Schlaflos

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Das Familienblog der F.A.Z.

Mit einem Plastikpferd der Ewigkeit nachspüren

In der Spielwelt ergibt vieles Sinn. Auch dass das „Pferd“ ein lila Einhorn ist.

Irgendwann ist es soweit. Jedes Jahr. Noch ein Eierlikör für die Erwachsenen vielleicht, aber dann hat immer irgendeiner in der Familie die Idee, zusammen ein Spiel zu spielen. Das neue Brettspiel, das noch unter dem Weihnachtsbaum liegt, oder vielleicht doch eins von den alten – dann muss man nicht noch zehn Seiten Regelwerk studieren. Vielleicht liegt es an der kalorienreichen Ernährung oder am saisonalen Alkoholkonsum, am Dämmerlicht oder an der Tatsache, dass sehr viel mehr Menschen als sonst sehr viel länger als sonst zusammen Zeit verbringen sollen, jedenfalls gelten die sonst üblichen Ausreden in diesen Tagen nicht („Ich hab zu viel zu tun“, „Es ist schon zu spät“, „Am Wochenende haben wir viel mehr Zeit“ etc.pp.).

Vor einiger Zeit habe ich hier versucht zu erklären, warum Eltern nie wirklich mitspielen, wenn der kindliche Homo ludens zum Spiel auffordert. Das war natürlich grob vereinfachend, und wenn ich mich so selbst beobachte, mit welcher Leidenschaft und Freude ich zum Beispiel bei Risiko die Armeen meiner Mitspieler vernichte, dann glaube ich fast, dass ich mich korrigieren muss. Zumindest eine Klarstellung tut Not: Tatsächlich spielen Erwachsene auch gern, aber nur, wenn die Spiele so funktionieren wie die Erwachsenenwelt. Dazu später mehr. Zu meiner neuen Einsicht hat mir unsere jüngste Tochter verholfen sowie die Lektüre eines dreißig Jahre alten Taschenbuchs eines amerikanischen Religionswissenschaftlers.

„Papa, spielst du mit mir Pferdehof?“, fragte unsere Jüngste kürzlich. Das ist für eine Fünfjährige eine vollkommen vernünftige Frage, schließlich stand da vor uns ein bunt zusammengewürfeltes Gebäudeensemble auf den Teppich sowie ein halbes Dutzend Plastikpferde verschiedener Provenienz (Schleich, Playmobil, no name). Obwohl das nicht das erste Mal für mich war, dass ich bei „Pferdehof“ oder ähnlichen freien Spielen mitspielen sollte, erwischen mich solche Spiele immer eiskalt: Wie spielt man das? Was muss ich jetzt tun? Was sind die Regeln? Wer gewinnt wie? Und vor allem: Wie lange dauert das? Wann ist es zu Ende? Meistens hocke ich mich bei solchen Spielen einigermaßen uninspiriert auf den Teppich, greife mir ein Pferd und stoße Töne aus, die irgendwie an ein Wiehern erinnern sollen. „Papa, so geht das nicht. Du musst richtig spielen!“, sagt dann meine Tochter.

Das ist eine harte Aussage. Aber sie hat Recht. Ich kann das nicht. Nicht mehr. Ich vermute, dass es den meisten Erwachsenen so geht. (Interessanterweise verwenden die älteren Geschwister die gleiche Formulierung, wenn sie die Jüngste bei „echten Spielen“ nicht dabei haben wollen: „Die kann ja noch gar nicht richtig spielen.“ Sie meinen damit Spiele wie Risiko oder Monopoly oder Siedler von Catan, die auch manche Erwachsene gern spielen.)

Sehr selten gelingt es mir doch für einige Momente, mich auf „Pferdehof“ oder „Einhorn-Weide“ oder ein anderes freies Spiel einzulassen. Es erinnert so ein bisschen an Improvisationstheater. Die Tochter sagt zum Beispiel „Sabrina [ein Pferd, Anm. d. Red.] will heute nicht in die Schule.“ Darauf antworte ich dann mit einem anderen Pferd in der Hand: „Dann kommt jetzt das Lehrer-Pferd zum Stall.“ Und so weiter. Das alles macht Sinn in dieser Pferdehof-Welt und es ist in sich stimmig, nur ist es eben nicht vermittel- oder wiederholbar. Es passiert ganz in der Gegenwart und man kann sich nicht darauf berufen, dass eine höhere Instanz, ein Spieleentwickler, die Regeln festgelegt hat. Das freie Spiel endet übrigens nicht. Nie. Die Mitspieler stehen einfach auf, weil zum Beispiel das Essen fertig ist oder sie lieber etwas anderes machen wollen. Deshalb ist es so unheimlich für Erwachsene.

Jetzt könnte man ja sagen: Alles hat seine Zeit. „Pferdehof“ genauso wie „Risiko“. Freie Fantasiespiele ohne Ziel und Ende und ordentliche Spiele mit festem Regelwerk und mit Siegern und Verlierern. Die einen sind für die Kleinen, die anderen sind für die Großen. Und irgendwann lernen dann die Kleinen so wie die Großen zu spielen. Das bereitet auch auf das echte Leben vor, wo es ja von Regeln und Grenzen nur so wimmelt und wo es auch immer Gewinner und Verlierer gibt.

Es gibt da nur einen Haken: Vielleicht ist diese Interpretation zu bequem, um wahr zu sein. Was wäre, wenn das „freie Spiel“ nur von uns Erwachsenen wegsozialisiert wird, weil es zu anarchisch ist, zu schwer zu kontrollieren? Was, wenn das freie Spiel genauso auf das „echte Leben“ vorbereitet wie Risiko oder Monopoly? (Oder vielleicht sogar besser?) Was wäre, wenn wir Erwachsenen ganz schnell wieder das freie Spielen lernen sollten, nicht der Kinder wegen, sondern weil es für unser Leben und unseren Planeten hilfreich ist? Die Frage ist jedenfalls: Brauchen wir künftig mehr kreatives Potenzial, mehr Improvisationstalent, um unsere Probleme zu lösen – oder reicht es, wenn man die Regeln von „Mensch ärgere Dich nicht!“ verinnerlicht?

Der amerikanische Religionswissenschaftler James P. Carse hat vor über 30 Jahren unser Leben mal kurzerhand in zwei Arten von Spiele aufgeteilt: in endliche und in unendliche (James P. Carse: „Endliche und unendliche Spiele: Die Chancen des Lebens“). Ein endliches Spiel wird gespielt, um gewonnen zu werden. Die Mitspieler wollen das Spiel innerhalb der gesetzten Grenzen und Regeln für sich entscheiden. Ein unendliches Spiel wird gespielt, damit das Spiel nicht aufhört. Die Mitspieler bei unendlichen Spielen kennen zwar auch Regeln, aber diese dienen nur dazu, dass das Spiel weitergeht. Carse wendet diese Unterscheidung auf so verschiedene Bereiche wie Politik und Kultur an, auf Wirtschaft und Wissenschaft genauso wie auf das Liebesleben und Beziehungen.

Das ist vielleicht eine arge Überdehnung des Spielgedankens, aber: Bei kritischer Selbstprüfung würden wahrscheinlich viele Erwachsene zugeben, dass sie im Leben oft anders handeln würden, wenn es nicht ums Gewinnen ginge, sondern darum, dass das Spiel (setze hier wahlweise Beziehung, Beruf, Demokratie, dieser Planet, etc.) nicht aufhört. Wie sähen wohl manche Teamsitzungen oder Paarberatungen, Kabinettklausuren oder UN-Vollversammlungen aus, wenn die Beteiligten nicht aufgehört hätten, „Pferdehof“ oder „Einhorn-Weide“ zu spielen?

Es ist also eine Frage von metaphysischer Qualität, wenn Kinder einen einladen, bei ihren freien Spielen mitzumachen. Wir Erwachsene bekommen dadurch die Chance, einen alternativen Blick auf das Leben (zurück) zu gewinnen. Wir können mit einem Plastikpferd in der Hand dem Ewigkeitsgedanken nachspüren. Es darf nur um Gottes Willen kein anderer Erwachsener zugucken!