Blogseminar

Blogseminar

Diskutiert werden das Leben der Studierenden, aktuelle Fragen der Hochschulpolitik sowie die Zweiheit von Forschung und Lehre.

Wohnungsnot in Göttingen

Semesterbeginn heißt für viele Studenten immer noch: Wohnungssuche. In Göttingen helfen auch Billighotels und selbstverwaltete Wohnheime nicht aus der Krise. Eine Spurensuche.

***

Graffiti-Schriftzug an der Fassade eines ehemaligen Studentenwohnheims in Göttingen

Wenn die Blätter von den Bäumen fallen und sich die Straßen in der kleinen Universitätsstadt Göttingen schlagartig mit jungen Menschen füllen, dann weiß man: Es ist wieder Semesteranfang, und viele Erstsemester-Studenten befinden sich noch auf Wohnungssuche, wenn die Uni schon längst angefangen hat. Gründe dafür sind nicht nur der hohe Andrang auf dem Wohnungsmarkt, sondern zum Beispiel auch der Umstand, dass einige Zulassungen für Studiengänge erst im Los- oder Nachrückverfahren zu Semesterbeginn vergeben werden. Den Studenten bleibt somit teilweise kaum eine Chance, früher als zur absoluten Hochsaison nach einer Wohnung oder einem WG-Zimmer zu suchen.

Die Universität Göttingen zählt zum Wintersemester knapp 5600 neuimmatrikulierte Studenten, von denen rund 4000 Erstsemester sind. Insgesamt sind es rund 31.000 Studenten, die in Göttingen eingeschrieben sind – eine verhältnismäßig große Zahl für eine Stadt, die nur 120.000 Einwohner hat. Die Studentenschaft macht damit rund ein Viertel der Einwohner Göttingens aus und bildet damit auf dem Wohnungsmarkt eine wichtige Interessensgruppe. Der erste und wichtigste Ansprechpartner für studentisches Wohnen ist das Göttinger Studentenwerk. Es hält in diesem Semester 4463 Plätze in 39 verschiedenen Wohnheimen bereit. Das ist eine ganze Menge, aber bei weitem nicht genug, um allen Studenten bei Bedarf schnell ein Zimmer zu vermitteln.

Für die kurz- und langfristige Koordination der Anfragen auf Wohnheimplätze gibt es eine ellenlange Warteliste, auf der derzeit trotz mehrerer hundert Mietverträge, die in den vergangenen beiden Monaten geschlossen wurden, noch über 2000 Studenten stehengeblieben sind. Doch der Schein trügt, denn jeder, der an einem Platz im Wohnheim interessiert ist, kann sich online provisorisch auf eine Liste eintragen, sodass die Zahl auf dem Papier deutlich höher aussieht, als sie tatsächlich ist. Die Warteliste wird durch das Studentenwerk zwar alle drei Monate von nicht länger interessierten Studenten bereinigt, bleibt aber dennoch in einem unüberschaubaren Rahmen. Fest steht, dass nur rund 13 Prozent aller Studenten in einem der Häuser des Studentenwerks unterkommen können.

Bündnisse gibt es genug

Zu Beginn des Wintersemesters ist der Andrang beim Studentenwerk besonders hoch. Da die Wohnheimplätze nicht ausreichen, hat das Studentenwerk vor einigen Jahren mit der Einrichtung von Notunterkünften reagiert. Auch in diesem Jahr haben Erstsemester die Möglichkeit, für fünf Euro pro Nacht in einem Hotel in der Innenstadt zu übernachten. Das Angebot klingt verlockend, hat aber relativ enge Grenzen: Es gibt insgesamt nur vierzig Doppelzimmer, die nach Geschlechtern getrennt bezogen werden können, und das Angebot darf nicht länger als 14 Tage genutzt werden. Wer danach keine dauerhafte Bleibe gefunden hat, ist fürs Erste wieder auf sich gestellt. 

Vorfahrt für Wohnungsangebote

„Uns ist bewusst, dass die Situation schwierig ist. Das Problem ist, dass das Studentenwerk sich im Bereich des studentischen Wohnens fast komplett aus eigener Tasche finanzieren muss“, sagt Anett Reyer-Günther, Pressesprecherin beim Studentenwerk. Das Geld, welches die Studenten im Rahmen des Semesterbeitrags zweimal im Jahr an das Studentenwerk zahlen, fließe großteils in die Gastronomie und nehme wenig Einfluss auf die Studentenwohnheime. Deshalb hinkt das Studentenwerk der Nachfrage nach Zimmern gleich zweifach hinterher: Zum einen bei dringenden Sanierungen wie etwa in einem Wohnheim in der Robert-Koch-Straße, wo dringende Reparaturarbeiten an löchrigen Abwasserleitungen vorgenommen werden müssen, zum anderen bei den Neubauten. In den letzten Jahren konnte mit finanziellen Zuschüssen des Landes Niedersachsen der Bau nur eines einzigen neuen Wohnheims am Nordcampus in Auftrag gegeben werden. Entstehen soll dort jetzt ein modern anmutender Gebäudekomplex mit rund 260 Einzelappartements, die ein eigenes Bad und eine Kochnische umfassen und damit in jener Wohnform gehalten sind, die nach Reyer-Günther von Studenten heute am meisten nachgefragt werde. Darüber hinaus sieht sich das Studentenwerk, so Reyer-Günther, ohne gezielte finanzielle Förderung von Stadt oder Land nicht in der Lage, weitere Neubauten in Auftrag zu geben.

Die Stadt Göttingen wiederum beteuert, sich in den vergangenen Jahren aktiv für sozialen Wohnungsbau eingesetzt zu haben: „Die Städtische Wohnungsbau GmbH hatte im Kontext des Zuzugs von Geflüchteten Flüchtlingsunterkünfte in Uni-Nähe gebaut. Die Hälfte des Wohnraums wurde dabei für studentisches Wohnen freigegeben, um die Situation auf dem Wohnungsmarkt zu entlasten“, sagt Dominik Kimyon, Pressesprecher am Referat des Oberbürgermeisters. Zudem gebe es seit 2017 das „Göttinger Bündnis für bezahlbares Wohnen“, in dem auch das Studentenwerk Mitglied sei und das sich intensiv darum bemühe, Bauprojekte zu fördern und bezahlbaren Wohnraum zu schaffen. Was das Bündnis in den nächsten Jahren erreichen wird, bleibt abzuwarten.

Wie ordnen Studenten, die schon seit mehreren Jahren in Göttingen leben und die Wohnproblematik aktiv miterleben, die Situation ein? Jan und Felix, die ihre vollen Namen nicht veröffentlichen wollen, sind Mitglieder in der „Wohnrauminitiative Göttingen“ und haben ihre ganz eigenen Erfahrungen im Studentenwohnheim gemacht. Die Wohnrauminitiative wurde 2017 gegründet und ist ein Zusammenschluss aus mehreren selbstverwalteten Wohnheimen in Göttingen, die zwar noch an das Studentenwerk Miete zahlen, sich sonst aber um alle anfallenden Kosten und Reparaturarbeiten in ihren Häusern selbst kümmern und dafür sorgen wollen, bezahlbaren Wohnraum für Studenten dauerhaft zu sichern.

Wohnheime unter studentischer Führung

„Das Studentenwerk wollte in den vergangenen Jahren immer wieder Wohnheime schließen, die zum Beispiel als zu klein und deshalb nicht mehr rentabel angesehen wurden, weil weniger als 200 Menschen darin wohnen. Gegen solche Aktionen wehren wir uns“, erzählt Felix. Dies sei in der Vergangenheit unter anderem durch Proteste und Häuserbesetzungen gelungen, aber auch dadurch, dass die Studenten das Gespräch mit dem Studentenwerk suchten. Als Beispiel für eine erfolgreiche Kooperation mit dem Studentenwerk nennen Jan und Felix zwei Wohnheime, in denen das Studentenwerk die Mietpreise stark erhöhen wollte, was für die studentischen Bewohner nicht infrage gekommen sei. So habe man sich nach längeren Verhandlungen darauf geeinigt, dass die Studenten dem Studentenwerk die Wohnheime abkaufen und diese seither unter eigener Führung als Wohnheime weiterbetreiben.

Doch manchmal ärgern sich Jan und Felix auch einfach nur über das Studentenwerk. „Vor einiger Zeit wurde beispielsweise ein Wohnheim, das ziemlich lange leer stand, an einen Verlag verkauft, anstatt es zu renovieren und neu zu vermieten. Auf diese Weise fällt Wohnraum für Studenten weg, der schon einmal geschaffen war“, sagt Jan. Auch Mieterhöhungen auf der Seite des Studentenwerks seien dauerhaft keine Lösung, um finanzielle Nöte auszugleichen. „Man muss dabei bedenken, dass sich die Preise auf dem privaten Wohnungsmarkt auch nach den Mieten in den studentischen Wohnheimen richten. Das Studentenwerk trägt in dieser Hinsicht auch eine gewisse Verantwortung dafür, wenn die Mietpreise in Göttingen allgemein steigen“, findet Felix.

Haben die beiden Studenten weitere Ideen, wie die Situation auf dem Wohnungsmarkt entspannt werden könnte? Nicht direkt. Aber sie selbst setzen sich überall dort, wo Wohnheime geschlossen oder Mieten erhöht werden sollen, dafür ein, solchen Entwicklungen entgegenzuwirken. Auch für Erstsemester hat sich die Wohnrauminitiative vor ein paar Jahren eingesetzt, als der Andrang zu Semesterbeginn besonders hoch war: Im Garten eines Wohnheims wurde kurzerhand ein Zeltlager errichtet, in dem Erstsemester für ein paar Wochen vorübergehend einen kostenlosen Schlafplatz finden konnten. Doch das bedeutete viel Aufwand und Einsatz, und die Kapazitäten waren bald derart erschöpft, dass die Studenten das Angebot nur einmalig machen konnten.

Zur Lösung der studentischen Wohnproblematik kann freilich auch in ganz andere Richtungen gedacht werden. So gibt es zum Beispiel auch das Konzept „Wohnen für Hilfe“, wobei unter anderen das Studentenwerk in Kooperation mit der „Freien Altenarbeit Göttingen e.V.“ im Rahmen sogenannter Wohnpartnerschaften Studenten an Familien oder ältere Menschen vermittelt, denen sie beispielsweise im Haushalt helfen und dafür zu einer günstigeren Miete unterkommen. Aktuell besteht zwar nur eine Handvoll derartiger Wohnpartnerschaften, aber Anett Reyer-Günther vom Studentenwerk hält die Idee für ausbaufähig und hofft, in Zukunft mehr Partnerschaften vermitteln zu können. Auch die Stadt Göttingen versucht nach Aussage von Dominik Kimyon, generationsübergreifende Wohngemeinschaften zu fördern und bereits bestehenden Wohnraum zu sichern.

Über zwei Dinge sind sich alle Beteiligten einig: Es muss sich bei der studentischen Wohnsituation dringend etwas tun. Und das kann selbstverständlich am besten gelingen, wenn Land, Stadt, Studentenwerk und Studenten an einem Strang ziehen.