Dass es mit dem Praktikum bei der Allgemeinen Zeitung in Windhoek klappen würde, hätte unsere Autorin nicht erwartet. Sie durfte dann sogar die Wochenend-Ausgabe betreuen, besuchte Heino, den Bienen-Graf und namibische Nackt-Aktivisten.
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„Liebe Frau Bürger, nach langem Überlegen habe ich mich dazu entschieden, Ihnen statt der vier Wochen Praktikum drei Monate Hospitanz zu geben. Herzlichen Glückwunsch! Damit gehörst du nun zum Team und ich würde vorschlagen, wir duzen uns ab sofort.“
Mit dieser E-Mail begrüßte mich Stefan Fischer, Chefredakteur der Allgemeinen Zeitung (AZ) in Namibia, als neues Mitglied in seiner Redaktion. Ich hatte mich gut ein halbes Jahr zuvor bei ihm für ein Praktikum beworben, wohl wissend, dass ich keine der gestellten Anforderungen erfüllte. Ich war Studentin im vierten Semester, hatte weder „solide, praktische Erfahrungen in der Tageszeitungsarbeit“, noch ein abgeschlossenes Volontariat oder „mehrjährige Erfahrungen als freier Mitarbeiter“. Außerdem war ich vier Jahre zu jung. Eingestellt wurde ich trotzdem, als jüngste von bisher 70 Praktikanten der AZ.
Die einzige deutschsprachige Zeitung Afrikas wurde 1916 – drei Jahrzehnte lang war das heutige Namibia als Südwestafrika deutsche Kolonie – unter dem Namen „Der Kriegsbote“ gegründet und berichtete zunächst über die Geschehnisse des Ersten Weltkriegs. 1919 wurde der Name in „Allgemeine Zeitung“ geändert, heute hat die AZ eine Auflage von über 5000 Exemplaren und hat einige Abonnenten, die in Deutschland wohnen.
Meine eigene Beziehung zu dem Land im Südwesten Afrikas begann vor acht Jahren mit einer Brieffreundschaft. Aus dem Briefwechsel mit einer Deutsch-Namibierin, deren Urgroßeltern zu Beginn des 20. Jahrhunderts ausgewandert waren, wurden E-Mails, dann Whatsapp-Nachrichten und mehrere Urlaube.
Willkommen bei der AZ
Als ich im November des letzten Jahres in Namibia ankam, herrschten in der Hauptstadt Windhoek 38 Grad Celcius. Dankenswerterweise hatte Stefan Fischer mir einen Tag Akklimatisierung zugestanden, den ich nach zehn Stunden Flug schlafend in meinem Bett verbrachte. Ich wohnte während meines Aufenthaltes, wie bei meinen Urlauben zuvor, bei meiner Freundin, etwa zehn Minuten mit dem Auto von der AZ entfernt. Da es in Namibia keine öffentlichen Verkehrsmittel gibt, wie wir sie aus Deutschland kennen, war ich permanent auf Mitfahrgelegenheiten angewiesen. Meine Gastmutter brachte mich immer zur Arbeit, meine Layouterin jeden Abend wieder zurück, zu Terminen fuhr ich mit dem Taxi oder ich bat einen Kollegen, mich zu fahren.
Das ist eine der Besonderheiten, die mir schon in meiner ersten Woche in Namibia auffiel: Alle, die Deutsch sprechen, halten zusammen. Mitfahrgelegenheiten, Interviews, private Stadtrundfahrten – egal worum es sich handelte, die deutschsprachigen Namibier halfen mir wie selbstverständlich und wehrten anschließend jegliches Dankeschön ab. Außerdem kennt jeder jeden. Wann immer ich Kollegen oder meiner Freundin und ihrer Familie von einem Interview erzählte, die Reaktion war immer die gleiche: „Ach der. Ja, den kenne ich.“
Die Menschen in Namibia sind allgemein sehr hilfsbereit. Bei Interviewanfragen geben alle, nicht nur Bürger, sondern auch Regierungsmitglieder bereitwillig Auskunft. Es kann gut sein, dass das Telefon in der Redaktion klingelt und eine Frau in der Leitung sagt: „Hatten Sie wegen einer Auskunft bezüglich der Statistik des Bildungsministeriums angerufen? Die Ministerin wäre nun für ein Gespräch bereit.“ Ein Anruf, eine Mail, eine Nachfrage und es kann passieren, dass der Präsident selbst am Hörer ist. So ist es einer Kollegin passiert, die eine Nachfrage zur jüngsten Parlamentssitzung hatte. Namibier sind insgesamt sehr sorglos. Minister, die eine Stunde zu spät zur Pressekonferenz erscheinen oder Polizisten, die den Wochenbericht als SMS-Verlauf mit dem Vorgesetzten verschicken, sind keine Seltenheit.
Die AZ teilt sich einen großen, hallenden Raum mit der englischsprachigen Namibian Sun und der afrikaanssprachigen Republikein. Insgesamt 70 Redakteure schreien in den Telefonhörer, tippen auf ihren Tastaturen, unterhalten sich mit einem Bekannten am anderen Ende der Halle, stöckeln auf Pumps zum Wasserspender oder schlagen die Tür zur Cafeteria zu. Aus diesem Grund liegen auf jedem Schreibtisch monströse blaue Ohrenschützer, die normalerweise auf Baustellen benutzt werden. Sie sind nicht ganz schalldicht, sperren jedoch den größten Lärm aus.
Meine Aufgabe bei der AZ war die Wochenendbeilage, die immer donnerstags um 13.30 zum Druck ging. Ihr Layout ist größer als das der AZ, sodass sie in der Freitagsausgabe immer ein paar Zentimeter hinauslugt. Die WAZon ist geprägt von Kultur- und Jugendthemen: Musik, Kino, Rätsel, Buchrezensionen, solche Sachen. Je nachdem, ob ich Wochenenddienst hatte, blieben mir vier bis sechs Tage fürs Recherchieren und Schreiben, zumeist an der Titelstory, dem so genannten Aufmacher. Diese 7000 Schriftzeichen sind das Herz der WAZon und das Erste, was der Leser von ihr sieht. Meist verbrachte ich den gesamten Mittwoch damit, zu schreiben, Zitate autorisieren zu lassen, Fakten abzugleichen, Bilder auszuwählen und Bildrechte abzusichern. Der Leser sollte eine möglichst gut recherchierte, gut geschriebene und abwechslungsreiche Titelstory bekommen.
So schrieb ich in zehn Ausgaben über invasive Kakteenarten in Windhoek, die die heimische Flora verdrängen, einen Deutschen auf der Walz, den es nach Namibia verschlagen hatte, den Bienen-Graf von Windhoek oder ein Musikfestival in der namibischen Küstenstadt Swakopmund. Drei meiner Artikel hatten dabei einen besonders eigenwilligen Namibia-Touch.
Der Kaufhauscop und sein Biltong
Mein erster Aufmacher handelte von dem Namibier Bernd Rust, der in den 1980er Jahren nach Deutschland für eine Kochlehre ausgewandert war. Nachdem er zwischenzeitlich als Kaufhauscop gearbeitet hatte, baute er in Kempten im Allgäu ein Familienunternehmen auf, das traditionell-südafrikanisches Trockenfleisch, Biltong genannt, herstellt.
Das Fleisch bezieht Rust sowohl von örtlichen Schlachtereien im Allgäu, wo er Hirsch und Rind kauft, als auch von einem Direktimporteur. Dieser bietet unter anderem Strauß, Kamel, Zebra, Krokodil, Känguru und Bison an – alles legal gejagt und nicht gewildert, versichert er. Gewürzt wird anschließend mit einem Grundstock an Salz, Pfeffer, Essig und Koriander. Dann wird es ausgefallener. Rust mixt Schokolade mit Chili, Ananas mit Kokos oder würzt – für die mutigeren Biltong-Liebhaber – mit dem scharfen Chakalaka. In der Winterzeit ist das Biltong mit Lebkuchen- und Glühweingeschmack schnell ausverkauft. Heute finanziert Rust mit seinem Unternehmen „Bernds Biltong-Bude“ seinen Lebensunterhalt und hat vor, das Trockenfleisch auch für den deutschen Einzelhandel herzustellen. Denn Rust exportiert sein Biltong paradoxerweiser wieder zurück nach Namibia. Seit dort die Maul- und Klauenseuche ausgebrochen ist, ist vor allem sein Antilopen-Biltong sehr begehrt. Eine erstaunliche Geschichte.
Das singende Parfüm
„Du bist jetzt WAZon-Beauftragte für die Nacht des Deutschen Schlagers“ – mit diesen Worten übergab mir Chefredakteur Stefan Fischer die Verantwortung für die Berichterstattung über eine der größten Musikveranstaltungen Namibias.
Seit vier Jahren gibt es in Windhoek die Nacht des Deutschen Schlagers, eine Initiative der Stiftung Fly & Help, die Kindern in Schwellenländern Zugang zu Bildung erleichtern will. In Namibia gibt es kaum große Musikveranstaltungen mit internationalen Sängern, weshalb die Namibier jedes Jahr der Nacht des Deutschen Schlagers entgegenfiebern – ob sie Schlager nun mögen oder nicht. Und ich musste mich erst 11.000 Kilometer von Frankfurt entfernen, um in meiner sechsten Woche bei der AZ auf Achim Petry, Patrick Lindner, Peter Petrel und allen voran Heino zu treffen.
Noch vor der Pressekonferenz besuchte er die AZ-Redaktion und plauderte mit mir über meine Artikel, bevor wir in einem Exklusiv-Interview über das namibische Wetter, seinen Image-Wechsel und über Schlager als Bestandteil deutscher Kultur sprachen („Das ist wie bei der Mode. Jedes Jahr kommt eine neue Mode auf den Markt, aber eine Hose wird immer eine Hose bleiben. Das Volkslied wird immer Bestandteil unserer Kultur sein und passt sich nur seiner Zeit an“). Am Ende des Gesprächs schenkte Heino mir nicht nur einen glitzernden Totenkopfring, sondern auch ein Parfüm, das „Blau blüht der Enzian“ singt, wenn man auf den Sprühknopf drückt. Das Parfüm wurde eine Art haptischer Viralhit in der Redaktion, es wanderte durch alle Hände der AZ- und der Republikein-Redaktion, was zur Folge hatte, dass die gesamte Halle schließlich nach Enzian roch.
Auf dem Konzert selbst feierten Deutsche, Afrikaanse und Deutsch-Namibier dann einträchtig zu deutscher Schlagermusik. Die meisten waren wegen Heino hier, trugen voller Stolz Fan-T-Shirts, Totenkopfringe und schwarze Sonnenbrillen. Besonders interessant zu beobachten waren die Feierpraktiken der einzelnen Gruppen. Während sich die gut 300 Deutschen beim Nachbarn unterhakten und leise summend nach links und rechts schunkelten, standen die Namibier innerhalb weniger Sekunden grölend auf den Tischen und sangen mit Peter Petrel „An der Nordseeküste“ und mit Achim Petry den Hit seines Vaters „Verlieben, verloren, vergessen verzeih’n“.
Nach dem Konzert, bei dem viel Windhoek Lager geflossen war – übrigens gebraut nach dem deutschen Reinheitsgebot -, waren sich alle einig, dass dieser Abend „bombastisch“, „genial“ und „wahnsinnig-toll“ gewesen sei. Ich fand es eher „bizarr“, konnte meiner Kollegin aber nur beipflichten, die am nächsten Tag textete: „Windhoek außer Rand und Band aufgrund der Nacht des Deutschen Schlagers.“
„Jeder von uns ist schön“
Nacktheit in Namibia ist noch immer ein Tabu. Man findet keine Plakatwände mit Unterwäschemodels, in Familien wird, wie ich in vielen Gesprächen erfuhr, Sexualität kaum thematisiert und dass Kondome eine HIV-Infektion verhindern können, ist noch immer nicht verbreitetes Wissen – 17 Prozent der 15-49-Jährigen in Namibia sind HIV positiv, eine sehr hohe Prozentzahl.
Die dem Land eigene Prüderie hielt Julia Hango, eine Owambo, gelernte Radioproduzentin, Nudistin und Aktfotografin, nicht davon ab, einen Aktmalereikurs in Namibia ins Leben zu rufen. Auslöser waren die Universitäten des Landes, die das Zeichnen nackter Körper aus den Kunst-Seminaren verbannt hatten, weil eines der Models angeblich eine Erektion bekommen hatte. „Außenstehende müssen erst einmal verstehen, dass Aktmalerei oder -fotografie nichts mit Pornografie oder Erotik zu tun hat“, erklärte mir Julia Hango. „Im Gegenteil. Durch Aktmalerei entwickeln wir ein Bewusstsein für unseren Körper und Selbstachtung.“ Sie sieht den Ursprung dieser Prüderie in der Kolonalisierung, vor allem in den Tagen der Portugiesen und Niederländer, die ihre strengen christlichen Werte mitbrachten und diesen auch auf die Stammesvölker des Landes übertrugen.
Hangos Arbeiten sind dabei nicht immer so schlicht gehalten wie ihr Kurs. Für die Ausstellung „Binden und Schnüren“ hat sie sie nackte Frauenkörper mit Seilen gefesselt, bei der Schau “NatureOrgasm” versucht sie, Spiritualität und Sexualität miteinander zu verbinden. Ignoranz, Ablehnung und Ekel gegenüber ihrer Arbeit animieren Hango nur zum Weitermachen. Sie kennt es schon, dass ihre Models, Besucher und Kursteilnehmer anfangs etwas schüchtern sind. „Ich will mit meiner Kunst bloß zeigen, dass jeder von uns schön ist und wir unter unserer Kleidung alle gleich sind.“
Auf Hangos Kurs war ich durch Zufall gestoßen. Anfangs war ich mir unsicher gewesen, ob ich wirklich über das Thema schreiben sollte, eben weil es für Furore sorgen würde. Doch es war meine letzte WAZon-Ausgabe, was bedeutete, dass ich all die Reaktionen nicht mehr mitbekommen würde (ein Kommentar, der bei meinen Kollegen nicht sehr gut ankam). Dass dann sogar Nackfotografien Hangos auf der Titelseite landeten, habe ich Stefan Fischer zu verdanken, der als Chefredakteur mit seiner „Wenn schon denn schon“-Einstellung alle anderen Meinungen in der Redaktion ausstach. Das Ergebnis waren am Ende fünf Kommentare auf der Facebook-Seite der AZ, die von „Muss nicht sein“, über „Nackte Menschen halt“ bis hin zu „Disgusting“ reichten. Es gab acht Likes sowie einen Anruf der Leiterin der Kommunikationsabteilung des örtlichen Theaters mit dem Inhalt „Danke für den mutigen Text“. Hätte schlimmer kommen können.
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Von der WAZon verabschiedete ich mich Ende Februar, nach zwölf Wochen. Jeder einzelne Artikel hatte mich ein Stück der namibischen Kultur nähergebracht und mir gleichzeitig deutlich gemacht, dass Namibia noch immer ein Dritte-Welt-Land ist. Das Land mag sicherer und weiter entwickelt sein als andere afrikanische Staaten, doch das Vermögen ist in fast keinem anderen Land der Welt so ungleich verteilt und es ist nicht annähernd vergleichbar mit Europa. Wir brauchen in Deutschland kein Spendenkonzert, um Schulen bauen zu können und wir mögen uns vielleicht über verspätete Züge, Busse und Straßenbahnen beschweren, doch immerhin haben wir funktionierende, öffentliche Verkehrsmittel. Natürlich habe ich auch viel Neues über Journalismus, die Arbeit bei einer Tageszeitung und den Alltag als Journalist gelernt – und auch, wie viel Spaß es macht, jeden Tag neue Gesichter kennen zu lernen, jedes eine Persönlichkeit für sich. Nicht zuletzt habe ich gelernt, den Wert der altmodischen Brieffreundschaft zu schätzen. Meiner habe ich letztlich diese ungewöhnliche Erfahrung zu verdanken.
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