Fast sieben Jahre lang lebte ich als Kind in einem Arbeiter- und Bauernstaat. Zwar gab es auch akademische Karrieren und hoch qualifizierte Menschen, es gab eine Elite und Leute, die irgendwie gläubig waren. Aber aus keiner dieser Gruppen stamme ich. Als meine Eltern auf die Schule gingen und sich fragten, wohin es gehen sollte, ob sie studieren sollten, oder einfach nur eine Lehre machen und dann arbeiten, da war niemand da, der ambitioniert darauf insistierte, dass sie Erfolg haben müssten. Meine Großeltern sind Arbeiter und Bauern gewesen. Und wenn meine Eltern in ihren jungen Jahren fanden, dass man es mit der Ausbildung und der Karriere und den Höhenflügen nicht so haben sollte, dass ein Gymnasium Anstrengung bedeutet, bei der unsicher ist, ob sie es wert ist, dann gab es da kein Korrektiv. Keine Mutter, die in ihrem Kind die verpasste Selbstverwirklichung nachholen wollte. Kein Vater, der seinen Sprössling darauf trimmte, in die eigenen, bildungsbürgerlichen Fußstapfen zu treten. Sie machten eine Ausbildung, sie fingen noch vor der Vollendung ihres 20. Lebensjahres an, zu arbeiten und als meine Mutter 22 und mein Vater 24 Jahre alt war, da kam ich in eine Welt, die geordnet und geregelt war und in der es nicht so aussah, als würde sich in absehbarer Zeit irgendetwas ändern: Nicht der Beruf, nicht der Ort an dem wir wohnten, nicht das Einkommen. Die Möglichkeiten waren eingeschränkt. Es gab kaum etwas, das gierig machte. Mit Anfang 20 mussten meine Eltern niemandem mehr etwas beweisen. Sie waren fertig qualifiziert. Nach Oben wollen oder drohen nach Unten zu fallen – beides gehörte in dieser Welt eher seltenen Gelegenheiten an. Natürlich war das auch schlicht monoton und Motivation musste entsprechend anders hergestellt werden, ohne Aufstiegschancen, ohne Gehaltserhöhungen, oder Provisionen, oder dergleichen mehr. Es gab deswegen die vielen verschiedenen Huldigungen des geduldigen Arbeiters, es gab Medaillen und Orden und Anerkennung auf der sozialen Ebene. Verlässlichkeit wurde groß geschrieben, aber Überflieger wurden so vermieden.
Als ich vier Jahre alt war, ging mein Vater in den Westen, aber bis zu diesem Zeitpunkt – er war nicht einmal 30 Jahre alt – hatte er einen DKW F8 restauriert und fahrtüchtig gemacht; hatte er eine Garage selbst gebaut – Stein auf Stein; hatte er eine Bibliothek zusammengesammelt, in der Kafka, Zola, Fallada, Karl May, Jules Verne und weitere Klassiker vertreten waren und so viel zu lesen bereit stand,, dass er den „Regalmetertest des westdeutschen Bildungsbürgertums“ mit Bravour bestanden hätte. Der schon lange fertig qualifizierte Mann hatte nie aufgehört, sich zu bilden und zu lernen. Bildung, das ist eben mehr, als nur ein Absitzen von Unterrichtsstunden. Das ist mehr, als bulimisch Bücher auswendig zu lernen, den Inhalt zum gegebenen Zeitpunkt auszuspucken und dafür ein Zertifikat zu erhalten. Bildung ist eine freie und selbsttätige Wechselwirkung mit der Welt, wenn diese kurze pädagogische Einordnung erlaubt ist. Es hat mit Schule, mit Qualifikation und mit Zeugnissen auf denen Noten notiert sind, zunächst wenig zu tun– dies sind eher unsere kümmerlichen Versuche und Methoden, Bildung abzubilden. Im Osten waren die Menschen, die ich kennen lernen durfte, sehr gebildete Menschen, dennoch strauchelten viele von ihnen lange, manche bis heute, als das System und mit ihm das Hohelied auf den verlässlichen, fleißigen und nicht höhenfliegenden Arbeiter, zu Ende ging. Sie gelten als schwer vermittelbar; als un(ter)qualifiziert; als falsch qualifiziert; als bildungsfern gar. Als ob der Mangel an Zertifikaten automatisch dafür stünde, auch einen Mangel an Bildung zu haben, wie sie eigentlich definiert ist:
„Der Vorgang geistiger Formung, auch die innere Gestalt, zu der der Mensch gelangen kann, wenn er seine Anlagen an den geistigen Gehalten seiner Lebenswelt entwickelt. Gebildet ist nicht, wer nur Kenntnisse besitzt und Praktiken beherrscht, sondern der durch sein Wissen und Können teilhat am geistigen Leben; wer das Wertvolle erfasst, wer Sinn hat für Würde des Menschen, wer Takt, Anstand, Ehrfurcht, Verständnis, Aufgeschlossenheit, Geschmack und Urteil erworben hat. Gebildet ist in einem Lebenskreis, wer den wertvollen Inhalt des dort überlieferten oder zugänglichen Geistes in eine persönlich verfügbare Form verwandelt hat.“
Das war 1960, Gunter Dueck hat diese Sätze in einem Brockhaus aufgetrieben und man mag kaum glauben, dass der Westen einmal eine solche Definition von Bildung kannte, eine, wie sie sogenannten „Bildungspolitikern“ fremd scheinen muss. Sie meinen mit ihrer Politik etwas anderes, verfolgen ganz klare Ziele: Der Leistungsgedanke steht im Mittelpunkt und von diesem Wort, Leistung, leitet sich eine ganze Kaskade an anderen Wörtern ab: Leistungsmessung, Leistungspotential, Leistungsprämie, leistungsstark, Leistungsträgerin, Leistungswille, Minderleister – wir sind, genau genommen, eine Leistungsgesellschaft. Schon in der Kita soll es eine bestmögliche individuelle Förderung sein, in der Schule überlassen „bildungs“bürgerliche Eltern nichts dem Zufall und wenn das Kind nicht aufs Gymnasium gehen will, übt man sozialen Druck aus, findet man Methoden, diesen Willen schon zu wecken und scheut nicht davor zurück, das Portemonnaie zu zücken, um der Nachhilfelehrerin das nötige Budget für ihre nächste Weltreise mit zu ermöglichen, denn es geht immer um die Zukunft. Es geht um das berufliche Fortkommen und ohne Abitur kommt man heute, so die zentrale Botschaft, nicht weit fort. Ohne Weltreise ist man nur ein halber Mensch, also sollte man neben dem Abitur auch einen TOEFL-Test in Erwägung ziehen, damit man möglichst effizient das eine mit dem anderen verbinden kann: kosmopolitische Bildungswege sind der Renner und wer in Harvard studiert hat ist eine gemachte Frau! Sie machen mit 17 ihr Abitur, beginnen dann sogleich ihren Bachelor in Business Administration an einer britischen Eliteuni und mit 22 werden sie auf den Markt geworfen, als Fleisch gewordene Verkörperung all der politischen Bildungsreformen der letzten zehn Jahre. Studien zeigen aber auch, dass sie nach der Schule ein großes Maß an Kreativität und Genialität verloren hatten, das vor der Schule noch konstitutiv für fast 100 Prozent aller Kinder ist.
Es gibt sie aber noch, diese Zertifikatelosen: Die „Bildungsverlierer“, Schulabbrecher, Aussteiger und Verweigerer. Ihre Motive und Geschichten sind enorm unterschiedlicher Natur, nicht jeder hat das Privileg, dass die Entscheidung erstens freiwillig fiel und zweitens nicht in Armut und Abgeschobenwerden, gesellschaftlich gemeint, endete. Ein Privileg, das André Stern leben durfte, er erlangte mit seiner Geschichte einige Berühmtheit. Er ging nie zur Schule, ist aber als Autodidakt weder Analphabet, noch arbeitslos, noch unglücklich. Anders ergeht es vielen Kindern aus sogenannten „bildungsfernen“ Schichten oder Milieus. Sie werden nicht, wie Stern, als geniale Glücksfälle angesehen, sondern als Problem. Und sie haben auch ein Problem, in aller Regel können sie sich nicht auf die Art entfalten, die sie gerne würden. Das liegt auch daran, dass man sie nicht nur nicht in der Findung ihres eigenen Weges unterstützt, sondern ihnen permanent einredet, wie falsch sie sind.
Zertifikate sind alles. Meisterbrief, TOEFL-Test, Bachelor, Master, Supervisor, Moderator und McKinsey-Beratungs-geprüfter CEO of the future. In dieser Welt gilt Leistung als Motor für alles – in dieser Welt ist China glänzendes Vorbild. Im Reportage-Film „Alphabet“ über die weltweite Entwicklung der Bildungsinstitutionen, der Schulen, der Philosophie, zeigt sich, wie weit der Zertifikate-Wahn gehen kann: Ein chinesischer Fünftklässler sitzt zuhause und seine Mutter legt sie alle auf den Tisch: Urkunden über Teilnahmen und Plätze bei Mathe-Olympiaden, Fachspezifischen Vergleichsarbeiten, Semestertests – typisch kommunistisch, könnte man sagen. Die Mutter sammelt sie alle und ist sichtlich stolz auf ihren Sohn, der nur da sitzt und schweigt. Die schiere Gegenwart dieses Kindes, das nichts sagen muss, um alles auszudrücken, jagt einem Schauer über den Rücken: Er ist ein Überflieger, aber er hat keine Sprache, mit der er etwas anderes auszudrücken wüsste, als Fachwissen und Antworten zu Aufgaben. China ist in den aktuellen kosmopolitisch inspirierten PISA-Vergleichen an der Spitze, der Film schaut hinter die Kulisse dieses Erfolges. Da wären Zahlen: Chinesische Schüler schlafen weltweit am wenigsten, lernen weltweit am meisten und haben die meisten Prüfungen, und leider bringen sie sich am häufigsten selbst um. Der Druck ist enorm. Yang Dongping ist Professor für Pädagogik in China, er berät unter anderem die Chinesische Regierung in ihrer Bildungspolitik, doch er hat im Gegensatz zum Deutschen Vertreter des PISA-Konsortiums, Andreas Schleicher, wenig optimistische Worte für das, was in China seit der Öffnung hin zur Marktwirtschaft und dadurch zur steigenden Konkurrenz, passiert. Er blickt auf eine Gruppe spielender Kinder abseits der typischen städtischen Schulen, Kinder von Bauarbeitern, so am Rande der Gesellschaft, wie das, was man hier „bildungsfern“ nennt. Diese Kinder, so Xang Dongping, würden sich noch kindertypisch verhalten, sie lachen, sie spielen und rennen quiekend durch die Gegend. Man kann davon ausgehen, dass unter diesen „bildungsfernen“ Kindern die Suizid-Rate beim Übergang in die Hochschulen einmal nicht so hoch liegen wird, wie sie es unter chinesischen Schülerinnen und Schülern seit Jahren ist.
Die westliche Welt hechelt aber diesem Vorbild hinterher. Erst waren sie seine eigenen Erfinder, denn dass Bildung in der Schule mit Qualifikation verwechselt wird, hat hier eine sehr lange Tradition. Aber China hat uns, wie in vielen anderen Bereichen auch, überholt. Es hat mit der Einführung des Marktwirtschaftlichen Kapitalismus schnell begriffen, worum es geht: Konkurrenzdruck von Anfang an, bis in die kleinste Zelle der Gemeinschaft im Sinne globaler ökonomischer Wettbewerbsfähigkeit. Früher einmal, da sei das nicht so wichtig gewesen, da seien die Menschen nicht in Konkurrenz zueinander, sondern vielmehr sehr gleich gewesen, eine Gleichheit, die neben der notwendigen Qualifikation auch ein großes Maß an Bildung ermöglichen konnte, erklärt Yang Dongping in „Alphabet“. So wie eben auch mein Vater ein sehr gebildeter Mensch ist – und das beziehe ich nicht auf den Meisterbrief, den er in unseren ersten Jahren im Westen machte.
Verweigern, sich ganz einfach verweigern.
Das Schlimme an jedem politischen System ist, dass es versucht, allen staendig Verantwortung einzublaeuen: den anderen gegenueber, uns selber gegenueber, der Natur gegenueber.
Dabei schafft es diese Gesellschaft nur, aus unbedarften Kindern systemgerechte Mitglieder zu formen.
Das allerletzte Mittel der Konditionierung ist dieser sich selbst entlarvende Satz “Ich will doch nur dein Bestes.” Und das bekommen sie dann schliesslich auch – die Seele.
Der Ausgleich erfolgt durch buntbedrucktes Papier, mit dem all jene implantierten Traueme gekauft werden koennen. Wenn man sich besonders anstrengt, ist vielleicht jedes Jahr sogar der Erwerb des neuesten Modells moeglich; zum Ueberleben zwar voellig unnuetz, aber immerhin.
Wozu das alles eigentlich noch?
Waehrend der zu klein werdende Planet immer mehr unter produziertem Muell aechzt, die Ressourcen immer weniger, die Menschen jedoch immer mehr werden, kristallisiert sich die letzte und allverpflichtende Aufgabe heraus: wie bekommen wir die selbstgeschaffenen Probleme noch “in den Griff”.
Strengt euch an, heisst es. Die Zeit wird knapp. Ihr sollst nicht erkennen, ihr sollt lernen und zwar genau das, was wir euch vorsetzen. Wir brauchen dringend Agrochemiker und Fracking-Spezialisten.
Wir sind eine globale Gemeinschaft, toent es, aber bei den seltenen Erden in Osten und Afrika hoert der Spass auf.
Weitere 100 ertrunkene Boat-People aus Nordafrika? Come on, denen muessen wir helfen, denn mit jedem Ertrunkenen oder Geretteten, der unseren Staatssaeckel belastet, koennen wir den Regenten in Afrika einheizen: Wir und nur wir muessen die Rechte ueber die Rohstoffe besitzen, mit denen wir in Billiglohnlaendern Produkte herstellen lassen, die die ganze Welt sabbern macht.
Das Produkt mit dem ich schreibe, wird nur noch selten fuer langwierige Bildbearbeitung benutzt. Will auch nicht mehr den neuen “Work-Flow” mit dem letzten “Software-Update” erarbeiten, oder versuchen, die neueste Betriebsversion vollstaendig zu begreifen. Es ist schlicht und einfach vorbei – es wurde zu einem Werkzeug degradiert; ein bisschen Kommunikation, ein paar Berichte, und das war´s.
Eine der Kameras und der DIN A3-Drucker wurden gegen ein Fernglas fuer die Wanderungen umgetauscht, die letzte hat noch den Wert einer guten aufrollbaren Sonnenfolie.
Und wenn die Krise entgueltig die Menschen in den Megacities aufruettelt, sitze ich hoffentlich weitweg in einer Huette und habe manchmal etwas Zeit zum Tagebuchschreiben. Jedenfalls solange, wie die Bleistifte und das Papier reichen.
[…] Ökonomisierung der Bildung – Wostkinder […]
Sauber!
Die Analyse passt. Weiter so, ansonsten kommt uns der gesunde Menschenverstand abhanden.
...
Gestern hatte ich noch eine Unterhaltung zum obigen Thema.
Dabei kristallisierte sich heraus, dass viele eine Art Bildungsteilung vollziehen. Eine Berufsbildung und eine Privatbildung, wobei beide dann noch in Kategorien unterteilt sind. Die Übergänge sind selbstverständlich fließend, aber auf die Frage, welche Bildung ihnen wichtiger sei, meinte die Mehrheit, die Privatbildung sei ihnen die wichtigere.
Empirie ohne Evidenz, trotzdem fand ich das Ergebnis interessant. Veranschaulicht es doch, dass je nach Aufgabenstellung diese oder jene Bildung eingesetzt wird und – weitaus interessanter – auch die Auswahlkriterien sehr oft dieser Wertung unterliegen, was zu weiteren Folgerungen führt.
Der gleiche Mensch
Wehrte Frau Rönicke
Ihrer Analyse folge ich weitgehend. Ich bin mir allerdings in den Schlussfolgerungen nicht ganz sicher. Deshalb ein paar Fragen:
* Sind Sie wirklich sicher, dass eine menschliche Gemeinschaft (als Ganzes) in einem Zustand der Gleichheit bleiben kann? Wenn das so wäre, dann gäbe es keine Bestrebungen, sich hervorzuheben (Mode, Sport, Politik(!), …). Meine These ist: Egal wie Sie starten, es werden sich Hierarchien bilden. Gut ist, wenn es parallel mehrere gibt und die Reihenfolge der Menschen nicht in jeder Hierarchie gleich ist (dadurch wird Kompensation von Misserfolgen möglich).
* Sind Sie sicher, dass wir China in der Stringenz der Anwendung der eigenen Lehren wirklich Paroli bieten werden? In unserer individualisierten Gesellschaft scheint mir das unwahrscheinlich. Wahrscheinlich ist, da stimme ich Ihnen zu, dass wir in 20 Jahren von den seelenlosen Apparatschiks Anweisungen erhalten, die heute stromlinienförmig von ihren Soccermoms auf die Superkarriere vorbereitet werden und die mit 18 feierlich die Kontaktliste von Papa überreicht bekommen.
* “… in aller Regel können sie sich nicht auf die Art entfalten, die sie gerne würden …”: Gibt es eine Bildung ohne Erziehung? Wer ist für die Erziehung zuständig? Kann man diese Zuständigkeit auf Institute übertragen? Wechseln dann die Erziehungsziele (in unserem fragmentierten Wertesystem) mit den Regierungen?
* Glauben Sie wirklich, die heutige Menschheit teilt sich nicht in Kollektive auf, die in Konkurrenz zueinander stehen? Und wie verhält man sich gegenüber einem Kollektiv, dem Ausgleich nicht so wichtig wie der eigene Vorteil ist? Und was folgt daraus für die Leistungsfähigkeit des eigenen Kollektivs?
Jeder ländlich aufgewachsene ältere Mensch kennt die unbeschwerten (auch bildenden) Momente, in denen die Welt unter Abwesenheit von Erwachsenen erfahren und entdeckt wurde. Diese (autonome) Erfahrung von Selbstwirksamkeit machen die heute urban aufwachsenden Kinder nicht mehr oft, zumindest nicht physisch. Das liegt meiner Meinung nach an der heutigen Seltenheit von Kindern und ihrem damit gestiegenen Wert und der damit einhergehenden intensiveren Betreuung. Ich bin gespannt, welcher Typus Mensch aus dieser Situation entstehen wird.
Viele Grüße
Günther Werlau
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Lieber Herr Werlau,
danke für Ihre Anmerkungen. zu Ihren Fragen:
“Sind Sie wirklich sicher, dass eine menschliche Gemeinschaft (als Ganzes) in einem Zustand der Gleichheit bleiben kann?”
nein – das will ich auch gar nicht. Das wäre für mich dann auch keine Bildung. Ich denke auch nicht, dass das, was in der DDR an Schule geboten wurde, sinnvoll war. Darüber hat Herr Herack glaube ich schon geschrieben, und darauf werde ich auch noch einmal kommen. Kurz gesagt, war die Planerfüllung aber bis in die Schule hinein ein Mantra. Wie es vor der Öffnung zum Kapitalismus in China genau war, kann ich nur erahnen. Als ich während meines Studiums ein Semester lang einen Schwerpunkt auf dem dortigen Bildungssystem hatte, war es schon so extrem auf Leistung eingestellt.
“Sind Sie sicher, dass wir China in der Stringenz der Anwendung der eigenen Lehren wirklich Paroli bieten werden?” hier würde ich mich ihrer Antwort anschließen.
“Gibt es eine Bildung ohne Erziehung? Wer ist für die Erziehung zuständig? Kann man diese Zuständigkeit auf Institute übertragen? Wechseln dann die Erziehungsziele (in unserem fragmentierten Wertesystem) mit den Regierungen?”
Bildung und Erziehung sind zwei verschiedene Dinge. Bildung passiert im eigenen Kopf, das kann nur der Mensch selbst, sich bilden, das kann niemand für einen Menschen übernehmen. Und Erziehung passiert durch äußere Einflussfaktoren, Mitmenschen – es sind eigentlich alle Menschen mitzuständig, die mit einem Kind zu tun haben. Alleinige Zuständigkeit für Erziehung kann in meinen Augen keiner Instution übertragen werden. Was Schulen machen, ist Wissen vermitteln. Das ist dann noch einmal ein drittes. Und Sozialisation passiert dann in Hinblick auf ein Einpassen eines Menschen in die Gesellschaft. All das sind verschiedene Begriffe. Sie spielen ineinander und in unseren jetzigen Institutionen werden verschiedene dieser Bereiche abgedeckt – zentral aber ist das Wissen, das merkt man auch dem Lehramtsstudium an.
Meine Kinder sind Stadtkinder und ich sehe an ihnen sehr vieles, was Sie beschreiben. Wir versuchen daher immer aktiv, diese bildenden Momente mit Natur bei den Großeltern, im Wald (ist zum Glück nur wenige S-Bahnstationen entfernt) und Berg- oder Ostsee-Urlauben zu kompensieren. Es gibt aber auch in den Städten so etwas wie Wildnis. Nur lassen Stadteltern kaum zu, dass ihre Kinder unkontrolliert diese Wildnis erkunden – zumindest bis zu einem gewissen Alter, vielleicht etwa 8 Jahre.
Schöne Grüße
KR
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Bildung allein nützt gar nichts. Selbst hochgebildete Menschen können die schlimmsten Verbrechen begehen und den größten politischen Unfug anrichten. Nicht Abschlüsse, Zertifikate und akademische Grade sind das Problem. Was vielmehr fehlt, und Bildung erst wirksam macht, ist eine ethischer Grundkonsens. Die sehr deutsche Unart, selbst für Emotionen am liebsten ein Katasteramt einrichten zu wollen und alles mess- und nachprüfbar zu machen, werden wir so schnell nicht mehr los. Hauptmotiv politischen Denkens und Handelns ist bei uns immer noch Angst, nicht Lebens- oder gar Zukunftsvertrauen. Ob konservatives Elitedenken oder sozialistisch angehauchte Gleichmacherei, am Kern des Bildungsproblems gehen alle Theorien vorbei: Wir sind keine Gesellschaft im Sinne des Wortes, sondern ein Nebeneinander egozentrischer Individuen. Das neoliberale Weltbild mag dies noch verstärken, ursächlich ist es aber nicht. Man hat über den wirtschaftlichen Erfolg leider völlig vergessen, dass die durch unsere unheilvolle Geschichte entstandenen psychischen und seelischen Schäden sich über Generationen weiter vererbt haben. Bildung heute ist ein Produkt der Großeltern, Bildung morgen wird unsere Hinterlassenschaft sein. Und wenn es nicht gelingt, neben der formalen Bildung Grundwerte menschlichen Zusammenlebens zu vermitteln, wird diese Erbschaft keine segensreiche sein.
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Sehr geehrter Herr Schlag,
danke für Ihren Beitrag. Sie sagen “Hauptmotiv politischen Denkens und Handelns ist bei uns immer noch Angst, nicht Lebens- oder gar Zukunftsvertrauen.” Im oben genannten Film “Alphabet” sagt ein Protagonist etwas sehr ähnliches, nämlich dass es zwei Grundprinzipien gebe: Liebe und Angst. Die Angst sei die meistgenutzte und er setze auf die Kraft der Liebe. Dieser Protagonist ist Pablo Pineda Ferrer – den sollten Sie kennen lernen! Er wird ihnen vielleicht gefallen.
Mit den besten Grüßen,
KR
Sehr richtig, und doch nicht
Ja, wir brauchen viel mehr klassische Bildung. Anspruchsvolles, was die Jungen früh in Berührung bringt mit dem tanzenden Stern, was die Menschen überhöht und ihnen eine vage Ahnung der Perfektion aufzeigt, sie mit dem Göttlichen in Gedanken setzt, und nicht so ein seichtes Geplätscher, das eine Generation von Leuten wie Richard David Precht und Juli Zeh hervorgebracht hat.
Das Problem ist, daß die sog. Geisteswissenschaft m.E. völlig verkommen und verlottert ist. Alles nur noch haltloses Gefasel, das auf völlig irrigen Annahmen basiert. Lauter Studenten, die Malte, Birger, Severin usw. heißen und sich für intellektuell halten, weil sie LK Deutsch hatten, wo sie irgendeine kurzhaarige Germanistin indoktriniert hat. Das endet dann auch alles irgendwann bei der Böll-Stiftung, oder deren Brüdern im Geiste.
Das, was wir heute Geisteswissenschaften nennen, gehört einfach nur abgeschafft. Niemand braucht das. Es hilft auch niemandem. Es zeugt nur eine Klasse von Möchtegernen, die Rest ihres Lebens daran scheitern werden, ihrem eigenen Anspruch an sich selbst auch nur halbwegs gerecht zu werden. Niemand braucht diese Geisteswissenschaften.
Was wir brauchen, ist eine Renaissance, eine Rückbesinnung auf einen klaren und stringenten Auftrag der Schule. Wenn ich das alles lese, was man heute den Schülern an weltanschaulicher Indoktrination vorsetzt… Gegen Rassismus, Homophobie, für Inklusion, für Europa, gegen Sexismus und natürlich für Feminismus, die Schule als Brutstätte einer utopischen Gesellschaft, an der schon die Erwachsenen gescheitert sind.
Die Schule soll Wissen vermitteln und Lernerfolg feststellen. Beides findet in immer geringerem Maße statt. Das Niveau des Abiturs etwa hat in den letzten Jahrzehnten derart gelitten… Und kontrolliert werden Leistungen auch nur noch in Maßen…
Ob man in dieser Gemengelage dann verschult oder auch nicht, ist dann im weiteren auch ziemlich egal.
Herzlichst, Schmidt
Nixht die Marktwirtschaft, im Gegenteil!
Dass Bildung nicht dasselbe ist wie das Sammeln von Zertifikaten ist wohl war. Falsch ist an diesem Artikel die Behauptung, die Verdrängung der Bildung zugunsten von Zertifikaten sei eine Folge der Marktwirtschaft. Im Gegenteil! In Deutschland ist die Schuldbildung fest in staatlicher Hand, Wettbewerb hat kaum eine Chance. Der Glaube an die Zertifikate ist ein Produkt staatlich verordneter Bildungsreformen. Mehr Markt würde unserem Bildungswesen gut tun, denn dann könnten Eltern sich für Institutionen entscheiden, die echte Bildung vermitteln.
Großbritannien als Beleg: freier Markt führt nicht zu Bildung
Leider kann ich – als Dozentin an einer Londoner Universität – nur vor “mehr Markt” warnen. Studenten werden in Bildungsangebote angeworben um damit die Universität mit aufgeblähtem Management und Verwaltung zu finanzieren. Schlechte Noten, ehrliche Beratung auch bei zweifelhafter Eignung für den Studiengang werden vom “Management” nicht unterstützt. Wer seinen Job halten will, zieht mit am Strang und schleppt frustrierte Studenten durch das Studium und tiefer in die Schulden, den umsonst ist das Ganze nicht. Nebenher werden britische Bildungsangebote – als “Franchise” – ins Ausland exportiert, u.a. auch nach Deutschland. Warum man dort unbedingt einen britischen Bachelor-Abschluss erwerben möchte, ohne jemals in GB gewesen zu sein? Schleierhaft. Die Lehre gestaltet sich übrigens eher schulartig und hat mit dem Humboldtschen Bildungsideal auch nicht mehr viel gemein. Aber wenigstens lassen sich, wenn kein Raum ist für kreative, kritische, gewagte Antworten, Fragen und Denkexperimente, Leistungen gemütlich messen und in Ordnern abheften.
Der Artikel hat einen wahren Kern. Man muss kein Kommunist sein, um zu erkennen, dass Bildung ein Wert an sich ist, der sich nicht in den Dienst der Wirtschaft stellen muss, sondern der Gemeinschaft und dem Individuum zu einem bestmöglichen Leben verhelfen soll – im finanziellen aber eben auch spirituellen Sinne.
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vielleicht ist die Marktwirtschaft nicht das Problem – nein, sicher ist sie es nicht. So wollte ich das nicht verstanden wissen. Die Entwicklung hin zum Turbokapitalismus ist das Problem, die Ökonomisierung aller gesellschaftlicher Bereiche, die Unterordnung allen menschlichen Schaffens und wirtschaftliche Interessen – das ist das problem.
Danke, dass Sie mich zu dieser Verklarung veranlasst haben.
Einen Schönen gruß
KR
Mein Gott
Immer diese Untergangs-Propheten.
Schluck
Die diesen Artikel gemachten Aussagen, lassen mir einen Schauer über den Rücken laufen. Gerade wenn man sich daran erinnert, wie man als Kind auf dem Land über die Felder gerannt, auf Bäume geklettert und in den Ställen gespielt hat. Erst recht wenn man mit etwas mehr Lebenserfahrung weiß, dass es auf die formalen Abschlüsse und die darin erworbenen Kenntnisse nicht in erster Linie ankommt.