Nicht nur Urteile von Strafgerichten können polarisieren. Ein Richterspruch des Landesarbeitsgerichts Berlin brachte jetzt ebenfalls die halbe Nation auf die Palme. Denn „Emmely” (so der von Unterstützern und Berichterstattern solidarisch-verfremdete Name einer Kaiser-/Tengelmann-Kassiererin) hat nun auch von der Justiz die Kündigung erhalten. Nach mehr als 30 Jahren im Job. Eine mehrfache Mutter und Großmutter. Und das wegen der – mutmaßlichen – Unterschlagung von zwei Leergut-Pfandbons im Wert von zusammen nicht einmal eineinhalb Euro!
Ein grober Verstoß gegen das Gebot der Verhältnismäßigkeit? Bei solch einem Richterspruch muss man tatsächlich schlucken. Nicht nur, weil – wie es jetzt populistisch heißt – in diesen Tagen Manager ungestraft Milliarden verzocken, die dann vom Steuerzahler aufgebracht werden müssen. Sondern auch, weil sich Cent-Beträge im Verhältnis zu jahrzehntelanger Arbeitsleistung nun wirklich nicht als plausibler Grund für eine Kündigung ausnehmen. Eine fristlose sogar!
Doch man muss genauer hinschauen. Ferndiagnosen sind bei Gerichtsprozessen außerordentlich heikel. So hat sich einst halb Deutschland echauffiert über die Frage, ob Frau Weimar (geborene Böttcher) ihre eigenen Kinder ermordet hat. Illustrierten bezogen in Berichterstattungs-Kampagnen gegensätzliche Positionen (und im Gegenzug für Exklusiv-Informationen finanzierte ein Hochglanzmagazin sogar das Honorar eines renommierten Strafverteidigers für das Wiederaufnahmeverfahren). Doch kann ein Zeitungsleser schlauer sein als die Richter vor Ort, die (hoffentlich) die Akten gelesen und die die Zeugen sowie die sonstigen Verfahrensbeteiligten höchstselbst im Gerichtssaal erlebt haben?
Das Berliner Landesarbeitsgericht hat mit einer ungewöhnlich ausführlichen Presseerklärung versucht, viele Gegenargumente (“zu hartes Urteil” lautet jetzt der Aufschrei der Volksseele) im Vorhinein zu entkräften. Zwar kann ein Richter niemandem ins Herz schauen; dass vor Gericht so viel gelogen wird wie kaum sonstwo, lässt manch sensiblen Robenträger schier verzweifeln. Doch bemerkenswert ist schon einmal: Das „erkennende Gericht” hat in zweiter Instanz denselben Eindruck von den beteiligten Personen gewonnen wie zuvor die Richter in der ersten Verhandlungsrunde. Bei voller Beweisaufnahme, die es in dieser Berufungsinstanz wohlgemerkt noch gab (anders als bei einer etwaigen Revision, die trotz deren Nichtzulassung beim Bundesarbeitsgericht auch noch stattfinden könnte).
Und die Berufungsrichter kamen zu dem Ergebnis: „Emmely”, für die sich Politiker, Gewerkschaften und ein Solidaritätskomitee einsetzten, ist nicht nur auf bloßen (oder sogar: dringenden) Verdacht gekündigt worden. Vielmehr hat sie „nach Überzeugung des Gerichts”, wie es dann immer etwas sperrig heißt, tatsächlich Pfandbons unterschlagen. Eine Einschätzung, die ebenso auf eigenen Aussagen der inkriminierten Angestellten beruht wie auf der von Kollegen von ihr und auf einer Auswertung der Kassenstreifen. Zudem, so die Oberrichter, hat „Emmely” eine unschuldige Kollegin zu Unrecht belastet, um ihre eigene Haut zu retten. Und ihre Verteidigungsargumentation, sie sei als aktive Gewerkschafterin gemobbt worden, konnte selbst solche Richter nicht überzeugen, die sonst sogar die Sabotage von Einzelhandelsketten im Lohnkampf durch „Flash-Mob-Aktionen” billigen.
Ob „Emmely” Unrecht geschehen ist, kann kein Außenstehender beurteilen. Das können nicht einmal Richter mit letzter Sicherheit, die – wenn sie jeglichen Restzweifeln folgen wollten – niemals gegen irgend jemanden entscheiden könnten. (Die Angst vor Fehlurteilen, die es immer geben kann, belastet übrigens verantwortungsbewusste Richter nicht nur in der Strafjustiz.) Doch stehen deutsche Arbeitsrichter nicht ganz zu Unrecht im Verdacht, dass sie „im Zweifel” gegen Arbeitgeber entscheiden. Wenn sie dann aber doch ab und an einen Arbeitnehmer verurteilen, geschieht dies nun wirklich nicht leichtfertig.
In diesem Fall steckt dahinter der Gedanke: Wer will denn einem Unternehmen ernsthaft zumuten, jemanden an der Kasse zu beschäftigen, der dort heimlich hinein gegriffen hat? Auf den hinterzogenen Betrag kommt es dann nicht mehr an; abgesehen davon, dass hinter jeder aufgedeckten Straftat eine Dunkelziffer an sonstigen Verfehlungen stecken mag. Schon vor Jahrzehnten hat das Bundesarbeitsgericht im „Bienenstich-Fall” eine Bäckersfrau abgestraft, die nach Ladenschluss ein übrig gebliebenes Kuchenstück selbst verzehrte. Konsequente Ahndung ist gut und richtig. Dass die Justiz allerdings manchen Angriff auf Leib, Leben und Gesundheit noch immer so viel weniger entschieden bestraft als Verstöße gegen das Eigentum, sollte auch Strafrichtern einmal Anlass zum Nachdenken sein.