Im ausklingenden Jahr 2014 konnten die Menschen trotz Wendefeiern wieder beobachten, wie der Konflikt Ost vs. West eine Renaissance erlebte. Da war von einer „Neuauflage des Kalten Kriegs“ die Rede. Manche behaupten, dieser ginge vom Westen aus, andere sehen Putin als Verursacher. Ein Kalter Krieg ist das wohl kaum, aber Russland entwickelte sich im Verlauf des ausgehenden Jahres zu einem Player, der mehr und mehr als Antagonist gegen westliche Werte auftritt. Pressefreiheit, Meinungsfreiheit, Frieden und die Souveränität anderer Staaten achten – auf all so etwas scheint man dort nicht mehr viel zu geben.
Betrachtet man andere Länder Ost- und Südosteuropas, kann man ähnliche Tendenzen an allen möglichen Ecken und Enden entdecken. Autokratische Regime erstarken und lassen westliche Politiker „Besorgnis“-Arien anstimmen. In Ungarn hängt ein Großteil der Medien direkt an staatlichen Finanzmitteln und wer nicht Fidesz-freundlich genug ist, fliegt. In Mazedonien sitzt ein Journalist als politischer Gefangener in Hausarrest. In der Türkei sprechen manche von einer „Putinisierung“ der Politik, denn eine echte Opposition gibt es nicht, Bürgerrechte werden massiv eingeschränkt, wie die Proteste im Gezi-Park 2013 zeigten und auch hier werden die Möglichkeiten der Meinungsfreiheit eingeschränkt, zum Beispiel mit der Befugnis, Internetseiten ohne richterliche Genehmigung zu sperren. Dies sind drei Beispiele, in denen eine Form der Politik angestimmt und ausgeübt wird, deren demokratische Legitimation hinüber ist. Die Abwendung von der Demokratie ist eine Abwendung vom westlich geprägten Wertekanon. Ein Rückzug auf eine sehr zynische Betrachtung von Realpolitik findet statt, die Interessen sind oft rein innenpolitisch geleitet, Korruption spielt nicht selten eine große Rolle und man fragt sich, worin jetzt genau die Verbesserung im Vergleich zum vorherigen, sowjetischen Regime bestand.
Schon in der Französischen Revolution gab es ähnliche Muster. Die Rolle der sozialen Frage und wie sie dazu beitrug, der Terrorherrschaft Robespierres den Weg zu ebnen, hat Hannah Arendt untersucht. Sie schreibt im Zusammenhang mit dem Vorher-Nachher der Französischen Revolution:
„Da wurde handgreiflich deutlich, dass die Befreiung von politischer Unterdrückung wiederum nur den Wenigen die Freiheit gebracht hatte, während die Vielen von diesem Umschwung kaum Notiz nahmen, da sich die Last ihres Elends nicht vermindert hatte.“ Und: “Keine Revolution hat je die “soziale Frage gelöst und die Menschen von der Not befreit, obwohl alle Revolutionen nach dem achtzehnten Jahrhundert […] dem Beispiel der Französischen Revolution gefolgt sind und die gewaltigen Kräfte der Not und des Elends in den Kampf gegen Zwangsherrschaft und Unterdrückung geworfen haben.”[1]
Aus sicherer Entfernung sehen wir hier vor allem eines: Die Menschen wählen sich solche Regime. Wir fragen uns: Warum tun sie das nur? Wollen sie denn keine Freiheit? Wollen sie keinen Fortschritt? Ist denen Demokratie nicht wichtig?
Vielleicht würden sie all das wollen, wenn ihre basalen Bedürfnisse befriedigt, ihre Gesundheitsversorgung sichergestellt und ihre Ängste beruhigt würden. Ängste vor der Zukunft, wie sie junge Leute in Bulgarien haben müssen. Vielleicht wären die Menschen ohne ihre basalen Sorgen stärker politisiert – aber schon politisiert ist ein sehr westliches Wort. Die Armut in Ost- und Südosteuropa ist der vielleicht größte Antriebsmotor in Richtung Autokratie, die Sie, wenn Sie mögen, auch als „Putinisierung“ oder „Putinismus“ bezeichnen können. Aber das ändert nichts daran, dass wir den Menschen dort keine Alternative zu bieten haben. In unseren Assoziierungsabkommen, die wir als EU mit diesen Ländern abschließen, geht es vor allem um deren wirtschaftliche Öffnung gegenüber uns. Damit wir neue Märkte erschließen. Im Kern geht es um Privatisierung staatlicher Betriebe und Infrastruktur, Deregulierung staatlichen Handelns, Anpassung des Vergabe- und Wettbewerbsrechts und Abbau der Bürokratie. Die Folgen in Ländern, die so einen Vertrag schon mit der EU abgeschlossen hatten, waren häufig zuerst: große Arbeitslosigkeit, erhöhte Armutsrisiken, Anfälligkeit für politische Demagogen. Und hier schließt sich ein Kreis.

Angesichts der sozialen Lage in einigen osteuropäischen Ländern ist die Abkehr vom westlich-orientierten Kurs keine große Überraschung. Was hat er zu bieten, dieser Westen? Er verspricht Wachstum, Wohlstand, Gerechtigkeit, Freiheit, Demokratie und vieles mehr. Seit 25 Jahren warten die Menschen im Post-Sowjetischen Raum darauf, dass all diese Versprechungen auch für sie wahr werden. Werden sie aber vielerorts nicht. Polen geht es immer besser. Das polnische BIP hat um 3,3%, das ungarische BIP um 3,5% und das tschechische BIP um 2,0% gegenüber dem Vorjahr zugelegt. Aber in zu vielen anderen Ländern Ost- und Südosteuropas haben nur wenige vom Ende des Sozialismus profitiert. Die Korruption blüht. Die Resignation blüht mit ihr. Viele wünschen sich eine „starke Hand“.
Gleichzeitig fand die OECD Anfang des Monats heraus, dass auch im Westen das Wachstum gebremst wird. Und zwar von der Ungleichheit. Größere Gleichheit führte hingegen in Spanien, Irland und Frankreich zu mehr Wachstum. Gleichheit ist ein Wert an sich – sie muss nicht absolut sein, aber Umverteilung könnte sich auch wirtschaftlich lohnen und sozial allemal. Die Politik, die aber seit den 90er Jahren als westliches Modell favorisiert wird, trägt zu wachsender Ungleichheit bei, führt zu größeren Armutsrisiken und zu sozialen Problemen und Sorgen. Sie schiebt die Verantwortung dem Individuum zu, das „aktiviert“ werden müsse. Der Soziologe Stefan Lessenich als bezeichnet dies als „neosozial“. Es ist eine Privatisierung und Entstaatlichung des Sozialen. Lessenich fordert dazu auf, „den »aktivierenden Sozialstaat« als das zu bezeichnen, was er ist: eine im Kern illiberale Veranstaltung“ und ermuntert dazu, einen „Sozialstaat zu fordern, der sich der kollektiven, solidarischen, umverteilenden Absicherung von Individualität, Autonomie und Differenz verschreibt.“

Bekäme der Westen einen solchen Staat hin, dessen praktische Ausgestaltung jenseits solcher gutklingenden theoretischer Schlagwörter wie „kollektiver, solidarischer, umverteilender Absicherung von Individualität, Autonomie und Differenz“ unbestritten eine Mammutaufgabe sein wird, die, so sie jetzt in Angriff genommen würde, uns die nächsten Jahrzehnte beschäftigte und viele aufgeregte gesellschaftliche Debatten und Tauziehen mit den bisherigen wirtschaftlichen und politischen Eliten bedeutete; aber schaffte es der Westen, einen solchen Staat, eine solche Neuorientierung in Wirtschafts- und Sozialpolitik als Better Practice und auch als Angebot an andere, mögliche Vertragspartner zu offerieren, wäre die Lage sicher eine gänzlich andere und die Autokratie wirkte neben der Demokratie vielleicht weniger attraktiv auf die Bürgerinnen und Bürger in Ost- und Südosteuropa, als sie es derzeit tut.
[1] In: Hannah Arendt: Über die Revolution. Ungekürzte Taschenbuchausgabe. Piper, 2. Aufl. 2013.
[…] Nicht „zwischen“, drüber vielleicht! Eigentlich nichts, dem man nicht vorbehaltlos zustimmen wollte. Doch irgendwie nicht stark genug formuliert. Auch und gerade in der Behauptung, dass die Wahrheit irgendwo zwischen Ost und West läge. Nicht, dass sie identisch wäre, mit der einen oder anderen Seite, doch sie liegt vielleicht „drüber“. Das postsowjetische Regime ist kein Regime des Ostens, mal abgesehen davon, dass Russland immer schon zwischen Ost und West hin und her pendelte. Mal Peter der Große, mal Iwan der Schreckliche. Das Russland Putins ist eine westliche Macht. Die Oligarchen sind keine östliche Erfindung, nur die im Westen treten etwas diskreter auf, sozusagen auf Bilderberger-Art. Nicht die Besonderheit Russlands sollen wir erkennen, oder gar verklären, sondern seine Allgemeinheit, ja seine Gewöhnlichkeit, gerade in seinem Verhältnis zum behaupteten „Westen“. Auch und gerade ein Putin repräsentiert den „diskreten Charme der Bourgeoisie“. Doch mit der Krise des transnationalen Kapitals verliert diese Bourgeoisie ihre Contenance. Wer da „fuck the EU“ sagt, agiert nicht weniger aggressiv als des Putins Sondereinsatzgruppen in der Ukraine. Doch das als Wiederauflage der Kalten-Krieg-Diplomatie zu beschönigen, verkennt das Neue, unterschätzt die wirkliche Gefahr. Zuvor mag es eine Systemkonkurrenz gewesen sein, doch jetzt ist es eine hundsgemeine zwischenkapitalistische, ja zwischenimperialistische, Konkurrenz. Und diese ist es, und ich glaube, dass ich mich da auf Lenin beziehen darf, welche innerhalb wie außerhalb der kapitalistischen Welt für das größte Unheil verantwortlich zu machen ist. Beide Weltkriege waren von ihren Ursachen her beleuchtet, letztlich zwischenimperialistische Gemetzel, auch wenn sie im weiteren Kriegsverlauf dann einen antifaschistischen, resp. vaterländischen, Anstrich erhalten sollten. Ein Gemetzel, was auch den Charakter der bis dato vielleicht noch sozialistischen Sowjetunion verändern half. Die (östliche) Sowjetmacht degenerierte, indem sie zur Supermacht aufstieg, zu einer (westlichen) imperialistischen Großmacht. Und diese Wahrheit ist es, die Sie weder im Westen noch im Osten zu hören bekommen. Doch wir bekommen sie jetzt gerade zu spüren. […]
Nicht "zwischen", drüber vielleicht!
Eigentlich nichts, dem man nicht vorbehaltlos zustimmen wollte. Doch irgendwie nicht stark genug formuliert. Auch und gerade in der Behauptung, dass die Wahrheit irgendwo zwischen Ost und West läge. Nicht, dass sie identisch wäre, mit der einen oder anderen Seite, doch sie liegt vielleicht „drüber“. Das postsowjetische Regime ist kein Regime des Ostens, mal abgesehen davon, dass Russland immer schon zwischen Ost und West hin und her pendelte. Mal Peter der Große, mal Iwan der Schreckliche. Das Russland Putins ist eine westliche Macht. Die Oligarchen sind keine östliche Erfindung, nur die im Westen treten etwas diskreter auf, sozusagen auf Bilderberger-Art. Nicht die Besonderheit Russlands sollen wir erkennen, oder gar verklären, sondern seine Allgemeinheit, ja seine Gewöhnlichkeit, gerade in seinem Verhältnis zum behaupteten „Westen“.
Auch und gerade ein Putin repräsentiert den „diskreten Charme der Bourgeoisie“. Doch mit der Krise des transnationalen Kapitals verliert diese Bourgeoisie ihre Contenance. Wer da „fuck the EU“ sagt, agiert nicht weniger aggressiv als des Putins Sondereinsatzgruppen in der Ukraine. Doch das als Wiederauflage der Kalten-Krieg-Diplomatie zu beschönigen, verkennt das Neue, unterschätzt die wirkliche Gefahr. Zuvor mag es eine Systemkonkurrenz gewesen sein, doch jetzt ist es eine hundsgemeine zwischenkapitalistische, ja zwischenimperialistische, Konkurrenz. Und diese ist es, und ich glaube, dass ich mich da auf Lenin beziehen darf, welche innerhalb wie außerhalb der kapitalistischen Welt für das größte Unheil verantwortlich zu machen ist. Beide Weltkriege waren von ihren Ursachen her beleuchtet, letztlich zwischenimperialistische Gemetzel, auch wenn sie im weiteren Kriegsverlauf dann einen antifaschistischen, resp. vaterländischen, Anstrich erhalten sollten. Ein Gemetzel, was auch den Charakter der bis dato vielleicht noch sozialistischen Sowjetunion verändern half. Die (östliche) Sowjetmacht degenerierte, indem sie zur Supermacht aufstieg, zu einer (westlichen) imperialistischen Großmacht. Und diese Wahrheit ist es, die Sie weder im Westen noch im Osten zu hören bekommen. Doch wir bekommen sie jetzt gerade zu spüren.
Nachfrage
Sehe ich das richtig, Ihre These ist: “Weil Deutschland gegen die Sowjetunion Krieg geführt hat, wurde diese in eine imperialistische Struktur gezwängt und deshalb muss man alle Stalinopfer auch als Opfer des Imperialismus sehen. Der wahre Sozialismus/Kommunismus hätte nie so gewütet.”
Gilt das auch für die Opfer der Progrome, die während des Bürgerkriegs nach der Oktoberrevolution durchgeführt wurden? Und auch für die Opfer Stalins vor Beginn des großen vaterländischen Krieges? Gilt das für die Opfer der Kulturrevolution in China und die Opfer von Pol Pot? Wie sind die Opfer des Prager Frühlings und des 17. Junis einzustufen? Ist Nordkorea jetzt auch imperialistisch oder sind die noch sozialistisch?
Ich liebe diese Dialektik. Ich dachte die ersten Jahre meines Lebens, ich würde sie nicht leiden können, aber jetzt freue ich mich jedesmal, wenn mal wieder ein alter Kämpfer argumentativ aus schwarz weiß gemacht hat.
Zweifel an der aktivierenden Wirkung
Bringt den “Sozialstaat zu fordern, der sich der kollektiven, solidarischen, umverteilenden Absicherung von Individualität, Autonomie und Differenz verschreibt” tatsächlich die Lösung? Der Satz geht schön zeitgeistlich die Kehle runter und wärmt im Abgang, aber entsteht mit dessen Umsetzung tatsächlich ein Paradies?
Über 40% des Bundeshaushalts 2014 gehen in den Bereich “Arbeit und Soziales”; mit Abstand der größte Posten im Haushalt. Wir sind also, was die Absicherung der Individualität und Autonomie durch Umverteilung angeht, nicht ganz nackt. In der von Ihnen gewünschten Entwicklung sind wir damit schon ein Stück vorangeschritten.
Verantwortungsdiffusion, und genau die wird durch die kollektivumverteilte Absicherung auch erreicht, führt in der Regel zu weniger Verantwortungsgefühl. Die Konjunktur eines Trivialhedonismus (als eine Folge der Verantwortungsdiffusion in Union mit der fehlenden Vorprägung einheitlicher Wertevorstellungen (Individualität)), die sich heute, neben den moralisierenden Splittergruppen unterschiedlichster Coleur (Differenz) über weite Teile des “gemeinen” Volkes stabil fortsetzt, macht micht doch skeptisch, ob die von Ihnen beschriebende anziehende Außenwirkung dieses Modells wirklich erreichbar ist. Denn ich sehe nicht, wie man diese – von Ihnen grob umrissene – Ordnnung dauerhaft prosperierend etablieren kann. Zumal die Trivialhedonistin sicher ab dem Moment, ab dem ihre Möglichkeiten durch Umverteilung eingeschränkt werden, vermutlich nicht einsieht, warum sie solidarisch sein soll.
Kann man eigentlich nach den Vorstellungen von Hrn. Lessenich den Begriff “Autonomie” von “Eigenverantwortung” trennen? Falls dem nicht so ist, wo hört für ihn Eigenverantwortung auf und fängt kollektive Zuständigkeit an?
Viele Grüße
Günther Werlau
Ist eine richtig schöne Theorie. Klingt auch gut.
Müsste allerdings erklären, warum die baltischen Staaten, Polen oder die Tschechoslowakei (vor/während ihrer Aufspaltung) durch das Tal des Elends gegangen und als rechtsstaatliche Demokratien wieder aufgetaucht sind.
Müsste sich vielleicht die Mühe machen, nicht nur das “westliche Modell” anzuklagen, sondern dessen verschieden halbstarke Umsetzungen in manchen Ländern, in denen die Macht nur von einer korrupten Alite auf die nächste überging. Etwas, an dem kein westliches Modell der Welt etwas ändern würde.
Und was der schöne Hanna Arendt Exkurs dann nicht mehr brachte – dass die Franzosen zwar noch siebzig weitere Jahre brauchten, aber mit 1871 dann endgültig die Nase voll von allen autoritären Versuchen hatten. Gestriche, wegen erwiesener Unfähigkeit.
Die nahezu einzige Diktatur der Welt, die von etwas längerer Dauer sein könnte (bevor sie von Korruption zu Fall gebracht wird) ist die chinesische mit ihrem bisher gehaltenen Wohlstandversprechen. Wenn die nicht ausversehen in einen Krieg schlittert …
Nein, im Osten ist mitnichten das “westliche Modell” gescheitert. Nur erbärmliche, halbgare und verantwortungslose Implementationen. Und die waren lokal.
Gruss,
Thorsten Haupts