Das Landgericht Berlin hat jetzt leider bestätigt, was in diesem Blog erst vor wenigen Tagen zu lesen war: Mit der Pressefreiheit geht es rapide bergab. Der neuste Fall: Die „Bild”-Zeitung darf nicht mehr berichten, warum Popstar Nadja Benaissa derzeit in Untersuchungshaft sitzt. Dieses Publikationsverbot hat das Landgericht Berlin verfügt.
Dabei hatten neben dem Boulevardblatt auch alle möglichen anderen Zeitungen – darunter die F.A.Z. – über die spektakuläre Festnahme der „No Angels”-Sängerin in einem Frankfurter Club berichtet, ebenso die führende Presseagentur Deutschlands, die „dpa”. Dass die Handschellen zu Ostern im Club „Nachtleben” klickten (kurz vor einem Soloauftritt übrigens und damit per se schon ziemlich öffentlich), ist nicht nur bemerkenswert, weil die Künstlerin und ihre frühere Girlsband weit über die Teenie-Szene hinaus ausgesprochen bekannt sind. Die Festnahme weist auch auf ein durchaus verbreitetes Problem unserer Gesellschaft hin, das überdies juristische wie medizinische Dimensionen hat: Benaissa soll durch ungeschützten Sexualverkehr einen Mann mit dem Aids-Virus HIV angesteckt haben, obwohl sie von ihrer Infektion gewusst habe. (Zur Rechtslage übrigens Näheres im Blog des Verlags C. H. Beck, dem Platzhirsch unter den deutschen Fachverlagen für Juristisches in Deutschland.)
Sogar die zuständige Staatsanwaltschaft hatte gegenüber Medien, die sorgsam recherchierten, entsprechende Angaben gemacht. Dass Richter dennoch das Persönlichkeitsrecht der Sängerin für wichtiger halten als eine Berichterstattung über die Verhaftung und ihren Anlass, ist schlichtweg absurd. Ihr Anwalt, ein bekannter Presserechtler, sieht dies natürlich anders. Doch kann man nur hoffen, dass die Rechtsmittel der „Bild”-Zeitung Erfolg haben werden. Ihr Chefredakteur Kai Diekmann kommentiert dies, von „dpa” um weitere Fakten ergänzt, so:
Die “No Angels”, die 2008 Deutschland beim Grand Prix vertraten, seien die erfolgreichste deutsche Pop-Band der letzten Jahre. „Ihre Poster hängen in Tausenden Teenager-Zimmern. Die Vorbildfunktion der Bandmitglieder steht daher völlig außer Frage”, schrieb Diekmann. „Angesichts dieser Vorbildfunktion, aber auch der Schwere der strafrechtlichen Vorwürfe gegen Nadja Benaissa ist das öffentliche Interesse an der Berichterstattung nicht im Ansatz zu bestreiten. (…) Ein Verbot, über die Verhaftung einer derart öffentlichen Person zu informieren, ist deshalb ein schwerer Angriff auf die Pressefreiheit. (…) Manchmal fragt man sich, wer in Berlin alles Richter werden darf.” Die No Angels waren im Jahr 2000 bei der TV-Show „Popstars” gecastet worden. Zwischen 2000 und 2003 verkauften sich ihre Alben rund fünf Millionen Mal. Im April 2007 startete die wiedervereinigte Pop-Band nach rund drei Jahren Trennung ein Comeback.
Nachtrag: Während sich derweil Chefredakteure und andere Galionsfiguren des Journalismus (auch linksliberaler Provenienz) gegen den Richterspruch wenden, hält die “Süddeutsche Zeitung” es für einen Ausdruck der Unschuldsvermutung, auf einer ganzen Sonderseite nicht einmal den Namen jener Person zu nennen, die doch als unschuldig zu gelten habe.
Individuelles oder...
Individuelles oder gesellschaftliches Recht
Man darf sich ruhig im Klaren darüber sein, dass solche Bands Vorbildfunktion für die Massen der Jugendlichen, ja der Kinder, haben. Und insbesondere in ihrem „Paarungsverhalten“ haben sie das. Das war schon immer so – und das hat viel mit der Pubertät zu tun -, aber nicht immer gab es Aids. Was sind schon Tripper oder Syphilis, die Seuchen, die uns als Kids in den 60ern oder 70ern heimsuchten, von Musikern und/oder Dealern unter die Schulmädchen gebracht und von dort aus weiter verbreitet. Die Kampagne gegen Aids scheitert- auch aus diesem Grunde – gerade unter den Jugendlichen, und wie wir sehen, macht das auch vor ihren Prominenten nicht halt.
Auf der anderen Seite ist die sexuelle Freizügigkeit, wie wir sie gerade in den genannten 60ern oder 70ern noch erlebten, durch Aids völlig zerstört. Will man sie doch, wird man schell kriminalisiert, wie uns dieser Fall vor Augen führt. Zu recht kriminalisiert oder einfach als Opfer einer bigott gewordenen Gesellschaft (wenn auch u.U. bedingt eben durch Aids) – das ist eine wichtige Frage.
Die Regression lebt durch diese Gefahr, ja sie klebt an ihr, ganz besonders die religiöse Fraktion unter ihr, die sich nicht scheut, frech ihren Platz in der Gesellschaft zurück zu holen, den, den sie eben infolge 68 verlor.
Kondome schützen nicht vor Aids, erklärte doch dieser Tage ein Papst einem ganzen Kontinent, dem gequälten afrikanischen. Dort sterben die Leute nicht nur an Aids, aber niemals wurde ihr Elend so zynisch missachtend kommentiert. Denn, wenn er gesagt hätte: Kondome schützen nicht vor dem Hungertod, oder vor dem Mangel an gesellschaftlicher Akzeptanz und persönlicher Freude und Lust, dann wäre das schon was anderes gewesen.
Vor diesem Hintergrund müssen wir die Rolle der „Bild“ und der sog. Persönlichkeitsrechtsfrage beurteilen. Sie sollte eigentlich als gesellschaftliche Frage nicht als Frage individueller Rechte behandelt werden. Vielleicht bekommen wir dann die eigentliche Dimension in den Fokus: Die Auseinandersetzung zwischen der Jugend und den Konservativen, den Ewiggestrigen in der heutigen Gesellschaft.
An Aids zu sterben – was ja heute nicht unbedingt sein muss, zumindest nicht im reichen Westen -, ist bitter und wirklich überflüssig, und doch mag das vor dem Hintergrund eines solchen (unterdrückten) Diskurses, als das geringere Übel angesehen werden. Das soll nicht zynisch zu verstehen sein, aber es scheint evident. Denn viele Jugendliche werden das so sehen, ohne sich darüber bewusst im Klaren zu sein, womöglich.
Und vielleicht ist es das, was bei der Beurteilung des Falles Nadja Benaissa zu kurz kommt. Und es wird Zeit, dass das ins Öffentliche Bewusstsein gelangt, denn sonst verlieren wir völlig das Verständnis unter der Jugend. Sollen wir Alten überleben und soll die Jugend an Aids wegsterben, das wäre die wahre Perversion, nur weil wir die Fragestellung dieses Diskurses zu flach halten und damit eine fragwürdig gewordene, rein moralische, Haltung einnehmen, gegenüber dieser Jugend.