Das gebräuchlichste Klischee, das der Ostdeutsche über sich selbst hat, ist, dass er glaubt in besonderem Ausmaß pragmatisch sein. Es ist heutzutage nahezu unmöglich, vor allem in meiner Generation, nicht auf diese Meinung zu treffen. Als Selbstbezeichnung ist der Pragmatismus erst seit rund vier Jahren in der gesellschaftlichen Sphäre unterwegs. Zuvor gab es eigentlich nur Kanzlerin Angela Merkel, der ein gewisser Pragmatismus unterstellt wurde. Aber nicht, weil sie eine Ostdeutsche ist, sondern weil sie Physikerin war. Die Frage ist dennoch verführerisch. Wer war zuerst da: der pragmatische Ostdeutsche oder Angela Merkel?
Ich selbst bin natürlich auch wahnsinnig pragmatisch. Die meisten Vorfälle meines Pragmatismus unterliegen allerdings diverser Geheimhaltungsvereinbarungen, sodass sie nicht zum Erzählen taugen. Doch durchaus zu der Beobachtung ergänzenden Selbstbeobachtung. Denn während ich über den mir von Honecker gegebenen Pragmatismus nachdachte, stellte ich fest, dass ich diesen vor allem durch mein Erleben in der westlichen Hemisphäre ausgebildet habe. Politiker, egal woher, scheinen beim Ausbilden eines ostdeutschen Pragmatismus sehr hilfreich.
Den Moment werden alle kennen, die keine Parteisoldaten sind: Man entscheidet sich, meist in jungen Jahren, bei einem heiß diskutierten Thema für die Meinung einer Partei. Vielleicht sogar für die Partei. Und dann steigt man ein, in die politische Arena. Das Individuum führt verbale Kämpfe, die sich natürlich um das große Ganze drehen. Um fundamentale Änderungen im System. Und dann kommen sie an, die Kleingeister, und hacken auf noch kleineren Details rum. Eigentlich nichts, was eine sinnvolle Verordnung nicht auch nach der Gesetzesfindung regeln könnte. Und in diesem Moment, glaubt man Folgendes wirklich: „Das muss dann noch feinjustiert werden, aber im Großen und Ganzen passt es. Da habe ich vollstes Vertrauen in unsere Volksvertreter.“

Die Realität sieht dann so aus, dass die Opfer dieser Fehler in der Gesetzgebung sich über Jahre hinweg durch alle Instanzen quälen müssen und als letzte Hoffnung auf Änderung das launige Bundesverfassungsgericht bleibt. Die Kleingeister hatten recht. Feinjustierung ist keine der Realitäten, die in der Bundespolitik eine gewichtige Rolle spielen. Beim nächsten großen wie auch kleinem Ding, spart man sich selbst dann ganz pragmatisch die Zeit und stellt fest: „Die machen eh was sie wollen.“
Erlebnisse wie dieses sind nicht auf Politik beschränkt, sie sind allgegenwärtig. Auf der Straße pinkeln nicht nur die Hunde gegen den Bordstein, aber man hat es aufgegeben. Im Büro steht die große Entlassungswelle an, aber man freut sich sie durchzuführen, da so die Chance größer ist, nicht selbst entlassen zu werden. Es ist eine Endlosschleife, in der sich verführerisch die Resignation als Lösung anbietet, doch verbirgt sich hinter ihr nur die kahle Desillusionierung der eigenen Weltsicht. Die Realität wird mit zunehmendem Alter zu einem steten Kompromiss, der zu Dingen führt die man nicht (tun) will. Sie führen dazu, dass man im weiteren Lebensverlauf vor lauter Frust die Ambition verliert, die Welt zu verbessern. Der abhängige Mensch, der zur Selbsthingabe in das Bestehende hinein neigt, gewinnt dadurch nichts weiter als einen Zynismus, der sich im tagtäglichen Handeln durch „Pragmatismus“ äußert.
Seine höchste Kür erfährt der Pragmatismus in der Kunst der internationalen Politik. In dem Reagieren auf das, was geschieht, ohne das ein Protagonist dabei das Heft in der Hand zu halten vermag. Vielmehr sind es viele Protagonisten, die auf ein Vorkommnis einwirken und in einem wilden Wust an Ambitionen und Interessen so ziemlich alles verklären. Situationen lassen sich zeitweise dann auflösen, wenn ein Hegemon das Heft in der Hand hält, sich die Macht zur Umsetzung demnach in einer Gestalt äußern kann. In der momentan zu erlebenden Welt ist das nicht mehr der Fall. Es bleibt der Reaktion im Großen, die dann in das Kleinteilige übergeht und zur Handlungsmaxime der gesamten Gesellschaft der Protagonisten wird.
Die Gesellschaften, in diesem speziellen Fall die Deutsche, ist mittlerweile so pragmatisch geworden, dass sie ganz vergessen hat, dass die Dinge nicht nur laufen müssen, sondern auch gestaltet werden wollen. Aus dem Handeln ergeben sich immer Konsequenzen, egal ob man auf sie einwirkt oder nicht. Auf den Menschen selbst bezogen, entsteht so aus dem Handeln ein steter Fluss an Tätigsein, der kein Schaffen im herkömmlichen Sinne zur Folge hat. Das Tätigsein wird zu etwas, dem niemand mehr ausweichen kann, wenn es sich mit der Allgegenwärtigkeit des Internets verbündet und das Private Tun mit dem geschäftlichen Sein vermischt. Es entsteht dabei eine neue Sphäre des halböffentlichen Seins. Die Konsequenz daraus ist nicht, dass eine Art von Kontrollverlust das Individuum dahinrafft, sondern dass es ganz pragmatisch sein Privates so gestaltet, wie es von der Ideologie der Marktwirtschaft vorgelebt und von der demokratisch legitimierten Politik übernommen wurde. Letztere gießt den Glauben in Gesetze und versieht sie mit Anreizen hin, zum vermeintlich richtigen Handeln. Dem Nutzen eines stets offenen Fensters an Möglichkeiten, das den Wind des Handlungszwangs in das Private trägt und dabei das Politische des Individuums zur Unmöglichkeit macht. Niemand weiß mehr sich zu Verhalten, weswegen alle nur noch Handeln.
Durch die öffentliche Selbstdarstellung junger Ostdeutscher wird dieser Konflikt am deutlichsten sichtbar. Man stellt sich hin und fühlt sich diskriminiert. Oder nicht ausreichend gewürdigt. In jedem Fall spendet der Westdeutsche zu wenig Anerkennung gen Ostdeutschland, das immerhin die als oder im Unrecht definierte DDR überwunden hat. „Die westlichen Systemmedien“ transportieren dieses Bild nur allzu gerne. Und natürlich findet sich immer jemand, der sein Salär durch öffentliche Aufmerksamkeit zusammenklauben muss. Es mangelt also nie an Darstellerinnen, die ihre Chance ergreifen und ihr Herz der Nation ausschütten um dann, als Incentive für die Gefolgsleute, zum Mauerfalljubiläum der Rührung anheimfallend in Tränen ausbrechen. Ein paar aufsteigende Ballons und etwas staatstragend klingende Musik reichen dafür aus. Man ist wieder konstituiert. Das erschaffene öffentliche Selbstbild gewinnt an Glaubensfundament und wird somit in seinem Sein gefestigt.

Wer in der Annahme seines Seins gefestigt ist, neigt nicht dazu es infrage zu stellen. In Bezug auf den Diskurs um „die Ostdeutschen“ wäre das zum Beispiel die Fragestellung, wie es denn kommt, dass der Saarländer über den Bayern schimpft. Oder der Bayer den Preußen nur ungern integriert und nicht wenige Hamburger noch nie in Baden-Württemberg waren. Ob sich der Hamburger also ebenso wenig für den Osten interessiert wie auch für den Westen und Süden, wird als erstrebenswerte Erkenntnis geflissentlich ausgeblendet. Die Realität spielt für die Analyse keine Rolle. Relevant ist nur das Wechselspiel aus Chancen, Darstellung und gewinnoptimierter Inszenierung. Die Rahmenbedingungen lassen es zu, fordern es gar und so wird ganz pragmatisch der bereits geebnete Weg in die Hölle gegangen.
Es scheint merkwürdig, ist aber Konsequent, dass die Grundbedingung für diese Inszenierung erst durch eine vollständige Annahme des Westens und seiner Lebensart möglich wurde. Die östliche Komplettannahme des Westens im Modus der Höchstrelevanz ist nicht wenigen Ostdeutschen der sogenannten dritten Generation in den Lebenslauf geschrieben. Diese Komplettannahme ist nicht wechselseitig, also keine Liebe, wie der Soziologe Peter Fuchs sie beschreiben würde. Sie ist eine Form von Anpassungsfähigkeit, eine Stärke des Ostdeutschen, wie es dann positiv verbrämt in der Selbstzuschreibung heißt. Von außen betrachtet ist genau dies jedoch nicht selten eine Schippe drüber und endet im selbstignoranten Versuch, der bessere Wessi zu sein, was auf der Gegenseite „lustige Sprüche“ zur Abgrenzung der eigenen Gruppe hervorruft. Die ostdeutsche Anpassung und Enttäuschung, beide im Einklang, sind eine ganz eigene Form von Ideologie, die auch dadurch entsteht, dass man sich über die Ideologie als solche hinaus wähnt. Denn man hat ja bereits ein System stürzen sehen. Man weiß um die Fluidität der Welt.
Fluide, fließend, ist aber vor allem das Tätigsein, denn es definiert das, was am Ende als System durch des Menschen Handeln erzeugt wird. Sich dem reißenden Fluss der Möglichkeiten hinzugeben, bedeutet keinen gesellschaftlichen Mehrwert zu erzeugen der über simple Akzeleration hinausgehen würde. Nur wer aktiv in Frage stellt und dagegen wirkt, eben nicht pragmatisch ist, bricht aus dem Schema Tretmühle aus und verändert die Art der sich anbietenden Möglichkeiten. So entstehen neue Erscheinungsräume und Tätigkeitsbereiche. So wie der Ostdeutsche beginnt sich der westlichen Kränkung durch eine Neudefinition des Ost-Seins zu entziehen.
Diese, unsere, Gesellschaft, bedarf dieser Erscheinungsräume und alternativen Tätigkeitsbereiche. Sie bieten die Möglichkeit der ständigen Überforderung, die sich als zeitgeistige Neurasthenie äußert, bekannt als Burn-Out, etwas entgegenzusetzen. Aus dem Schema, das nicht nur F vorgibt, auszubrechen und eine Weitung nach Innen vorzunehmen. Dabei geht es um nicht weniger als Selbstermächtigung. Früher auch friedliche Revolution genannt.
Marco Herack twittert als @mh120480.
Die Wostkinder finden sie ebenfalls auf Twitter sowie auf App.net. Bleiben sie informiert, in dem sie uns auf Facebook liken oder in Google+ Ihren Kreisen hinzufügen. Alle Podcasts werden zudem auch auf unserem YouTube-Kanal veröffentlicht.
[…] Einer meiner liebsten Artikel fand kurz vor dem Ende eine gedankliche Erweiterung. Ich danke Hannah Arendt für die vielen […]
[…] diese Erwartungen erfüllen zu können. Es verbleibt nur das Öffentliche, das sich treiben lässt und nicht mehr in der Lage ist aktiv zu steuern. Die Norm ist nur keineswegs einseitig, sie prallt ab und wirkt zurück auf die Gesellschaft […]
Pragmatismus - Praktizismus
Mein lieber junger Freund,
zum Mauerfall sind Sie noch mit dem Lampion in der Hand Gassi gegangen. Was maßen Sie sich an, über den Pragmatismus der Ostdeutschen und der älteren Menschen zu resümieren? Alte Menschen haben die Welt regiert und die Geschichte geschrieben!
Die Ostdeutschen waren nicht pragmatisch, aber als Heer von Arbeitslosen in einer ungekannten Welt des Marktes ohne Alternative. Blühende Landschaften finden sie bis heute nicht, nicht einmal mit dem Fernrohr in Westdeutschland. Der labernde Herr Pastor, die jubelnden jungen Leute auf der Mauer und die beklagenswerten Schicksale von Tausenden Opfern der Parteidiktatur sind eben auch keine 16 Millionen. Wenn in der geschichtsträchtigen Nachtsitzung des alten Bundestages im Wasserwerk zum Mauerfall von den Liberalen erklärt wurde, dass die Ostdeutschen jetzt die freien und demokratischen Wahlen als ihr politisches Hauptziel erkämpft haben und verwirklicht bekommen, so haben sie eben das nicht erhalten. Genau das verwirklichten der Liberalismus und die Konservativen nicht für die deutschen Kleinvölker. Sie wurden um die einmalige Chance für eine geschichtsträchtige Manifestation deutschen Einheitswillens gebracht, in dem West- wie Ostdeutschland um eine Abstimmung zur deutschen Einheit geprellt wurden. Kohl und Yellowpollunder ahnten, dass die Abstimmung mit 51: 49 gegen die vorbehaltlose Vereinigung ausgehen konnte. Genauso pragmatisch läuft das politische Alltagsleben ab, ohne an eine Neuschreibung einer gemeinsamen Verfassung auch nur zu erinnern.
Die von Yellowpollunder marktbereinigte Parteienlandschaft bedaure ich. Aber es erhebt sich die Frage, ob der Liberalismus zu viel Pragmatismus mit der Partei der Besserverdienenden Ostdeutschland überstülpen wollte.
Wer etwas will, der findet Wege. Wer etwas nicht will, der findet Gründe.
Der Ausstieg aus dem Alltagspragmatismus ist natürlich mit Mühen verbunden. Und trotzdem war er noch nie so einfach wie heute: Das Land wird noch nicht ganz von Konzernen regiert, aber die EU bereitet den Weg dorthin. Die Justiz ist längst nicht mehr unabhängig, aber sie muss noch so tun als wäre sie es. Die Grundrechte werden nach und nach ausgehöhlt, aber sie sind noch da.
Worauf wartet ihr?
Worauf warten Sie, Hr. Keefer?...was soll Ihre Frage bewirken?...
Shit-Storm-weg? Krieg-weg? Frieden-weg?…welche Art und Weise von “Handlungsweg” möchten Sie genau?
MfG
W.H.
Guter Beitrag und eine treffende Lesermeinung (Zander)
Lesenswert, relevant, mit Potential zum aufwecken, aufrütteln und damit verändern!
Sicherlich wird sich der Beitrag jedoch in Kürze ganz weit hinten, irgendwo in der Flut anderer Beiträge sozusagen quasi auflösen.
Solange im Sinn marktwirtschaftlicher Regeln alleine die Nachfrage über Positionierung und damit auch Wertschätzung und Verbreitungspotential eines Artikels bestimmen, werden Beiträge welche den Leser schmerzhaft an seine Versäumnisse, seine kreativen Defizite oder seine geistige Schmalspurigkeit und Bequemlichkeiten erinnern zwar veröffentlicht, aber durch entsprechendes Handling quasi unbemerkt versteckt und somit daran gehindert eine nennenswerte Wirksamkeit zu entwickeln!
Traurig und schade!
Schöner Beitrag, aber ein wesentlicher Aspekt wurde vergessen
Es ist vor allem das Gefühl der Ohnmacht, das dazu führt, dem Idealismus Pragmatismus folgen zu lassen. Das Wissen, dass man zwar per Wortlaut des GG zum Souverän gehört, aber in Wirklichkeit keinerlei Souveränität und damit Entscheidungsgewalt besitzt. Eine Wahlberechtigung ist eben keine Entscheidungsgewalt, sondern lediglich das Recht zwischen mehr oder weniger kleineren Übeln zu wählen. Und dieses Recht hat mit einer Qualifikation, die besagt man müsse 18 Jahre und deutscher Staatsbürger sein. Mehr braucht es nicht, egal wie bescheuert, radikalisiert, ungebildet oder wie kriminell man ist. Und ja, man könnte ja selbst eine Partei gründen und sich genau der Wählerschaft stellen, von der man im wesentlichen weiss, dass sie die kognitive Dissonanz mit Löffeln fressen. Mal abgesehen davon, dass man an Parteien wie den Piraten und der AfD sieht, wie unser System solche Neulinge “willkommen” heisst.
Mir ist schon bewusst, wieviele Fans dieser Handhabung einer demokratischen Ordnung es gibt. Es gibt ja auch viele Leute, die beim Trennen des Mülls das Gefühl haben, die (eigentlich ihre) Welt zu retten.
Aber letztlich ist Politik hierzulande eben tatsächlich nur für Pragmatiker interessant. Ein früher Einstieg in die Berufspolitikerkarriere schult die Phrasenbildung, die Netzwerkbildung und das Verständnis für wissensbefreite Hierachien.
Nicht Vergessen
Lieber Herr Zander,
erlauben Sie mir ein Selbstzitat:
“Es ist eine Endlosschleife, in der sich verführerisch die Resignation als Lösung anbietet, doch verbirgt sich hinter ihr nur die kahle Desillusionierung der eigenen Weltsicht. Die Realität wird mit zunehmendem Alter zu einem steten Kompromiss, der zu Dingen führt die man nicht (tun) will. Sie führen dazu, dass man im weiteren Lebensverlauf vor lauter Frust die Ambition verliert, die Welt zu verbessern. Der abhängige Mensch, der zur Selbsthingabe in das Bestehende hinein neigt, gewinnt dadurch nichts weiter als einen Zynismus, der sich im tagtäglichen Handeln durch „Pragmatismus“ äußert.”
Mein Anliegen war, die Resignation nicht als gangbare Lösung hervorzuheben, sondern zu versuchen dahinter zu schauen. Denn zwar hat man keinen merklichen Einfluss, aber wie könnte das Handeln eines einzelnen, normalen, Bürgers in einer Gesellschaft mit über 80 Millionen Bürgern auch allseits spürbar sein?
Der Anspruch ist mE zu hoch. Daher konzetrierte ich mich auf das weitergehende. Nämlich was die Folge dieser Resignation ist. Das zurück ins Glied.
mfg
mh