schon einmal: Das „erkennende Gericht” hat in zweiter Instanz denselben Eindruck von den beteiligten Personen gewonnen wie zuvor die Richter in der ersten Verhandlungsrunde. Bei voller Beweisaufnahme, die es in dieser Berufungsinstanz wohlgemerkt noch gab (anders als bei einer etwaigen Revision, die trotz deren Nichtzulassung beim Bundesarbeitsgericht auch noch stattfinden könnte).

Und die Berufungsrichter kamen zu dem Ergebnis: „Emmely”, für die sich Politiker, Gewerkschaften und ein Solidaritätskomitee einsetzten, ist nicht nur auf bloßen (oder sogar: dringenden) Verdacht gekündigt worden. Vielmehr hat sie „nach Überzeugung des Gerichts”, wie es dann immer etwas sperrig heißt, tatsächlich Pfandbons unterschlagen. Eine Einschätzung, die ebenso auf eigenen Aussagen der inkriminierten Angestellten beruht wie auf der von Kollegen von ihr und auf einer Auswertung der Kassenstreifen. Zudem, so die Oberrichter, hat „Emmely” eine unschuldige Kollegin zu Unrecht belastet, um ihre eigene Haut zu retten. Und ihre Verteidigungsargumentation, sie sei als aktive Gewerkschafterin gemobbt worden, konnte selbst solche Richter nicht überzeugen, die sonst sogar die Sabotage von Einzelhandelsketten im Lohnkampf durch „Flash-Mob-Aktionen” billigen.

Ob „Emmely” Unrecht geschehen ist, kann kein Außenstehender beurteilen. Das können nicht einmal Richter mit letzter Sicherheit, die – wenn sie jeglichen Restzweifeln folgen wollten – niemals gegen irgend jemanden entscheiden könnten. (Die Angst vor Fehlurteilen, die es immer geben kann, belastet übrigens verantwortungsbewusste Richter nicht nur in der Strafjustiz.) Doch stehen deutsche Arbeitsrichter nicht ganz zu Unrecht im Verdacht, dass sie „im Zweifel” gegen Arbeitgeber entscheiden. Wenn sie dann aber doch ab und an einen Arbeitnehmer verurteilen, geschieht dies nun wirklich nicht leichtfertig.

In diesem Fall steckt dahinter der Gedanke: Wer will denn einem Unternehmen ernsthaft zumuten, jemanden an der Kasse zu beschäftigen, der dort heimlich hinein gegriffen hat? Auf den hinterzogenen Betrag kommt es dann nicht mehr an; abgesehen davon, dass hinter jeder aufgedeckten Straftat eine Dunkelziffer an sonstigen Verfehlungen stecken mag. Schon vor Jahrzehnten hat das Bundesarbeitsgericht im „Bienenstich-Fall” eine Bäckersfrau abgestraft, die nach Ladenschluss ein übrig gebliebenes Kuchenstück selbst verzehrte. Konsequente Ahndung ist gut und richtig. Dass die Justiz allerdings manchen Angriff auf Leib, Leben und Gesundheit noch immer so viel weniger entschieden bestraft als Verstöße gegen das Eigentum, sollte auch Strafrichtern einmal Anlass zum Nachdenken sein.


29 Lesermeinungen

  1. mazfaz300 sagt:

    <p>Das Urteil (s....
    Das Urteil (s. Presseerklärung) ist nachvollziehbar und es erwähnt z.B. zwei wichtige Faktoren ‘Vertrauen’ und ‘absolute Korrektheit/Zuverlässigkeit’…bitter stößt ein solche Urteil auf, da es die Frage nach der Verhältnismäßigkeit aufwirft, in Zeiten n denen Manager (Finanzsektor, Automotiv, usw. usw….) Mrd versenken, am Fiskus vorbei lncieren, die Chancen ganzer zukünftiger Generationen auf’s Spiel setzten und sich keiner’Schuld’ bewußt sind. Woher sollen eigentlich die o.g. Werte kommen, wenn sie selbst in obersten Kreisen nicht ‘gelebt’ werden??

  2. petepaul sagt:

    <p>Sicher, wenn man 1,30...
    Sicher, wenn man 1,30 € unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten rein wirtschaftlich betrachten würde, dann erscheint das Urteil freilich hart und womöglich überzogen. Allerdings greift diese Betrachtung zu kurz. Denn die Kündigung hat eben nicht einen rein wirtschaftlichen Hintergrund. Schwerer wiegt nämlich, dass das Vertrauensverhältnis zerstört ist. Gerade bei Kassierern ist aber eine “ökonomische Lauterkeit” des Personals erforderlich. Auch der eigentlich lächerliche Betrag vermag nichts daran zu ändern, dass ein Eigentumsdelikt begangen wurde – eben eine Straftat. Normativ wie auch moralisch ist das keine Lapalie, sondern verwirklichtes Kriminalunrecht. Auf das angesprochene Vertrauensverhältnis zurückkommend, könnte man frei formulieren: wer einmal stiehlt (oder unterschlägt), dem glaubt man nicht.

  3. WillyF sagt:

    <p>Zwischen Bon und Boni...
    Zwischen Bon und Boni besteht ein gravierender Unterschied!
    Das Handeln von Bankern in staatseigenen Landesbanken bringen – wie im Fall der HSK Nordbank – ganze Bundesländer an den Rand des Staatsbankrotts, wie heute für das Land Schleswig-Holstein zu lesen war. Von diesen Leuten – inkompetenten und ahnungslosen Politikern, skrupellosen und raffgierigen Bankern und betrügerischen Geschäftemachern – wird niemand belangt. Viele Banker, die ihr Unternehmen an den Rand des Ruins gebracht haben und das nun auf Steuergelder angewiesen ist, kassieren für ihr bewusstes Missmanagement mit Riesenverlusten schamloserweise auch jetzt noch Millionen-Boni, weil es so in den Verträgen steht und die Politik der Großen Koalition (Steinbrück und sein bisher ziemlich kritikloser Staatssekretärs-Adlatus lassen grüßen) so grottendoof war, sich dagegen nicht abzusichern.
    Passt es da in die Zeit, dass eine Kassiererin nach 30 Jahren Betriebszugehörigkeit entlassen wird, weil das Vertrauensverhältnis zum Arbeitgeber zerstört sei – weil sie nach Angaben ihres Arbeitgebers einen Getränke-Bon für 1,30 Euro unterschlagen soll?
    In einer Zeit, in der Billionen Werte auf Kosten des Steuerzahlers von inkompetenten Politikern und raffgierigen Banken verbrannt worden sind, kann man dies niemandem begreiflich machen. Die Volksseele kocht daher zu Recht, selbst wenn sich die Kassiererin schuldig gemacht hätte. Es zeigt die ganze Perfidie und Ungerechtigkeit des gegenwärtigen Systems. Wer 1,30 Euro unterschlagen haben soll, wird gnadenlos gefeuert und nach 30 Jahren treuer Betriebszugehörigkeit der HartzIV-Armut preisgegeben. Wer hingegen Milliardenwerte verbrennt, kann mit Hilfe der Politik damit rechnen dass ihm der Staat unter die Arme greift. Da stimmt etwas nicht! Und das merkt der einfache Bürger nun einmal, ob Politik das will oder nicht.
    Ich bin gespannt, wie Politik diesen 1,30 Euro-Fall in den Griff bekommt. Als Wahlkampfstratege von Merkel oder Steinmeier wüsste ich jetzt, was zu tun wäre. Aber sind diese Herrschaften in ihrem inneren Gedanken-Wandlitz noch so nah am Volk, dass sie das begriffen? Ich habe da meine Zweifel, würde mir aber wünschen, dass sie dieser armen Kassiererin ein Job anböten – wenn es auch nur ihrem eigenen billigen Wahlkampf diente. Ein solches Handeln wäre zumindest nicht inkonsequent, wenn man bedenkt, welchen Hasardeuren Politik derzeit auf Steuerzahlers Kosten ihre Pfründen sichert. Da wird der Steuerzahler das o.g. 1,30 Euro-Risiko auch noch verschmerzen können.

  4. emilgilels sagt:

    <p>Wie kann eine Frau mit 3...
    Wie kann eine Frau mit 3 Kindern und 30 Berufsjahren ihren Job derart leichtfertig aufs Spiel setzen, indem sie das notwendige Vertrauen in eine Kassiererin verspielte, eine Kollegin verleumdete, indem sie diese des Diebstahls der Kassenbons bezichtigte, um vom eigenen Tun abzulenken sowie ferner den Arbeitgeber zu belügen. Ein derartig uneinsichtiges Handeln kann doch nur eine (fristlose) Entlassung zur Folge haben. Mir tun die Kinder leid, die die Sünden der Mutter “ausbaden” müssen.

  5. PeterHenning sagt:

    <p>Hübsch am Fall vorbei...
    Hübsch am Fall vorbei argumentiert, Herr Jahn. Wie “reiherkopf” schon berichtet hat, stinkt die Kaiser´s Beweisaufnahme zum Himmel und wie überall nachzulesen, reicht beim Arbeitsgericht der pure Verdacht. Die Verbandelung der Richterin durch entsprechende Vorträge bei Unternehmer nahen Veranstaltungen dazu genommen, kommen zu Recht Zweifel am deutschen Rechtssystem. Aufgabe eines Journalisten wäre, alle Seiten zu beleuchten und nicht nur die Auslassungen des Gerichts.
    Vor allem die dubiose Rolle des Arbeitgebers und das unverhältnismäßige Vorgehen der Supermarktkette fallen ihnen in ihrem kleinkarierten Überlegungen nicht mal auf.
    Die Empörung ist – zu Recht – eine moralische und da können sie noch so eifrig ihre Rechtsauffassung belegen. Da ist jedes Augenmaß verloren und angesichts von eingelösten Pfandbons, die ja nicht mal dem Supermarkt gehörten von Vertrauensmißbrauch und Recht zu sprechen ist schon ganz schön blind und borniert.
    Konsequente Ahndung ist da nicht gut und richtig, schon gar nicht, wenn auf der anderen Seite Millardenbeträge ungesühnt verschleudert werden dürfen.
    Ein Teil unserer Gesellschaft und da gehören Journalisten, wie sie dazu, haben längst jede Bodenhaftung verloren.

  6. shorafix sagt:

    <p>"Warum hat die Firma der...
    “Warum hat die Firma der Kassiererin angeboten, für weitere sieben Monate ihren Lohn zu zahlen ohne Arbeitsleistung, wenn sie einer regulären Kündigung zustimmen würde? Warum wurde sie nicht abgemahnt?”
    Ich habe einer Mitarbeiterin in ähnlicher Situation (es ging um etwa 30 Euro Wert) gekündigt. Ein Teil der Vorwürfe wurde eingeräumt. Die Waren waren kurz vor dem Ablaufdatum, hatten jedoch den oben genannte Restwert bei Rückerstattung der Hersteller auf Kulanz (wird von uns regelmäßig so gehandhabt). Wie konnten wir eine solche Mitarbeiterin weiter beschäftigen? War es der Anfang oder das Ende einer Unterschlagungskarriere? Ich habe im Gütetermin – die Dame war erst gar nicht erschienen – einem Vergleich zugestimmt, weil bei einem Kammertermin auch noch auf meine Kosten Mitarbeiter für Aussagen hätten freigestellt werden müssen. Das hätte uns mehr gekostet als die ganze Sache Wert war. Eine Benachteiligung des Arbeitnehmers kann ich hier nicht erkennen. Im Gegenteil ist es für den Arbeitgeber heute schwer genug, einen Mitarbeiter selbst nach schwersten Verstößen gegen seinen Arbeitsvertrag zu kündigen. Oft genügen nicht einmal zwei Abmahnungen zum gleichen Grund. Die Sendung bei Kerner am Faschingsdienstag war übrigens unter aller Kritik. Auch Kienzle hätte Farbe bekennen müssen, ob er seine Haushälterin gekündigt hätte – oder darf bei dem Zuhause jeder mit seiner Pfoten in die Schatulle greifen?

  7. MichaelausB sagt:

    <p>Wenn das landesübliches...
    Wenn das landesübliches deutsches Recht ist -wer kann das beurteilen außer den Juristen- dann müssen wir das so akzeptieren. Aber dann bitte auch kein Aufschreien bei landesüblichem Recht, wie z.B. in Pakistan über die dort teilweise wieder eingeführte Scharia; Hand ab bei Diebstahl. Sind wir etwa humaner, nur weil kein Blut fließt?

  8. khaproperty sagt:

    <p>Seit Existenz deutscher...
    Seit Existenz deutscher Rechtsprechung ist sie in diesem Punkt stets konsequent geblieben, was verständlich ist. Nicht zu vermitteln ist hingegen, daß bei Verwaltungshandeln, rsp. -nichthandeln und sonstigem exekutivem Auftreten der Staatsmacht weder von zuverlässigen rechtlichen Grundlagen noch entsprechenden Sanktionen durch Gerichte die Rede sein kann – von Ausnahmen abgesehen.

  9. jjaa sagt:

    <p>Die (ehemalige) Kassiererin...
    Die (ehemalige) Kassiererin will nun auch noch vor den Europäischen Menschenrechtsgerichtshof (EGMR) in Straßburg ziehen – jedenfalls wenn ihre Nichtzulassungsbeschwerde beim Bundesarbeitsgericht in Erfurt und eine Verfassungsbeschwerde in Karlsruhe nicht fruchten. Dass ihr aber auch der EGMR kaum helfen dürfte, erläutert der Arbeitsrechtsprofessor Christian Rolfs im Beck-Blog.

  10. reiherkopf sagt:

    <p>Die beiden...
    Die beiden Leergut-Pfandbons im Werte von 1,30 € gehörten nicht einmal der Firma, sondern waren von Kunden verloren worden. Wie wurde das denn gehandhabt, wenn sie keiner abholte? Warum wurden sie denn nicht z.B. mit rotem Filzstift markiert? Wieso wurden sie von einer anderen Kassiererin akzeptiert, obwohl sie nicht, wie vorgeschrieben, vom Filialleiter abgezeichnet waren? Warum ließ die Firma so viel Zeit verstreichen, so dass die automatischen Video-Aufzeichnungen gelöscht waren?
    Warum hat die Firma der Kassiererin angeboten, für weitere sieben Monate ihren Lohn zu zahlen ohne Arbeitsleistung, wenn sie einer regulären Kündigung zustimmen würde?
    Warum wurde sie nicht abgemahnt? Warum durfte sie nicht außerhalb der Kasse weiter arbeiten?

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