Juni ’89
Zuerst kam die Ausreisegenehmigung, dann haben wir alles verkauft, was nicht in den vergangenen Jahren im wöchentlichen Paket in den Westen geschickt worden war. Die Wohnung, in der ich einen Großteil meines Lebens gelebt hatte, sollte künftig von anderen Menschen als uns bewohnt werden. Die Koffer mit unserem letzten Hab und Gut waren gepackt. Meine Mutter nahm mich mit auf eine Reise in ein mir komplett fremdes Land. Ein Land, in dem mein Vater seit über zwei Jahren lebte. Das Vati-Land. Hinter uns ließen wir Freunde, Verwandte. Zum Beispiel meine Freundin Diana, mit der ich gerne mit den Pferde-Figuren gespielt hatte. Meinen Freund Dirk, mit dem ich die Fernet-Branca-Werbung um die Wette auswendig aufsagte, wenn wir West-Fernsehen schauten. Oder meinen Freund Martin, der sich beim Spielen so oft den Kopf aufgeschlagen hatte. “Schon wieder ein Loch im Kopf” hieß es dann immer. Übeltäter war dann entweder ein im Weg liegender Stein, oder ein sich über ihm drehendes rostiges Eisenkarussell gewesen. All diese Kinder, die seit meinem dritten Lebensjahr jährlich mit mir um einen runden Kuchen gesessen und zugeguckt hatten, wie ich die Kerzen ausblies – sie alle blieben dort. Und ich fuhr fort. Doch ich war nicht traurig, denn Juni ’89 sollte der Monat einer Wiedervereinigung werden. Mein Vater, der seit zweieinhalb Jahren im Westen lebte, er war das Ziel unserer Zugreise. So fiel es meiner Mutter und mir nur mäßig schwer, all das hinter uns zu lassen. Das Warten, die ständigen Behördengänge, das Bitten und Betteln um Ausreise, die Lügen, die heimlichen Treffen in Tschechien, der Trennungsschmerz – das alles hatte im Juni ’89 ein Ende.
Mein Vater hatte sich in einer kleinen Gemeinde im lieblichen Taubertal eine Existenz aufgebaut. Wir reisten von einem minikleinen Dorf in ein etwas größeres Dorf. Unsere graue Doppelhaushälfte tauschten wir gegen eine dunkle Kellerwohnung auf einem Berg ein. Es blieb mir etwas Zeit, anzukommen bis die Schule anfangen sollte. Zeit, in der ich ein Nachbarmädchen kennenlernte, das mich mochte, sich auf mich einließ und gern mit mir spielte. Zeit, in der wir viele unserer West-Verwandten besuchten, von denen ich nicht wenige zum ersten Mal sah. Zeit, in der ich auch einfach sehr viel vor dem Fernseher hing und diese neuen Möglichkeiten namens Kabelfernsehen entdeckte. „Möglichkeiten”, die mich meine gesamte Kindheit und Jugend begleiten sollten.
September ’89
Einschulung. Nach über zwei Monaten in der neuen Heimat, ein zaghaftes Herantasten an diese Menschen, die so anders (so schwäbisch) redeten, sollte ich nun ein bisschen fester in der neuen Umgebung verankert werden. Diana, Martin, meine Oma, meine Tanten und Onkels – sie alle waren zwar nicht vergessen, doch die Aufregung um den ersten Schultag vertrieben die Gedanken an sie allzu oft. Neue Dianas, Martins und auch Dirks warteten doch dort! Dort, wo Vati schon so lange war, dort waren Mutti und ich jetzt auch angekommen und bauten an einem neuen Leben. Der Tanz der zweiten Klasse-Kinder für uns Erstklässler faszinierte mich ebenso, wie mein Lehrer Herr N., der die nächsten zwei Jahre meines Lebens eine entscheidende Rolle spielen und mich, das sächselnde kleine Mädchen, in die schwäbelnde erste Klasse integrieren würde. Denke ich an diese Zeit zurück, überkommt mich der Drang, zu dramatisieren. Manchen Freunden beschrieb ich diesen Lehrer als das große Glück meines Lebens. Er war der geborene Pädagoge. Er baute zu Kindern eine Beziehung auf, die wohlwollend und schutzbietend war. Er lachte sehr viel, zwinkerte häufig mit seinen Augen. Sein Blick war wach und geschärft für die Art und Weise, wie seine Schützlinge miteinander umgingen. Er sah, welch ein Spießroutenlauf die ersten beiden Schuljahre manchmal für mich waren. Katrin, die ein bisschen sächselte. Katrin, die einen gänzlich unschwäbischen Nachnamen hatte. Er hörte wohl, wie aus dem „Rönicke” das „Rummenicke” wurde. Oder „die Rönicke aus der DDR”. Und er sah, dass ich aus dem Rahmen fiel, rein äußerlich. Dass da viel Projektionsfläche für Spott und Häme war, mit den DDR-Anziehsachen, über die sich wirklich jeder Wessi so sehr beömmeln konnte, und mit den Vokuhilas. Herr N. und meine Eltern führten Gespräche und machten sich sorgen. Denn ich kam nicht gut rein, ich wurde gemobbt. Mir ging es nicht gut. Dabei rang ich um Assimilation. Passte mich an, so gut ich konnte. Nannte meine Eltern nun Mama und Papa, statt Mutti und Vati. Herr N. nahm mich unter seine Fittiche und bot mir so viel Halt, wie es eben für einen Lehrer irgend möglich ist. Ich liebte es, zur Schule zu gehen. „Schule macht Spaß”, sagte ich immer. Und ich wusste, dass ich nicht alleine war. Es dauerte zwei Jahre, aber Herr N. schaffte es tatsächlich, mich mit zwinkernden Augen und aufmunternden Gesten in diese Klasse zu integrieren.
Am schwersten war das mit den Mädchen. Sie waren gnadenloser, denn sie führten ihren Krieg im Stillen und hinter meinem Rücken, so dass ich dem nichts entgegenzusetzen hatte. Die Jungen lachten mir direkt ins Gesicht, zogen mich unverblümt auf und spotteten ohne Umschweife oder falsche Scham. Außerdem war ich selbst ein halber Junge gewesen, denn meine Diana war ja ein Jahr älter als ich gewesen, ich hatte im vorangegangenen Jahr vor meiner Ausreise beinahe nur mit Jungen gespielt. Und in meinem Mini-Dorf waren Jungen klar in der Mehrheit unter meinen Freunden. Mit meinen kurzen Haaren und den jungenhaften Klamotten war ich eine Art Tomboy gewesen. Meine Sozialisation zum Mädchen war daher mehr als dürftig – äußerlich und auch im Verhalten. Lange kam ich in der Neuen Heimat mit den Jungen in meiner Klasse besser klar. Dabei wusste ich schon, oder hatte gelernt, dass ein Mädchen eine beste Freundin brauchte. Dass das zumindest erwartet wurde. Jungen spielten schließlich mit Jungen und Mädchen mit Mädchen. Außer mir natürlich. Mir war es lieber, wenn man ehrlich zu mir war – ein Verhalten, das ich vor allem von Jungen bekam.
November ’89
Eines Abends saßen Mama und Papa vorm Fernseher und machten ganz erstaunte Gesichter. „Die Mauer ist gefallen” (oder etwas in der Art) sagte Mama zu mir und guckte – ich weiß gar nicht – erschrocken? Froh? Erleichtert? Ernst? Mir war es nicht möglich, diesen Gesichtsausdruck zu deuten und er verwirrte mich sehr. Noch mehr verwirrte mich, was sie da sagte. Jahrelang hatte ich von „der Mauer” gehört. Die Erwachsenen sprachen ständig darüber. „Die Mauer” und „der Westen”, der auf der anderen Seite lag – so viel hatte ich schon verstanden. Mir war nie ganz klar gewesen, ob „der Westen” nun gut war, oder schlecht. Papa war doch dort, also musste ja etwas Gutes daran sein. Andererseits sprachen nicht wenige Erwachsene damals „vom Westen”, als sei es ein gefährlicher Ort. Als Papa eines Tages plötzlich weg war, da hatte ich vorm Westen manchmal Angst, so als sei er ein hungriger Löwe, der meinen Papa verschlungen hatte. Nun saß ich selbst dort – „im Westen” – und weg war die Angst. Ich sah im Fernsehen, wie Menschen über das kletterten, was wohl „die Mauer” war. Zum ersten Mal sah ich bewusst „die Mauer” im Fernsehen und dann gleich in so einer Ausnahmesituation, wo alle drüber kletterten! Mir war bewusst, dass da gerade etwas Großes, etwas Wichtiges passierte. Die Tragweite dessen, die genaue Bedeutung war mir rätselhaft. „Die Mauer” und „der Osten” – also Oma, Opa, Diana, Dirk und Martin! – alles begann zu bröckeln, zu verschwinden. Es war faszinierend und unbedeutend zugleich: ich hatte meinen Papa, hatte meinen Herr N. in der Schule, hatte meine ersten schwäbischen Brocken, die sich mit meinem Sächsisch zu mischen begannen. Hatte so viel zu tun: musste Freunde finden, musste mich einfinden. Dass dieser Tag bedeutete, dass Martin, Diana, Oma und Opa nun bald nicht mehr „der Osten” und somit unerreichbar waren, das lernte ich erst später. Dass dieser Tag der erste Entscheidende in der Geschichte einer neuen vereinigten Republik war, erst Jahre später.
Ebenfalls im Herbst 1989 erhielt der französische Soziologe Pierre Bourdieu die Ehrendoktorwürde der Freien Universität zu Berlin. Auch ihn lernte ich erst viel später, während meines Studiums kennen. In „Die feinen Unterschiede” beschreibt er, wie Menschen sich auf sehr subtilen Wegen gegen jene abgrenzen, die von außerhalb ihres kulturellen und sozio-ökonomischen Milieus kommen. Wie sie es Außenstehenden und Neuen erschweren, sich auf Augenhöhe miteinander zu begeben. Es gab in unserer Anfangszeit im Westen nur sehr wenige Menschen, die sich vorurteilsfrei näherten, die uns von sich aus inkludieren wollten. Diese Menschen waren Herr N. und die Eltern eines Mädchens aus meiner Klasse, die H.s, die vom ersten Tag an eine Hand ausstreckten. Menschen, die sich wirklich interessierten, die uns ausfragten und zuhörten, die verstanden, dass hinter uns ein völlig anderes Leben in einer völlig anderen Welt lag. Sie überkippten uns nicht gleich mit den vorgefertigten Meinungen über die lustigen aber kaum ernstzunehmenden Ossis, sondern machten sich die Mühe, uns kennen zu lernen. Ich sollte in den folgenden Jahren viele Stunden am Küchentisch der H.s verbringen. Zwischenzeitlich war ich Schlüsselkind, denn meine Mutter arbeitete, wie sie es gewohnt war, schnell wieder in Vollzeit. Bei den H.s kehrte ich dann häufig nach der Schule zum Mittagessen ein, war einfach da, Teil ihres Alltags.
Obwohl meine Eltern im Jahr 2002, das Jahr, in dem ich mein Abitur machte, wieder zurück in die „Alte Heimat” gingen, zurück in ein minikleines Dorf in Sachsen-Anhalt, sind diese Bande seit 1989 nicht wieder abgebrochen. Das trifft ansonsten nur auf die West-Verwandtschaft und die anderen „Wossis” zu, die wie wir dort lange Zeit Aliens unter Gleichen geblieben waren. Die anderen Bekanntschaften verloren sich zu einem Großteil. Denn so ganz richtig waren wir doch nie dort angekommen. Es blieben immer feine Unterschiede zwischen den Einheimischen Taubertälern und uns. Teilweise bis heute.
(Fotos: “”Grenzbahnhof Oebisfelde DDR. Apr 1990” von Felix O, CC-BY-SA 2.0, via Flickr.com , “Igersheim” von Kathrin Rieger, CC-BY 2.0 via Flickr.com, “Schloss Weikersheim” von Jorbasa, CC-BY-ND 2.0, via Flickr.com)
Obwohl ich in Niedersachsen...
Obwohl ich in Niedersachsen geboren bin, habe ich mich dort immer nur partiell heimisch gefühlt. Von klein auf wurde ich mit Fluchtgeschichten aus Pommern indoktriniert und manchmal hatte ich den Eindruck, dass ich mich deswegen oft halb wie ein Fremdling gefühlt habe. Es hat auch einige Jahre gedauert, bis ich merkte, dass so viele Orte, die ich aus Büchern kannte, gar nicht zugänglich waren und wie in einer anderen, versunkenen Welt. Diese Orte dann real nach der Wende wieder zu entdecken, war sensationell, neu, aufregend. Allerdings auch nicht weniger fremd als Niedersachsen.
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Da muss ich wieder mal an Methusalix denken: “Ich habe nichts gegen Fremde. Einige meiner besten Freunde sind Fremde. Aber diese Fremden da, die sind nicht von hier.”
Danke für diesen berührenden...
Danke für diesen berührenden und persönlichen Artikel. Der zwar leicht und aufgeregt daherkommt aber trotzdem mit wenigen Sätzen deutlich macht, wie grundlegend der “Systemwechsel” für Dich als Kind war und welche Bewährungsproben auch schon in diesem Altern zu bestehen hat. Und dass es dann doch überall auch Menschen wie Herrn N. und die H.s gibt.
„Die feinen Unterschiede"...
„Die feinen Unterschiede” stimmt, so ist es.
Aber es stimmt auch, dass die Beziehungen am längsten halten, die auf intresse beruhen, oder begründet waren. Da haben wir in unserer Familie auch ein Beispiel das nunmehr seit 23 Jahren hält. Also als die Westfamilie damals neugierig in den Osten kam, und uns in die Arme lief.
Gar nicht mal schlecht. Kann...
Gar nicht mal schlecht. Kann man alles sehr gut nachvollziehen ;). Toller Blogartikel.
Sehr schön geschriebener...
Sehr schön geschriebener Artikel, erinnert mich zum Teil auch an meine Kindheit. Ausgereist sind wir nicht. Allerdings ging es mir als 7-jährige auch so, dass ich die historischen Geschehnisse mitbekam, aber sie nicht einordnen konnte. Man hatte in dem Alter ja gerade lesen gelernt, so dass man alles Geschriebene wie ein Schwamm in sich aufsog. Die Worte gelangten im Kopf an, aber es ließ sich kein Sinn erschließen. Ein solches Erlebis war es zum Beipiel, als in meiner Straße die erste Werbetafel aufgezogen wurde und für die nächsten zwei Wochen verkündete: “Leibnitz Butterkeks seit 1891”. Jeden Tag auf dem Schulweg zerbrach ich mir den Kopf darüber wie das sein konnte, denn diese ‘Markensachen’ gab es doch erst seit Kurzem.
Andersherum als in dem Artikel hatten wir in der Schule ‘eine Zugezogene’ aus dem Westen. Als sie später meine Freundin wurde, erfuhr ich, dass sie urprünglich auch aus unserem Berliner Vorort stammte, ’89 über Ungarn geflohen und nach 3 Jahren in Berlin-Carlottenburg zurückgekehrt war. Von den Mitschülern wurde sie in unserer 3. Klasse wie ein Hollywoodstar empfangen. Alles an unserer neuen West-Klassenkameradin war aufregend. Ein jeder wollte mit ihr befreundet sein und war versuchte eifrig ihre West-Handschrift (in der das H und das K etwas verschnörkelt geschrieben wurde) zu lernen. Unsere alternde Lehrerin war weniger begeistert. Bianca erzählte mir später, dass sie auf der Klassenfahrt zu ihr meinte: “Für dich ist das hier ja alles nichts besonderes. Du bist ja ganz anderes gewöhnt.”