Kind sein ist nicht immer leicht. Nachdem ein Kind in die Welt geworfen wurde, ist es dieser Welt und seinen Erwachsenen hilflos ausgesetzt. Der einzige Schutzwall sind die Eltern, zumindest sollten sie es sein und natürlich erfüllen Eltern diese Funktion nicht immer. Wie auch? Sind sie doch selbst dieser Welt und ihren übergeordneten Zwängen ausgeliefert.
Während meines Aufwachsens waren es drei verschiedene Welten, in denen ich groß wurde. Den Hauptteil meiner Kindheit verbrachte ich der großen Stadt Berlin, meinem Geburts- und Wohnort. Die Weite der Stadt führt zu einer sonderbaren Form von Freiheit, in der tendenziell vieles möglich ist. Weil man sich nicht füreinander interessiert. In der Selbstwahrnehmung der Stadtbewohner nennt sich das „Toleranz“ und sie loben sich gegenseitig für diese Lebensart. Doch es ist eigentlich nur Ignoranz. Gerade für Berlin kann festgestellt werden, dass sich durch die Wende wenig geändert hat. Die Menschen leben nebeneinander und treffen gelegentlich aufeinander.

Von Berlin aus fährt es sich schnell nach Cottbus, in dessen näherer Umgebung meine Großeltern eine Datsche besaßen. Mein Opa hatte dieses Wochenendhaus selbst gebaut. In der Nähe eines Sees gelegen, fuhr man dort gerne hin und traf meist Menschen, die ebenfalls aus der Stadt kamen. Die Hütten sind mehr oder weniger in einem Wald gelegen, in dem sich der ein oder andere Pilz finden lässt. Mein Opa führte mich öfters durch diesen Wald und wusste an jedem Baumstamm oder Grashügel die verschiedenen Insekten, Käfer und Pilzarten zu erkennen und zu erklären. In der Nähe ist auch heute noch ein Stausee gelegen, der vor allem im Sommer einen großen Zuspruch findet. Es fällt mir bis heute schwer, eine Analogie für diese Siedlungen aus Wochenendhäuschen zu finden. In der DDR bedeutete der Besitz solch einer Datscha eine Form von individueller Freiheit und der Möglichkeit, etwas für sich selbst zu erschaffen. Eine Art Urlaub vom Volkseigentum. Zugleich waren diese Siedlungen aber auch „DDR pur“. Jeder kannte jeden. Es gab wenige bis gar keine Geheimnisse und der Platz, den man sein eigen nennen durfte, war beschränkt. Ab- und eingegrenzt. Ich fühle mich in Biotopen wie diesen bis heute zutiefst unwohl, weil sie einem 24 Stunden am Tag abverlangen zu funktionieren.
Meine dritte Erlebnissphäre befand sich auf dem Lande. In einem kleinen Dorf namens „Teicha“, in dem meine geliebte Uroma lebte. Gefühlt wohnten dort für mich immer 50 Menschen. Erst im zarten Alter von 33 Jahren erfuhr ich, dass es wesentlich mehr Einwohner gab. Wohl um die 220. Obwohl mir als Kind die Welt immer viel zu groß vorkam, stand dieses Dorf für das Gegenteil. Es war mir zu klein und man stand sehr früh auf. Die Tage zogen sich ins Land, sie wollten nur langsam enden. Irgendwann war der Heuboden erkundet, die Eier unter dem Hintern der Hühner wegstibitzt und die „Kartoffeln geerntet“. Ich schwang mich dann meist aufs Fahrrad und fuhr durch die Gegend. In den Nachbarort. Dort war das Grab meines Uropas, den ich nie kennengelernt habe. Ich goss es dann und pflegte es ein wenig. Während ich mir auf diese Art die Zeit vertrieb, erntete ich damit eine allgemeine Anerkennung, die bis heute nachwirkt.

Als Kind meiner Zeit war ich in allen drei Sphären auf etwas angewiesen, was man heute „analoges Spielzeug“ oder auch die Fähigkeit zur Selbstbeschäftigung nennt. Mit Holzklötzen, Wäldern, Feldern, Tonbandaufnahmen, Bällen oder den stets kurz geschorenen Wiesen Marzahns. Steine, Stöcke, Seen. Was man alles so findet, wenn man auf den Boden guckt. Das änderte sich im Jahre 1989. Aber nicht, weil damals die Mauer fiel, sondern weil Anfang dieses Jahres mein Opa starb. Er vermachte mir einen Brotkasten (meint den Heimcomputer C64) mit dem bei uns im Hause zunächst niemand etwas anzufangen wusste. Doch das sollte nicht von Dauer sein und seitdem war meine Kindheit zwar nicht gänzlich befreit von dem analogen Krimskrams, doch der Computer spielte eine größer werdende Rolle.
Die Spiele meiner Kindheit waren von einer gewissen Gradlinigkeit geprägt. Vor allem die im Vergleich zu heute sehr schwache Hardware ließ nicht viel zu und so musste sich Software im Speziellen und Spiele im Besonderen auf das Wesentliche konzentrieren: eine leichte Handhabung bei zugleich süchtig machendem Spielprinzip. Diese leicht gesagte Formel gilt bis heute als Erfolgsgarant. In besonderem Maße (und Ausmaß) galt dies für mich bei dem Spiel Nebulus.
Es ging beim Spielen gar nicht so sehr um die Highscorelisten, sondern um das Spiel selbst. Doch bis heute haben sich die Listen als Motivationselement in Spielen gehalten. Sie verändern das Spiel. Da wird nicht einfach nur durchgespielt, sondern auch „strategisch gestorben“ um auch noch den letzten möglichen Punkt aus der Spielwelt zu pressen. Das heißt, der vorgegebene Rahmen des Spieles muss in Perfektion bewältigt werden. Das gilt am Beispiel Nebulus für die zeitlichen Aspekte ebenso wie für das Abschießen von Bällen, Dreiecken und Fischen sowie die Nichtberührung des Gegners. Das Spielprinzip kann als „fair“ bezeichnet werden, da der Spieler in dem Spiel selbst gut sein muss, um erfolgreich zu sein.
Nebulus wurde 1987 veröffentlicht. Es ist ein Spiel, wie es heute nur noch selten[1] produziert wird. Dies liegt zum großen Teil an der technischen Entwicklung. Die Möglichkeiten sind enorm gestiegen und es ist nicht mehr notwendig, ein Spiel räumlich wie geistig so zu begrenzen, wie das seinerzeit sein musste. Grafikpracht und komplexe Spielwelten sind gefragt. Doch das kostet. Der Ausgabenführer ist „GTA V“ mit 265 Millionen Dollar. Geld, das ein Publisher vom Endkunden gerne zurückhaben möchte. Im Fall von „GTA V“ wurden bereits am ersten Verkaufstag 800 Millionen Dollar eingespielt, hier ging die Rechnung auf. Spiele wie dieses kosten bei Neuerscheinung 60 bis 70 Euro.
Ein anderer Grund ist das sich aus diesen Verkaufspreisen ergebende Konsumentenverhalten. Auch Menschen mit einem begrenzten Budget wollen spielen und somit an dieser Gesellschaft teilhaben und mitreden können. Per Internet ließen sich eine Zeit lang recht unkompliziert die neusten Spiele, teilweise noch vor Erscheinen, kostenlos herunterladen und nutzen. Etwas fummelig, aber auch für Laien durchaus machbar. Besonders schlimm trieben es die Konsumenten in Südkorea, weswegen sich die dortigen Hersteller zur Schaffung alternativer Geschäftsmodelle genötigt sahen. Es entstand das, was man heute „free2play-Spiele“ nennt. Das sind Spiele, die komplett kostenlos gespielt werden können. Die Spielmechaniken werden von den Entwicklern so gestaltet, dass der Spieler einen Anreiz hat echtes Geld auszugeben. Sei es für Zeitersparnis (schnelleres Vorankommen im Spiel), ein hübscheres Aussehen der Spielfigur oder andere Verbesserungen.
Es funktioniert. Einer der großen Anbieter dieser Branche, King Digital Entertainment (Candy Crush Saga), hat im Jahr 2013 rund 568 Millionen Dollar Gewinn eingefahren. Wie der Farmville-Erfinder „Zynga“ zeigt, hat dieses enorme Einkommen schnell ein Ende, wenn die aktuellen Trends verpasst werden. Die Entwicklung selbst ist ein Glücksspiel, bei dem die ganz großen Summen winken. Wenn ein Modell denn funktioniert, ist es wesentlich eintragsreicher als herkömmliche Bezahlspiele. Kein Wunder also, dass diese Form von Geschäftsmodell eine schnelle Verbreitung fand.
Free2play-Spielen kann man sich schlecht entziehen, denn sie haben sich mittlerweile als eine Art Standard für Geräte mit Touch-Display etabliert. Eine Gerätegruppe, die ihre massenhafte Verbreitung mittlerweile bei Kindern ab zehn Jahren findet. Das stellt Eltern vor neuartige Probleme. Während der Kauf der virtuellen Währungen noch per Einstellung am Telefon verhindert werden kann, wird es beim Installieren oder gar beim Spielen dieser Spiele schon schwieriger eine wirksame Kontrolle auszuüben. Schwieriger ist die Frage nach den Langzeitwirkungen, die der dauerhafte Beschuss von Kindern durch die Konsum-Anreize dieser Spiele haben könnte.

In „Trials: Frontier“, einem Spiel von Ubisoft, das wegen „Zeichentrick- oder Fantasy-Gewalt“ einer Altersbeschränkung von 12 Jahren unterliegt, ist ein wesentliches Spielelement eine Slotmaschine. Diese erzählt eine nette Geschichte, wie sie von den Bösen zu den Guten wechselte und nun dem Spieler Gewinne spendet. Dafür muss der Spieler nur diverse Aufgaben erfüllen. Am besten einmal stündlich. Zudem muss der Spieler nach jeder Fahrt an einem Glücksrad drehen, um Ausrüstungsteile zu gewinnen. In „Angry Birds“, einer Spielereihe, die der momentanen Popkultur zugeordnet werden kann, findet sich über die verschiedenen Abwandlungen ebenfalls ein Glücksrad. Im neuesten Teil, Angry Birds Epic, ist es zu einem bestimmenden Spielelement geworden, das über Wohl und Wehe der Ausrüstung des Spielers bestimmt. Also über den Zeiteinsatz, den er zu tätigen hat.
Beispiele wie diese lassen sich vielfach finden. Der Trend weist in eine klare Richtung. Ob die Hersteller in die Ergebnisse der Glücksspiele eingreifen kann momentan nur vermutet werden. Fakt ist zumindest, dass manche Spiele „das Glücksspiel“ nur bei laufender Internetverbindung ermöglichen. Auch eine Änderung der Gewinnwahrscheinlichkeiten ist jederzeit möglich, ohne dass der Spieler dies merken würde.
Schon die Grundlage ist absurd. Die Spielerin bekommt bei diesen Spielen Aufträge, deren Erledigung in die Länge gezogen (nicht erschwert) wird. Von dieser kann sie sich loskaufen, wenn sie reales Geld einsetzen möchte[2] oder am Rad der Lebenszeit das große Glück findet. Ohne Möglichkeit der Eigeninitiative, ganz passend zu der Umgebung, die unsere Geräte mit Touchdisplay uns bieten. Die nächste Evolutionsstufe wird die analoge und die digitale Welten wieder näher aneinander rücken. Dann verschmelzen durch „Virtual Reality“-Brillen die Wahrnehmungen noch mehr. Veränderungen dieser Art sind Momente, in denen in besonderer Weise zählt, was der Mensch gelernt hat.
Aber auch ohne größeren Rahmen stellt sich sich die Frage, warum Kinder ab 7 Jahren an einem Glücksrad drehen dürfen, das sich in einer Gesamtumgebung befindet deren Ziel es ist sie zum Geldausgeben anzuhalten. Dass derweil nicht einmal die Gewinnwahrscheinlichkeiten und Bedingungen dargelegt werden, ist vielleicht eher eine Frage der Zuordnung. Denn free2play-Spiele mit solchen Spielelementen, sollten als das bezeichnet und behandelt werden, was sie sind: Glücksspiel.
Liebe Leserinnen,
Liebe Leser,
Sie können und sollten uns auf Twitter und App.net verfolgen. Bleiben sie informiert, in dem sie uns auf Facebook liken oder die Wostkinder in Google+ Ihren Kreisen hinzufügen. Alle Podcasts werden zudem auch auf unserem Youtube-Kanal veröffentlicht.
————————————–
[1] Eine andere Art von Spiel, aber mit der gleichen Liebe ausgerüstet ist „Rock of Ages“.
[2] Einige Leser werden nun rufen: Na dann spielt doch einfach nicht! Sie haben recht, aber das ändert nichts daran, dass dennoch gespielt wird.
Ergänzung
auch der guardian beschäftigt sich mit dem thema
YouTube, apps and Minecraft: digital kids and the future of children’s media
https://www.theguardian.com/technology/2014/jul/03/youtube-apps-minecraft-digital-kids
vielen dank für den hinweis an @teraeuro
Kinder zwischen fahrenden Baumaschinen spielen lassen
Lieber Herr Herack, ich stimme Ihnen zu, wenn Sie die Nützlichkeit des von Erwachsenen unbeeinflussten Spielens mit “analogen” Materialien loben. Und ja, die heutigen Spiele sind ein Baustein, der dazu beiträgt aus dem selbstbestimmten Menschen einen pavlowschen Hund zu formen, der sich nur ganz fühlen kann, wenn er konsumiert (Huxleys “Schöne neue Welt” lässt grüßen).
Jeder halbwegs erwachsene Mensch kann auf diese Zusammenhänge kommen. Ähnliches gilt für stark vorverarbeitete Lebensmittel und deren langfristige Wirkung auf die Gesundheit, für die Wirksamkeit von Werbung im Kleinkindalter und, und, und.
Es obliegt meiner Meinung nach den Eltern und nur den Eltern, ihre Kinder vor solchen Gefahren zu schützen. Die würden ihre Kinder ja vermutlich auch nicht auf einer Baustelle zwischen fahrenden Baumaschinen spielen lassen. Mich wundert sowieso, wie heute die Betreuungsintensität für Kinder bis zum Exzess erhöht ist, aber gleichzeitig bei der Kindesentwicklung nur von 12 bis Mittag gedacht wird. (Es gibt im Netz ein schönes Bild einer Stadt – ich glaube Montreal – aus der Vogelperspektive, in dem der Bewegungsradius von 8-Jährigen der letzten drei Generationen eingezeichnet ist. Die dort schön veranschaulichte Unselbständigkeit, die wir unseren Kindern heute physisch und organisatorisch zumuten, steht in scharfem Gegensatz zum weitgehend unreglementierten Umgang mit suchtbildenden Medien.)
Gegen einen Ausweis “Vorsicht enthält Elemente von Glückspielen” habe ich nichts, da kann der Ordnungsrahmen ruhig erweitert werden. Die Verantwortung sehe ich aber dennoch weiter bei den Erziehungsberechtigten.
Verantwortung
Bei den Erziehungsberechtigten wird die Verantwortung ja ohnehin bleiben.
Es existieren für Spiele aber explizite Altersfreigaben und wenn über diese Altersfreigaben den Eltern suggeriert wird, dass alles sei schon ok so… dann wird es schwierig, die Verantwortung zuzuschreiben. Ins Casino darf man jedenfalls erst ab 18-21 (variiert je nach Bundesland).
Der für mich entscheidende Aspekt ist, dass die Eltern das Konsumverhalten ihrer Kinder an dieser Stelle nicht kontrollieren können. Einen Hinweis gibt uns der Alltag, in dem er uns zeigt welch nervendes und teilweise fürchterliches Zeugs recht unreflektiert an die lieben Kleinen rankommt. Vieles davon ist ein Lernprozess und somit erträglich. Aber…
Kinder beginnen im Alter von 12 Jahren die ersten Abwehrkräfte gegen Werbung zu entwickeln. Bis dahin sind sie dem gänzlich ausgeliefert. Anfang des Jahres wurde das “Duzen”, während der Kunde zum Kauf aufgefordert wird, bereits als Problematisch anerkannt.
https://de.gamesindustry.biz/articles/2013-07-19-bgh-urteil-zu-gameforge-free2play-modell-in-gefahr
Das Gegenkonzept dazu wäre, das Kumpelhafte über die Belohnungen einfließen zu lassen… die am Ende des Tages ja eh nur dazu dienen, den Kaufanreiz zu setzen.
mfg
mh
Das "Evolutionsrad"...
dreht trotz “Menschengegendrehung” in Richtung Vernunft…ein Glück!(s)-Rad:=)