Das letzte Wort

Wildwuchs in der Altersdiskriminierung

Der Europäische Gerichtshof ist schon seit langem für seine eigenwillige Rechtsprechung im Bereich der Altersdiskriminierung bekannt. Nun hat er noch einmal nachgelegt: Deutsche Richter dürfen künftig Gesetze ignorieren, wenn sie ihrer Ansicht nach gegen das Verbot der Diskriminierung wegen des Alters verstoßen. Was selbst so mancher gesetzestreue Bürger auch gerne täte, ist nun immerhin den Juristen auf der Richterbank erlaubt. Eine Rechtsprechung, die erhebliche Sprengkraft in sich birgt.

Dabei war der Anlass eigentlich recht banal. Die Luxemburger Richter mussten sich auf Bitten des Landesarbeitsgerichts Düsseldorf über Paragraph 622 des Bürgerlichen Gesetzbuches beugen. Danach werden bei der Berechnung von Kündigungsfristen keine Beschäftigungszeiten berücksichtigt, die vor dem 25. Lebensjahrs eines Mitarbeiters liegen. Die Vorschrift ist schon mehr als 80 Jahre alt und wurde selbst seit Inkrafttreten des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes stets damit gerechtfertigt, dass die Benachteiligung jüngeren Arbeitnehmern wegen der schlechteren Arbeitsmarktchancen Älterer nach einer Kündigung zuzumuten ist. Dass diese Regelung gegen das Verbot der Altersdiskriminierung verstößt, dürfte keinen Arbeitsrechtler ernsthaft überrascht haben.

Gravierender ist jedoch der zweite Punkt, den die Europa-Richter in ihrer Entscheidung klarstellten: Besteht ein Zweifel, ob eine Regelung gegen das Verbot der Altersdiskriminierung verstößt, können die nationalen Richter künftig wählen, welchen Weg sie beschreiten: Sie können wie bisher die Frage dem Europäischen Gerichtshof zur Entscheidung vorlegen oder sie entscheiden selbst, ob sie das Gesetz im konkreten Fall anwenden – oder lieber getrost ignorieren. Die europäischen Richter weiten damit ihre – höchst umstrittene – Auffassung noch einmal aus, dass es sich beim Verbot der Altersdiskriminierung um einen “allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts” handelt.

Die besondere Brisanz: Nach deutschem Recht darf eigentlich nur das Bundesverfassungsgericht Gesetze verwerfen. Das weiß der EuGH natürlich auch, es ist ihm nur herzlich egal: “Die dem nationalen Gericht (…) eingeräumte Möglichkeit, den Gerichtshof im Wege der Vorabentscheidung um Auslegung zu ersuchen, bevor es die unionsrechtswidrige nationale Bestimmung unangewendet lässt, kann sich jedoch nicht deshalb in eine Verpflichtung verkehren, weil das nationale Recht es diesem Gericht nicht erlaubt, eine nationale Bestimmung (…) unangewendet zu lassen, wenn sie nicht zuvor vom Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt worden ist”, führen die Europa-Richter etwas hölzern in ihrer Entscheidung aus.  

Auf das scharf kritisierte Urteil “Mangold” folgt nun also die Entscheidung “Kücükdeveci”, wie die Klägerin in dem aktuellen Fall hieß (C-555/07). Und man darf gespannt sein, wie die deutschen Reaktionen ausfallen werden. Der Unmut, der auf “Mangold” folgte, war ja immerhin so groß, dass der Fall derzeit das  Bundesverfassungsgericht beschäftigt. Die höchsten deutschen Verfassungsrichter sollen entscheiden, ob der EuGH seine Kompetenzen überschritten hat.

 

Die mobile Version verlassen