Wostkinder

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Die Wahrheit liegt irgendwo zwischen Ost und West.

“Propaganda” sind immer die anderen

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Es ist dieser Tage schwer, Verständnis und Empathie für Russland aufzubringen. Das muss auch nicht sein, derbe Wörter sind okay, wie Viktor Pelewin zeigt. Ein differenziertes Bild sollte es aber sein.

Es wäre übertrieben und falsch, zu behaupten, das Russlandbild, das die westlichen Medien verbreiten, sei nichts als Propaganda. Das Wort „Propaganda“ wird in der momentanen Situation ohnehin viel zu oft benutzt – von allen Seiten. Propaganda sind immer die anderen. So ist im Guardian zu lesen, russlandfreundliche Berichterstattung sei eben nichts als ein Erfolg der russischen Propaganda – gewissermaßen einer Krankheit, die um sich greift, und der immer mehr Menschen zum Opfer zu fallen scheinen. Die Gemüter erhitzen sich entsprechend wie im Fieber.
Nicht von Fieber, sondern von Krieg spricht der Autor Ralf Pauli in der ZEIT – denn das bringt sicherlich mehr Klicks. Ein „Medienkrieg“ sei das nämlich und man könne derzeit sehen, dass es den westlichen Weltsendern BBC und CNN so gar nicht schmecke, wenn aus Katar, Moskau und Peking Medienoffensiven entspringen, die weltweit nicht wenig Beachtung bekommen.

© The Presidential Press and Information Office; CC-BY-SA 3.0Dieses Foto stammt vom präsidialen Presseservice des russischen Präsidenten Putin und zeigt ihn von seiner besten Seite zur Eröffnung der Winterspiele in Sotschi 2014

Es ist sicherlich richtig, dass unsere Medienlandschaft sehr häufig unterkomplexe, einseitige Perspektiven einnehmen, wenn es darum geht, das Verhalten Russlands und die Krise in der Ukraine zu vermitteln, zu beurteilen und zu kontextualisieren. Nicht immer, aber häufig, hangeln sich die Berichte entlang eines altbekannten Gut-Böse-Schemas. Dass alle Seiten in diesem Fieberwahn ihren Dreck am Stecken haben, das wird nicht allzu oft thematisiert. Umso gewinnbringender ist es, den kultigen und bekanntesten zeitgenössischen Autor aus Russland zu Hand zu nehmen und Abstand zu den tickernden Nachrichten zu gewinnen. Sich einzulassen und auf gewöhnliche Fragen ungewöhnliche Antworten zu bekommen. Was ist das für ein Land, was sind das für Menschen? In Viktor Pelewins Büchern steckt eine einfache Botschaft: Dieses Russland ist mehr, als nur ein alter Gegner aus Kaltkriegsjahrzehnten, der heute so geschwächt und arm ist, dass ihm außer Selbstüberschätzung und Größenwahn nichts mehr bleibt. Und dieser Westen ist weniger überlegen, als er selbst von sich denkt.

Da wäre zum einen „Das heilige Buch der Werwölfe“, das bereits 2006 auf Deutsch erschien und in dem vordergründig eine etwas raue, dafür aber umso abenteuerliche Liebesgeschichte zwischen einem Werfuchs und einem Werwolf dargestellt wird. Pelewin gelingt es meisterhaft, die alte Dichotomie zwischen gut und böse aufzulösen. Denn in dieser modernen Sage sind sie alle irgendwie böse, und alle irgendwie bestrebt, gut zu sein. Deswegen bekommen auch alle ihr Fett weg: Pädophile, Englische Aristokraten, Gewöhnliche, Nabokov-Verächter, der Apparat, Unternehmer und die Polizei; oder das Geld – das Schmiermittel des Kapitalismus – das Russland nach dem Zerfall der Sowjetunion bis zur Unkenntlichkeit verändert hat. Über das Geld befindet A Huli, deren Name im Russischen der “Schimpfsprache”angehört, ein Ausdruck mit unaussprechlich tiefem Niveau[1]:

„Ein Bekannter von mir sagte einmal, das Böse lasse sich heutzutage nur mit Geld besiegen. Eine interessante Beobachtung, wenn auch aus metaphysischer Sicht nicht ganz korrekt: Nicht von einem Sieg über das Böse kann die Rede sein, sondern von der Möglichkeit, sich vorübergehend davon loszukaufen. Ohne Geld aber hat das Böse dich binnen zwei, drei Tagen fest im Griff, das ist eine verbürgte Tatsache.“[2]

Wenn jemand sich fragt, wie Russland sich im Kapitalismus so eingefunden hat: Ich glaube, dieser Satz könnte es gut auf einen Punkt bringen.

© Nikolai Alekseev, CC-BY-SA 3.0Pelewin hat auch eine sehr interessante Ansicht über die Ursachen der Homophobie in Russland, wie sie hier zutage tritt: Nikolai Alexejew beim Slavic Pride am 16. Mai 2009. Zwei Polizisten stoppen Nikolai Alexejew und seine Braut, einen transsexuellen Aktivisten aus Weissrussland, und fragen nach seinen Papieren.

Pelewin ist ein mit der politischen Ideengeschichte, der Philosophie und der Literatur überaus vertrauter Autor. Er hangelt sich in seinem Werk von Oswald Spengler zu Heidegger, über die Philosophen des Zen-Buddhismus wieder zu Nabokov. Es ist ein fröhliches Hin und Her und die Wertiere sprechen in ihrer Konversation untereinander so einige Schmankerl aus. So befindet A Hulis Schwester I Huli in Bezug auf die Privatisierung:

„Bei näherem Hingucken entpuppt sich die ganze Menschheitsgeschichte der letzten zehntausend Jahre als eine pausenlose Korrektur der Ergebnisse der Privatisierung.“

Die Werfüchse müssen es wissen, denn sie begleiteten diese Zehntausend Jahre Menschheitsgeschichte. Sie sind uralt, auch wenn sie aussehen wie 17-Jährige Lolitas. Was an Pelewins Büchern außeralltäglich ist – zumindest wenn man sich ansonsten in den hiesigen Medienwelten und Talkshowdebatten informiert – ist die Treffsicherheit der Beschreibung bei maximaler Rotzigkeit. Sein Werk „Tolstois Alptraum“[3] ist ein Paradebeispiel für diese Kunst: Graf T., also Tolstoi, wird in einem Roman auferstehen, den ein typischer neuzeitlicher Russe verfasst, unter den Maximen der heutigen Prämissen für belletristische Millionen-Seller. Kapitalismus pur – also Blut und viel Sex, seltsame mystische Begebenheiten, noch mehr Sex, dramatische Kampfszenen und ausgefeilteste Waffen. Leider unterliegt die Arbeit an diesem Buch einigen kapitalistischen Turbolenzen, die allesamt der arme Tolstoi auszubaden hat. Unter anderem soll plötzlich kein Buch mehr daraus entstehen – denn der Buchmarkt liegt leider gerade im Sterben – sondern besser ein Computerspiel. Tolstoi wird also aus Marktlogik heraus auf Zombie-Jagd geschickt – Pelewin wählt drastische Mittel, um die Absurditäten kapitalistischer Logiken sichtbar zu machen. Die Metaphern sind oft alles andere als subtil – dafür aber einfallsreich und manchmal bombastisch. So befindet der Werwolf Alexander, ein russischer Agent des FSB, dass die heutige Wirklichkeit, die Realität nach dem Kalten Krieg, einer Darmflora gleiche. Und zwar wie folgt:

„Bei Ihnen im Westen neutralisieren die Mikroben sich gegenseitig, das hat sich über die Jahrhunderte so ausbalanciert. Jeder produziert fein still seinen Schwefelwasserstoff und hält den Mund. Alles reguliert wie ein Uhrwerk, der Stoffwechsel läuft rund. Obendrauf sitzen die Medienkonzerne und speicheln das Ganze ordentlich ein. So ein Organismus darf sich offene Gesellschaft nennen.“

Klingt prima. Also warum nicht diese funktionierende Form der offenen Gesellschaft, des funktionierenden Schwefelwasserstoffproduzierens auch für die anderen anbieten? Es ist doch so ein tolles Modell? Warum den Dünnschiss – Pardon, aber das ist Pelewins Ausdrucksweise – hinnehmen, wenn man selbst den Weg der ausgeglichenen Darmflora gefunden hat? Die Antwort soll gleich folgen, aber was Pelewin hier aufzeigt, ist die Denkweise des Westens, die darauf basiert, sich durch das Profitieren an einem System, das man über Jahrhunderte langsam entworfen hat, jenen überlegen zu fühlen, die in einem Umsturz und nach der Umstellung vor einigen Jahrzehnten immer noch nicht darauf klarkommen.

© Денис Бочкарев / Denis Bochkarev, CC-BY-SA 3.0Nadezhda Tolokonnikova von Pussy Riot wird vor Gericht geführt. Der Pussy Riot Prozess gilt als Verstoß gegen die Menschenrechte. Er ist ein typisches Beispiel für den Umgang Russlands mit Meinungsfreiheit.

Im Westen fühlt man sich wirklich gern überlegen. Man hat Detektoren entwickelt, um bei anderen Missverhalten zu diagnostizieren. Alles entlang der eigenen Werte, die man selbst definiert hat. Pauli empfindet im West-Medium ZEIT die westlichen Medien nicht als unabhängig, ihre Agenda bestehe aus „Freiheit und Aufklärung und Bildung und auch der Förderung von wirtschaftlichem Fortschritt“, die man gerne als universell vertreten würde.[4] Die Frage ist, welche Haltung man zu anderen Menschen hat, welche Mittel man anwenden will, um diese Rechte durchzusetzen und wie man jene behandelt, die genauso wie man selbst an der ein oder anderen Stelle nicht ganz so genau hinschauen oder eher altbackene Werte vertreten.

Ein Weg, sich mit jenen zu befassen, die nach dem eigenen Wertemaßstab noch nicht menschenfreundlich genug in ihrem Herrschaftsgebiet walten, ist der Krieg. In Afghanistan etwa hat man nicht zuletzt die Rechte der Frauen als dankbares Argument benutzt, um den Kreuzzug gegen die Taliban zu führen, den Rachefeldzug zur Vergeltung von 9/11. Schlussendlich muss man schauen, wie sehr man durch diese Intervention eigentlich wirklich zur Verbesserung der Lage der Frauen beigetragen hat. Neue Gesetze in dem Land, das seit Jahrzehnten ein Spielball im Armdrücken zwischen West und Ost ist, lassen nicht gerade darauf schließen, dass der unter anderem von Amerika auf der Petersburgkonferenz eingesetzte Präsident Karzai die Rechte der Frauen zu seinem Hauptanliegen machen wird. Wie also vermittelt der Westen seine Werte eigentlich? Am liebsten vermittelt er sie, indem er als moralischer Sieger aus einem Konflikt hervorgeht – das Ende des Kalten Krieges war in dieser Hinsicht kein Runterlaufen wie Öl, sondern ein ganzes Ölbad. Sonderlich nachhaltig ist das aber nicht – es hat sich in der Geschichte noch nie ergeben, dass auf diese Weise ein vermeintlicher Gegner zum vermeintlich Guten bekehrt worden wäre.

© V. Vizu, CC-BY-SA 3.0Russisches Grafiti angelehnt an den Pelewin-Roman “Buddhas Kleiner Finger”.

Manchmal versucht er es aber auch subtiler, indem er in Geschichten und Filmen die eigene Überlegenheit wie nebenbei miterzählt. Bereits Ende der Achtziger war es in Hollywood-Filmen überaus üblich, Amerika als Heilsbringer und die Sowjets als kaputte, arme, kriegerische Bande hinzustellen. Erst am Wochenende sah ich mit meinen Kindern den Film „Feivel der Mauswanderer“, der 1986 von Steven Spielberg produziert wurde und mir schlackerten die Ohren: Amerika galt hier den russischen Einwanderern als die Heile Welt, wo Freiheit und Glück warten. Wohingegen Russland von düster aussehenden Reitern in Brand gesteckt wird und einfach zum Davonlaufen ist, schlichtweg gruselig. In den 90er hat man diesem Überheblichkeitstrieb nicht abgeschworen – im Gegenteil: Man verlagerte ihn stattdessen in das Weltall und machte in „Armageddon“ die russischen Kosmonauten lächerlich, sowie ihre gesamte Ausrüstung auf der MIR. Alles ist kaputt, fällt ab, funktioniert nur mit Dagegenschlagen und Gewalt – typisch russisch halt. Das Kinopublikum im 140 Millionen-Dollar-Film hatte schön was zu Lachen. Der Russe darf dann erleben, wie mit einem Shuttle namens „Independence“  und einem Bohrfahrzeug namens „Freedom“ ein typischer amerikanischer Held (Bruce Willis) die Welt rettet. Is klar ne?

Es wird Zeit, dass diesem einseitigen Bild ein neuer Kultautor entgegengesetzt wird, der von der anderen Seite mit klugem Blick die Dinge in seine Fantasy-Romanen untersucht und auseinandernimmt. Es braucht gewissermaßen eine Art „Antidot“, damit wir alle nicht immer mit der gleichen Brille auf die Geschehnisse schauen, die uns gerade gleichermaßen überfordern, verwundern und empören. Schauen Sie sich den Film Generation P an. Lesen Sie Pelewin, der die Lage Russlands in seiner Darmparabel vielleicht so treffend wie sonst keiner beschrieben hat:

„Uns hingegen haben sie Stäbchenbakterien in die Gedärme gepflanzt – aus welchem Labor, darüber streiten noch die Gelehrten -, an denen hätte Robert Koch seine helle Freude gehabt, für die gab es weder Antikörper noch irgendwelche andere Mikroben, mit denen man hätte gegenhalten können. Und so fing der große Dünnschiss an, bei dem dreihundert Milliarden Dollar geflossen sind, bevor überhaupt einer begriffen hat, was los war.“



[1] Ich umschreibe das hier so, weil es weder im Buch aufgelöst wird, noch findet sich ein Mensch, der bereit wäre, es aus dem Russischen zu übersetzen, alles, was ich habe, ist diese Umschreibung.

[2] Aus: Pelewin, Viktor: Das heilige Buch der Werwölfe. Erschienen bei Luchterhand, Berlin: 2006.

[3] Pelewin, Viktor: Tolstois Alptraum. Erschienen bei Luchterhand, Berlin: 2009.

[4] Es ist neuerdings in Mode gekommen – im Westen versteht sich – diese Werte als nicht universell zu behaupten, kulturrelativistisch zu untergraben. Davon halte ich in vielen Punkten nichts, denn auch wenn der Westen sich die Menschenrechte ausgedacht hat, so finde ich an der unantastbaren Würde, an Presse-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit, am Schutz der Privatsphäre, an körperlicher Unversehrtheit, freie Entfaltung, Bildung und Gleichheit vor dem Gesetz nichts, was ich anderen Kulturen vorenthalten wollen würde – nur weil sie andere Kulturen sind. Ich denke schon, dass es ein legitimes Anliegen ist, dass man sich wünscht, die Menschenrechte gelten für alle Menschen, weltweit.


23 Lesermeinungen

  1. becker30 sagt:

    this-ism, that-ism
    Vielen Dank für ihre wohltuend nachdenklichen Betrachtungen. Leider fallen mir gerade auch bei der FAZ einige Überschriften unangenehm auf:

    Russische Propaganda – Opfer des Kreml

    Wladimir Putins Selbstinszenierung – Die Faschisten sitzen im Kreml

    Sollen etwa jetzt die Reihen fest geschlossen werden? Wenn die Trommler durch die Lande ziehen, werden Fragende, Zweifelnde und Besonnene nicht mehr gern gesehen oder gar als Nestbeschmutzer beschimpft. Auch John Lennon hätte es jetzt schwer, mit seinem Song Gehör zu finden:

    Everybody’s talking about
    Bagism, Shagism, Dragism, Madism
    Ragism, Tagism, this-ism, that-ism
    Ism ism ism

    All we are saying is give peace a chance

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