Wostkinder

Wostkinder

Die Wahrheit liegt irgendwo zwischen Ost und West.

Der Habitus, der an dir klebt

| 25 Lesermeinungen

Rückblende in die Neunziger: Wie der eigene Habitus und Klischeedenken feine Unterschiede schaffen, die dazu führen, dass Inklusion von Ost nach West nicht gelingt.

Erst vor einigen Jahren habe ich Worte für das gefunden, was mich eine lange Zeit in meiner Kindheit traurig gemacht hat. Doch ich hatte keine Bezeichnung für das, was geschah. Und es geschah auch nicht sehr viel – zumindest oberflächlich betrachtet. Was geschah, war fast nicht sichtbar – nur spürbar. Beinahe 20 Jahre lang fehlten mir Begriffe, bis ich in meinem Studium vor einigen Jahren Pierre Bourdieu begegnete. In einem Seminar las ich Textstellen aus „Die feinen Unterschiede“ (1). Darin hatte Bourdieu beschrieben, wie so etwas Subtiles wie Geschmack über soziale Inklusion oder Ausgrenzung entscheiden kann. Erst nach und nach begriff ich seitdem, dass ich einen ostdeutschen Habitus hatte. Wahrscheinlich bis heute habe.

Ich war sieben Jahre alt und die Leute sagen von kleinen Kindern, dass sie sehr flexibel und anpassungsfähig sind. Sicher. Aber vieles sitzt in diesem Alter auch schon fest, ist verinnerlicht ohne, dass man sich dessen unbedingt bewusst ist. Ein Teil unseres Wesens ist fertig, er entsteht durch die Kultur, die uns umgibt, durch die Sprache und die Musik, die wir hören, die Bilder, die wir sehen, das Essen, das wir essen und vieles mehr. All das, was uns vertraut ist, unsere Normalität, prägt wie wir „ticken“. Dies ist der sogenannte Habitus.

Kulturkonsum macht Leute

Bourdieu hat in „Die feinen Unterschiede“ das Soziologische und das Ökonomische im Raster der Kultur zusammengebracht. Er sagt (es ist sein erster Satz und er gibt die Richtung des Buches vielsagend vor):

„Auch kulturelle Güter unterliegen einer Ökonomie, doch verfügt diese über eine eigene Logik.“

Der Rest des Buches untersucht mit wissenschaftlichen Werkzeugen, was das für eine Logik ist. Die Bedingungen, die sich als eine Art unsichtbarer Spielregeln beschreiben lassen, können auch „Distinktion“ genannt werden. Sie besteht aus dem Schaffen von Unterschieden und die zugehörige Praxis ist ständige Abgrenzung. Distinktion gab es immer schon, sie scheint nahezu zum Menschen zu gehören, einprogrammiert zu sein in dessen Nervenbahnen. Sie trennt Klassen und Kulturen auf eine mal mehr, mal weniger subtile Art. So war französisch früher eine Adelssprache und wer gelehrt war, konnte noch bis in das 20. Jahrhundert hinein Latein – es verschwindet erst seit kurzem (und selbst das werden manche noch bestreiten). Manche Unterschiede sind weniger offensichtlich, eben feiner.

 

So fällt an der Frau im karierten Mantel in der U-Bahn auf den ersten Blick vielleicht niemandem der Wohlstand auf. Doch: Denjenigen, die einen Blick für die feinen Unterschiede haben, die Codes kennen, denen fällt er auf und sie werden sich vielleicht ein kleines bisschen mehr gemein mit der Frau machen, als mit jeder anderen. Denn wenngleich der Mantel auf den ersten Blick von der geschmähten „Stange“ einer schwedischen Klamottenkette sein könnte, bei genauerer Betrachtung schließen an den zusammengenähten Stellen die Karos auf eine stilvolle Art miteinander ab. Hier hat jemand nicht nur wahllos Stoff zerschnitten und im Akkord in Bangladesch aneinandergenäht. Nein, es wurde auf ein für Leute wie mich unsichtbares Detail geachtet – bei diesem Mantel gab es mehr Verschnitt. Dafür ist das Muster perfekt.

Destinktion unter Kindern

Wenn ich heute mit meiner Mutter über meine Kindheit und dieses Gefühl des Ausgegrenzt-seins spreche, dann ist sie verwundert und denkt an ein (aus ihren Augen) ganz normales Mädchen, das mal kurz Probleme hatte, weil es gehänselt wurde. Die feinen Unterschiede sind für uns wohl tatsächlich sehr schwer zu greifen, über Generationen hinweg kaum zu verstehen, aber als Kind habe ich sie gespürt, ohne einen Begriff dafür zu haben. Im Detail gab es viele kleine Unterschiede. Das fängt an bei Frisur, Kleidung und Schuhe. Mein Plüschtier-Bataillon sah anders aus, ostiger und daran konnte auch meine kleine ALF-Klemmfigur nichts ändern, die ich heiß und innig liebte (da ich ALF heiß und innig liebte, vielleicht, weil ich mich manchmal ähnlich deplatziert fühlte). Als es „in“ war, Stickeralben zu bestücken und die Sticker untereinander zu tauschen, hatte ich zwar welche. Aber aufgrund der preislichen Unterschiede (die dann gar nicht mehr so fein waren), waren darunter weniger Plüschige und weniger Glitzernde als bei anderen Kindern. Mit mir wollte man nicht so gerne tauschen.

Klar: Meine Eltern hatten auch einfach nicht so irre viel Geld – aber andere Eltern auch nicht. Viel mehr, denke ich, spielte hier eine Rolle, dass meinen Eltern nicht so ganz aufging, dass sich schon Kinder soziale Anerkennung über Statussymbole erkauften. Heute bin ich ihnen dankbar, dass sie da nicht mitgemacht haben. Wenngleich ich mich damals sicher manches Mal beschwerte und gern mehr gehabt hätte. Mehr Sticker, mehr Barbies und Anziehsachen für sie, mehr Spiele für den Gameboy (und vielleicht nicht nur den Gameboy, sondern NES oder Supernintendo wie andere Kinder… die Möglichkeiten waren ja schier unendlich und ich war alles andere als darin geübt, mit der riesigen Auswahl an Konsumgütern auf eine angemessene Weise umzugehen). In der Schule hatten alle Kinder einen Pelikan Tuschkasten, nur ich nicht, ich hatte einen Noname-Kasten. Erst, als im Gymnasium mein Kunstlehrer darauf bestand, dass es der von Pelikan sein müsse, besorgte man mir eben diesen. Erst, als mein Gymnasial-Musiklehrer mir in der Sechsten einen Vogel zeigte, als ich nach dem Kontakt zu einem Keyboard-Lehrer fragte, bekam ich ein Klavier. Und Klavierunterricht, den andere schon seit ihrem fünften Lebensjahr gehabt hatten. Was anderen völlig Selbstverständlich war (etwa die Mitgliedschaft im Sportverein), wurde bei mir häufig erst von außen angeregt.

Gewollt und nicht gekonnt

Bis ich etwa 14 Jahre alt war, hatte ich das dumpfe Gefühl, dass mit meiner Kleidung (verglichen mit der Kleidung der anderen) etwas nicht in Ordnung war. Erst mit 14 fand ich meinen Stil, wurde langsam sicherer in der Auswahl meiner Klamotten. Ich begann, aus der „Not“ eine Tugend zu machen und ausgetragene Klamotten (aus dem Second Hand oder von meinem Vater) anzuziehen. Denn jetzt war ich eben „alternativ“ und machte das zum persönlichen Stil und fühlte mich damit ganz wohl. Auch setzte ich in diesem Alter bewusst auf den Besitz einer Levis Jeans und eines Levis Sweatshirts (die ich beide solange trug, bis sie auseinanderfielen), um wenigstens ein kleines bisschen an die anderen anschließen zu können. Doch der eigentliche „Trick“ lag darin, es mit der Assimilation insgesamt eher aufzugeben. Mir wurde es zum ersten Mal egal, was andere über mich dachten und als ich in der Abizeitung den Titel „die mit den freakigsten Klamotten“ abstaubte, war ich stolz darauf. Ich war ich. Wie ich sein wollte und konnte. Die ersten sieben Jahre war ich nur gewollt, nicht gekonnt gewesen.

Aus der Distanz betrachtet wundert es mich heute nicht. Über die Mode in der DDR gibt es eine eigene Episode des Podcasts „Staatsbürgerkunde“. Und ich spare mir darauf verweisend einmal die Ausführlichkeit. Fest steht aber, dass die Mode der DDR anders war und auch vom Westen nicht selten belächelt. Die Kleidung war, wenn sie nicht gerade aus dem „Exquisit“ kam, wenig vielfältig oder gar glamourös. Nicht jede_r war so stilvoll wie Katharina Thalbach, als sie 1974 von Sibylle Bergemann fotografiert wurde (zu sehen in einem Youtube-Video). Aber: Dass wir im Vergleich mit dem Westen eher … unmodisch aussahen, das war gerade uns Kindern bewusst.

Vor der Wende, in meinem Fall vor unserer Ausreise, sah das noch anders aus: Unsere Mutti fanden wir hübsch (und das war sie natürlich auch!) und unsere Kleidung gefiel uns gut, so wie sie war (wenn sie nicht gerade kratzte oder juckte, wie so manche Strumpfhose – aber das dürfte ein sehr internationales Problem sein). Das, was ich als „normal“ kennengelernt hatte, war nun aber nicht gerade deckungsgleich mit westlichem Geschmack. Und so merkte ich nach dem Umzug in den Westen unterbewusst schon recht früh, dass ich nicht so ganz „reinpasste“. Dieses Gefühl wurde in den Anfangsjahren nach der Wende nur bestärkt: Jeder Besuch im Osten, bei den Verwandten, den Cousinen, den Freunden, machte es schlimmer. Wie „schlecht“ dort alle angezogen waren. Zumindest fand ich das plötzlich. Es war mir schrecklich peinlich. Dennoch hatte ich nie gelernt, wie das „richtig“ ging, wie man sich im Taubertal eigentlich anzuziehen hatte. Alle taten es ja, als sei es das Selbstverständlichste auf der Welt (alle Einheimischen zumindest). Bourdieu bringt das Problem mit dem Begriff Habitus auf den Punkt:

„Wer den Habitus einer Person kennt, der spürt oder weiß intuitiv, welches Verhalten dieser Person verwehrt ist.“

Die Rönicke aus der DDR

So wie ich war, wollte ich viele Jahre lang nicht sein. Doch das lag nicht nur am Habitus. Hinzu kamen die Klischees und Stereotype über Ossis. Allen voran das legendäre Titelbild des Satiremagazins Titanic um die Wende, das mit der „Zonen-Gaby“. Vielleicht war dieses Titelbild gar nicht mehr nötig, um den Wessis einen Freifahrtsschein zum Lustig-machen über Ossis zu geben. Jedenfalls wurden Sprache, Klamotten, (fehlender) Geschmack, Filme und Serien, Musik und vieles mehr sehr ausgiebig durch den Kakao gezogen. Ossi zu sein war peinlich. Und es wurde von einigen Mitschülern geradezu zelebriert, sich darüber lustig zu machen. In der ersten Klasse wie auch nach dem Wechsel aufs Gymnasium in der fünften Klasse, fanden sich immer ein paar Kinder, die sich der kursierenden Witze dankend annahmen. „Die Rönicke aus der DDR“ – mehr musste man gar nicht sagen. Allein das reichte schon, um abzuqualifizieren.

Über wen ein solches Bild, stereotyp und voller Klischees, gezeichnet wird, der ist nur schwer ein freier Mensch. Immer wieder wird er auf solche Klischees zurückgeworfen sein, sich in Schubladen wiederfinden und dagegen angehen müssen. Angeheizt wurden die Klischees nicht zu knapp auch von Politikern. Zum Beispiel Harald Ringstorff, der von Kristina Schröder sogar lobpreisend und für die konservative Seele stehend zitiert wird: „Die Ostdeutschen haben eine große Sehnsucht nach Gleichheit.“ Weshalb die Ostdeutschen, nach Ringstorff, lieber alle trockenes Brot äßen, anstatt hinzunehmen, dass alle Brot mit Margarine bekämen und einige wenige sich noch Kaviar drauf schmieren könnten. Schublade auf, Ossis rein, Schublade zu. Die Emanzipation der Ostdeutschen aus all diesen Schubladen ist, so scheint mir, noch lange nicht geschafft. Die Inklusion in ein gemeinsames Deutschland ist genauso misslungen, wie sich Deutschland mit der Inklusion diverser Kulturen immer schwer tut. Und gefühlt sind ja immer die anderen das Problem: Ihr Habitus klebt an ihnen.

 

(1) Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Suhrkamp 2012 (22. Aufl.)


25 Lesermeinungen

  1. 20thStreet sagt:

    Was tun mit den Unterschieden?
    Angesichts der subtilen oder nicht subtilen Unterschiede gibt es zwei Fragen: Erstens, was man tun kann, sich anzupassen und ob dies überhaupt möglich ist. Zweitens, wie eine Gesellschaft mit diesen Unterschieden umgeht.

    Es ist die zweite Frage, die mich mehr interessiert. Beispiel: als ich als Student ein Praktikum in einem Unternehmen machte, bedeutete man mir, dass an der Universität ja alles “Theorie” sei (Naserümpfen), aber das sei hier völlig unbrauchbar, denn im Unternehmen sei schließlich alles “Praxis”. Kurz, ich war ein unbrauchbarer Idiot. Warum nicht etwas Freundliches wie: willkommen, wir zeigen Ihnen gern, was wir hier machen; oder: wir freuen uns über Ihr Interesse; oder gar: uns interessiert auch Ihre Perspektive, vielleicht haben Sie eine Idee, die wir noch nicht hatten. Über einen fremden Dialekt kann man sich lustig machen, oder man kann sich dafür interessieren, woher der andere kommt. Auf eine fremde Kultur kann man entweder neugierig sein, oder man kann abwertende Bemerkungen machen. Man kann fragen, wie jemand mit weniger Geld sein Leben gestaltet, oder man kann sich überlegen vorkommen und ihm das iPhone vor die Nase halten. Und auch, wenn man nun kein riesengroßes Interesse am Verschiedenartigen hat (man muss sich ja nicht für jede andere Kultur interessieren, und man hat ja auch nicht immer die Zeit oder Kapazität dazu), anstatt mit Abfälligkeiten kann man doch jedenfalls mit freundlichem Desinteresse oder sogar desinteressierter Freundlichkeit reagieren.

    Was treibt die Menschen nun dazu, die unterschiedlichen Habitusse mit so viel Bösartigkeit zu belegen? Und selbst wenn diese Bösartigkeit irgendwie “natürlich” sein sollte: was hindert sie daran, diese zu verbergen und mit der Freundlichkeit und Höflichkeit zu reagieren, die einer zivilisierten Gesellschaft zur Verfügung stehen?

    • marco-herack sagt:

      selbstversicherung
      die meisten menschen hängen auf dem was sie sind fest. es gibt keinen aufstieg, höchstens ein drohender abstieg. wer sich also erhaben fühlen will, muss sich ggü. anderen abgrenzen und damit als “besser” definieren. das erlaubt es auch, auf der aktuellen position zu verharren und sie zu ertragen.

    • chig sagt:

      Es lohnt sich,
      zwischen Habitus und Dummheit zu unterscheiden… ;) Wer Ihnen erzählt hat, Ihre theoretischen Kenntnisse aus dem Universitätsstudium wären in der Praxis untauglich, hat mit Sicherheit weder Ahnung von der Praxis noch irgendetwas im Unternehmen zu sagen…

    • nitramred sagt:

      Das Spannende an den Anderen
      Ein treffender Kommentar, vielen Dank. Ich habe eine ähnlich Ost-West-Biographie wie Kathrin, die Erfahrung weicht aber dahingehend ab, dass ich nicht diesen verletzenden Spott kennen gelernt habe. Natürlich war auch ich “anders”, aber überwog in meiner Grundschul- und später der Gymnasiumsklasse dann die von Ihnen erwähnte Neugier meiner Mitschüler_innen und vielleicht habe ich selbst parallel auch damals noch stärker versucht, ein “Wessi” zu werden (was vermutlich nicht so richtig geklappt hat, aber für die Menschen in meiner Umgebung auch nie ein Thema war – auf meinen Klassenfotos hatten wir alle schlimme Klamotten in den 90ern an und furchtbare Frisuren). Ich hatte und habe immer noch sehr gute Freunde aus diesen Schultagen, die unsere Herkunft nie zum Anlass für Häme genommen haben. Ich glaube, durch Zufall hat die Konstellation hier besser gepasst – Kathrins Artikel zeigt mir aber, dass es auch ganz anders hätte sein können, auch bei mir. Heute gehe ich noch offener mit meiner “best of both worlds”-Biographie um und freue mich darüber, zwei “Systeme” gekannt zu haben bzw. zu kennen, das eine zwar nur kurz, aber die Erfahrung und Erinnerungen daran möchte ich trotzdem nicht missen.

  2. KassandraWahrheit sagt:

    Sie verwechseln hier im Wsten Einiges und betrügen sich selbst, auch mit wieviel Betrug ...
    ..sie sich gerade nach der bereichert haben, gerade weil sie sich dann über die Ossi lustig gemacht haben ohne zu merken wie doof sie selbst sind. Und vor allem haben sie nach der Wende nicht mal gemerkt, dass sie sich mit kriminellen eingelassen haben. Und die Westdeutschen haben enorme Wahrnehmungsstörungen, weil sie sich spiegeln aber das Echo nicht aushalten und ja keine Kritik. Und sie denken nur weil sie in der BRD geboren sind, sind sie von Haus aus besser. Darüber haben sie gar nicht gemerkt, was ihnen fehlt und wie krank sie selbst sind. Vor allem können sie alle nicht rechnen, weder die Banker, noch die Leute die weiter fröhlich von Subventionen leben. Selbstwahrnehmung und Fremdwahrnehmung sind gestört. Und sie haben die DDR idealisiert, einen Staat der Pleite ging, weil es für Kinder alles umsonst gab. Wohnungsvergabe nur wenn Kinder kamen, ect. haben sie in der BRD übernommen, statt erst Mal selbst zu arbeiten.

  3. Azathoth sagt:

    Man kann den Zonie aus der Zone holen-
    Aber man kann nicht die Zone aus dem Zonie holen.

  4. NiW00 sagt:

    Wundervoll
    Vielen Dank!
    Ihr Beitrag erinnert mich an folgende Begenheit:
    Ich (Student aus dem Osten) unterhielt mich vor kurzem mit einer “Westfrau” im Rahmen einer Wohnungsbesichtigung.

    Diese war am Ende des Gesprächs äußerst verblüfft, als ich anmerkte aus Sachsen-Anhalt zu kommen.

    Sie sagte verblüfft: “Das merkt man ja gar nicht!” – Die Frage ist nun: Wie sollte meine Reaktion ausfallen? Soll ich “danke” sagen? :)

    • Werlauer sagt:

      Normal
      Das ist mir mehr als einmal passiert. Früher ging das aber auch umgekehrt, weil ich noch naiv genug war: Auf die selbstverliebte Aussage eines Kommolitonen “Ich trage nur Benetton!” (waren die 90iger) fragte ich, und das war wirklich nur im Sinne der Auswahl gemeint, “Wird das nicht ein bißchen eintönig?”

      Ich habe die eigentliche Ebene der Aussage damals gar nicht verstanden.

    • KassandraWahrheit sagt:

      DAs Problem ist...
      …das die jüngeren Leute die dann gebildeter sind auch nicht mehr so den Dialekt sprechen. Ich habe hier Leute aus Mecklenburg Vorpommern kennengelernt, die mich baten nicht darüber zu sprechen, dass sie aus Mecklenburg Vorpommern kommen, sie sprechen eher norddeutschen Dialekt. Der Grund warum ich es niemandem erzählen sollte, weil sie selbst den Kontakt zu den Eltern abgebrochen hatten, weil dies in der NSU vor Ort sind. Und dann sind sie in den Westen gezogen. Und bemerkten nach kurzer zeit, wie ausländerfeindlich die Nachbarn, die Hausmeister, die Vermieter sind. Hier im Westen! eine Nachbarin von uns tönte laut. “De Ossis müsste man alles verreiben!” DAs Milieu ist klar, langzeitarbeitslose, Trinker, die eigenen Kinder nie gearbeitet, plötzlich dann mit 40 Jahren 2 Kinder, alle den ganzen Tag zu Hause. Es gibt eine Studie aus der zeit der hohen Arbeitslosigkeit in Deutschland, wahrscheinlich kurz vorm dritten Reich, diese Studie heißt. “Die Marientalstudie”. Diese trifft auf Deutschland heute genau wieder zu. Nur das es heute neben dem Ersatz für Arbeitslose auch das Geld für Kinder gibt. sie haben sich eine “schöne neue Welt” geschaffen, nicht mit Arbeitslagern, nein – aus ganz anderen Gründen. Das Land wo Milch und Honig fließen, alle hängen an der Brust der Kanzlerin und deren Mitbestimmer im Bundestag die bereitwillig diese Gelder weiter auszahlen, aus angeblicher Mutterliebe. die Ostdeutschen haben den Westen okkupiert, mit ihrer ganzen Einstellung. Die Rentner vorher haben nie etwas gleistet, angeblich, nein sie müssen sich selbst darstellen, im Wahlkampf. Und sind angeblich Kinderfreundlich und ökologisch!

    • Azathoth sagt:

      Selbstverständlich mußt Du Danke sagen!
      Man kann Stolz sein, nicht sofort als Zonie aufzufallen.

  5. sanctum.praeputium sagt:

    Abwärtskompatibilität vs. Aufwärtskompatibilität/ Freiheit von und zu
    Ein sehr guter Artikel!

    Man kann den ganzen beschriebenen Problemkomplex auch über die Perspektive von Wahlfreiheiten betrachten – als Freiheiten von oder zu etwas -, statt nur auf Klassenunterschiede, die sich durch Einkommensunterschiede etablieren können, abzustellen.
    Fast jeder Akt, sei es nun ein Sprach- und/oder Handlungsakt, kann als ein Unterschied betrachtet, konstruiert oder rekonstruiert werden. Das wiederum ist von den Möglichkeiten des Akteurs und vor allen Dingen von den Möglichkeiten des Betrachters abhängig.
    Der große Vorteil, den Menschen genießen, die “gebildet” und/oder wohlhabend sind, ist die Abwärtskompatibilität ihrer Handlungsmöglichkeiten, wohingegen die anderen Leute fast nicht spielerisch mit mit sich, anderen und komplexen Situationen umgehen können. Diesen Leuten steht eben keine Aufwärtskompatibilität zur Verfügung.
    Betrachtet man die Sache also aus der Perspektive von Möglichkeiten zur Fähigkeit des Spielens verschiedener Sprach- und Handlungsspiele, dann wirkt das Einkommensniveau nicht mehr als absolut wirksames Regulativ – es ist aber als Medium, dennoch universell wirksam.
    M.a.W.: Mehr Geld erweitert im ökonomischen Bereich die Wahlfreiheiten.
    Um aber die unscharfe Unwichtigkeit des Geldes zu betrachten, betrachte man “Neureiche”, die sich durch dumm-pöbelhaftes Verhalten in ihren Wahlfreiheiten selbst limitieren (-weil sie es nicht anders wissen/können), oder diejenigen, die schon seit vielen Generationen sehr wohlhabend sind und über der Zurschaustellung ihres Reichtums stehen, was man ihnen eben nicht ansieht und auch nicht ansehen soll.

    Ein Habitus ist jedenfalls nicht unbedingt etwas, was einer Prägung entspricht, er lässt sich also beobachten, verschwindet also nicht im blinden Fleck. Gerade im Bereich der Kleidung lässt sich durch ein Copy&Paste-Verhalten der Habitus austricksen – in einen neuen, gewünschten Habitus würde man quasi hineinwachsen. Allerdings müsste man sehr sprachbegabt sein, um sein Idiom, was eher als “Prägung” betrachtet werden kann, willkürlich zu ändern. Meistens endet das in einer kleinen Sprachkatastophe.

    Interessant wird hier auch die Aussage Elias´, dass die Gruppe der Aussenseiter nach den “schlechtesten” ihrer Mitglieder eingeschätzt wird. Und dass die Gruppe der Etablierten nach den “besten” ihrer Mitglieder eingeschätzt wird. Und das ist zutreffend für die Selbst- und Fremdeinschätzung der jeweiligen Gruppenmitglieder.

  6. shakadelic sagt:

    Erst dachte ich,...
    nicht noch so ein Armer-Ossi-Besser-Wessi-Artikel. Aber dieser ist nicht so klischeehaft und hat die Situation gut beschrieben. Ich stamme aus dem tiefsten Westen, wohne im Norden und habe Freunde, die (auch) aus dem Osten stammen. Nach der Wende war es wie beschrieben, die “Ossis” waren erkennbar. Ich vom Lande war in der Großstadt genauso erkennbar. Heute, und das ist die gute Nachricht, erkennt man unsere Unterschiede allenfalls noch etwas im anklingenden Dialekt, heute bin ich für diejenigen, die ich neu kennen lerne, ein Großstadtkind und die neuen Attitüden im Umgang mit “gehobener” Gesellschaft ist in meinen Habitus übergegangen. Diese Veränderung macht mich nicht besser, aber flexibler als jene, die sich nie verändern mussten oder wollten. Und, mal ganz plastisch ausgedrückt, egal, woher man kommt, was man macht oder wer man ist: Beim Kacken machen alle die Beine krumm! ;-)

  7. Werlauer sagt:

    Homogene Gruppen und die anderen
    Das, was Sie beschreiben, kann ich nachvollziehen. Diese Mechanismen sind aber meiner Meinung nach nicht allein auf Ost/West beziehbar. Jemand, der aus dem Ruhrpott kommt, wird in Düsseldorf ähnliche Akklimatisierungsschwierigkeiten haben und jemand aus Bayern wird in Hannover immer aus dem Rahmen fallen. Nur an Stellen, an denen nicht homogene Gruppen für ein homogenes Gefüge sorgen (z.B. Großstädte) sondern ein heterogenes Gesamtbild herrscht, werden Unterschiede nicht so wahrgenommen (da sie allgegenwärtig sind).

    Der Effekt, den Sie beschreiben ist auch keine Einbahnstraße, denn selbst wenn man die Codes erlernt hat, wird man sie nur schwer als “natürlichen Lebensraum” empfinden und muss deshalb immer mehr Aufwand erbringen, sich in die homogene Gruppe zu integrieren. Das können sicher auch Sozialaufsteiger beschreiben, die sich plötzlich in Gruppen wiederfinden, die aus gewachsenen Strukturen hervorgegangen sind – z.B. ein Arbeiterkind, das plötzlich Vorstand ist und zwischen den ganzen Vorstandstöchtern und -söhnen steht: Einen schönes Beispiel ist in diesem Zusammehang der kleine Satz “Ich hasse Opern.” – Dem Arbeiterkind wird dieser Satz als Beweise seines Banausentums angerechnet werden, dem Vorstandsnachkommen als legitime Meinung, weil von einer umfassenden Bildung in diesem Bereich ausgegangen wird. Umgedreht (kam manchmal beim Wehrdienst vor) wird sich ein großbürgerlicher Spross in einem Arbeitermilieu ebenfalls völlig ausgegrenzt vorkommen, weil er die Codes nicht kennt.

    Und dennoch – ich finde, Sie sollten dankbar für diesen Unterschied sein. Er versetzt Sie ja erst in die Lage, hinter die Kulissen zu blicken, Mechanismen zu sehen und begreifen zu wollen. Ihr Leben ist dadurch mit Sicherheit bewuster, als das der in eine homogene Gruppe “eingeborenen”.

  8. Kerstinfrau sagt:

    So wahr
    Die Aussagen treffen nicht nur auf Ost- und Westdeutsche zu, sondern sind auch auf die Klassenunterschiede innerhalb Westdeutschlands zu. Das Kind aus dem Arbeiterhaushalt, das es aufs Gymnasium geschafft hat, hatte vielleicht nie Klavierunterricht, auch nicht ab der sechsten Klasse.
    Eine andere Ursache für die Unterschiede zwischen West- und Ostdeutschen ist vielleicht auch, dass diejenigen, die vor 1945 Geld hatten und Kultur und Geschmack für sich beanspruchten, frühzeitig in den Westen gegangen sind. Geblieben sind, sehr verallgemeinernd ausgedrückt, die, denen der Wagemut und das Selbstbewusstsein für einen Neuanfang in der Fremde fehlten.
    Oder ist das ein neues Vorurteil?

  9. katrin-roenicke sagt:

    das stimmt vermutlich
    @wolfgang schlage:
    ich hatte darüber einmal ein Gespräch mit einem im Taubertal geborenen Menschen. Der hat ähnliche Mechanismen zu spüren bekommen – weil er grün, alternativ oder sonstwie “unpassend” war. auf dem Land sind ja solche “wie rennt *die* denn rum?” oder andere Bemerkungen ja auch sehr üblich.
    dennoch: initial wurde einfach durch direkte Inbezugnahme auf meine Ost-Herkunft beim Hänseln schon deutlich, dass es auch darum ging. die Klassenfrage kam dann eben noch oben drauf.

    Meine Eltern erinnern sich übrigens an all das ganz anders und widersprechen mir ziemlich stark.

    viele Grüße
    Katrin Rönicke

  10. 20thStreet sagt:

    Sehr schön beobachtet - aber man muss nicht aus Ostdeutschland kommen
    Auch ich erlebe diese subtilen Ein- und Ausgrenzungsmechanismen in Deutschland als sehr stark, und ich komme nicht aus Ostdeutschland, sondern aus Hamburg: wenn man nicht so ist, wie man den anderen gemäß sein soll, lassen sie es einen merken: die bösartigen Bemerkungen, die ich in Hoheluft-West über Epperdorfer (noch mehr über Eppendorfer*innen*!) gehört habe – 2 km Luftlinie entfernt und mit einen milden Unterschied im Nettoeinkommen -, haben mich schon erstaunt und auch erbost. Ein Bekannter von mir kam von Bremen nach Hamburg; dem haben sie richtig eingeheizt.

    Am wohlsten habe ich mich witzigerweise in den USA gefühlt, wo ich jahrelang gelebt habe und wo ich diesen Mechanismus nicht so stark empfand. Entweder ich war dort als Deutscher so ein Außenseiter, dass es schon nicht mehr darauf ankam, oder aber (und das nehme ich eher an), die US-Gesellschaft ist einfach toleranter und hat ein weiteres Herz. (Das letzte gilt vermutlich weniger, wenn man schwarz ist, aber das bin ich nicht.)

    Es wundert mich nicht, dass es mit der Ausländerintegration hier nicht so gut klappt. Neben den harten Problemen (Sprache usw., die ich nicht leugnen will), gibt es noch die weichen Probleme, die mehr mit der Attitüde als mit der Sache zu tun haben.

    Insgesamt ein sehr schöner, gut beobachteter Artikel. Danke!

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