Der Wechsel vom Bachelor zum Master bietet nicht nur die Möglichkeit, das Studienfach zu wechseln, sondern auch den Studienort. Doch was spricht dafür, von einer Großstadt in eine Studentenstadt zu ziehen – und warum studieren wir eigentlich? Genau diese Fragen habe ich mir gestellt – und bin von Frankfurt nach Göttingen gezogen, um eine Antwort zu finden.
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Die Studentenzeit ist aus vielen Gründen eine besondere Zeit – doch einer der besten Aspekte ist die Gemeinschaft, die diesen Lebensabschnitt begleitet: Nie kommt man besser und häufiger mit anderen Menschen ins Gespräch, diskutiert bei Bier oder Kaffee und tauscht Ansichten und Ideen miteinander aus. Man reflektiert, hinterfragt, überlegt, sinniert und kommt nicht immer zu einem Schluss, aber fast immer auf neue Gedanken.
Ich denke, für diese Zeit eignet sich kein Ort besser als eine Studentenstadt – eine Stadt, in der es nicht nur eine Universität gibt, sondern in der die Universität, das Studieren und das Studentsein mit allem was dazu gehört das Zentrum des täglichen Lebens bilden. Doch stimmt das wirklich, oder bilde ich mir bloß ein, dass das Leben in einer Studentenstadt anders ist? Studiert es sich dort besser als in einer Großstadt? Diese Frage stelle ich mir seit einigen Monaten, und weil es dafür keine pauschale Antwort gibt, habe ich jetzt den Selbsttest gewagt und bin zum Wintersemester von Frankfurt nach Göttingen gezogen.
In meiner Umgebung bin ich mit meiner Entscheidung häufig auf erstaunte oder überraschte Reaktionen gestoßen: „Warum willst du denn von hier weg? Frankfurt bietet doch tolle Karrierechancen!“ Sätze wie diese kamen mir nicht selten zu Ohren, stießen aber zugleich auf den Kern dessen, was mich an Frankfurt am meisten gestört hat: Wenn man dort studiert, steht man als Student meiner Erfahrung nach nur mit einem Bein auf dem Campus. Mit dem anderen Bein aber – und das scheint schon fast einer Erwartungshaltung der Menschen in der Großstadt zu entsprechen – stehen viele Studenten bereits in der Arbeitswelt, noch etwas wackelig, meistens mit einem der zahlreichen Nebenjobs, die notdürftig das studentische Leben finanzieren und erste Arbeitserfahrungen vermitteln sollen.
Aber geht es nicht um viel mehr als das?
Dadurch habe ich mich in Frankfurt in erster Linie nicht als Studentin gefühlt, sondern eher als eine junge Frau auf dem Weg in eine noch ungewisse Zukunft, die stets von Gedanken an Berufsaussichten, gute Noten und der Sorge um eine finanzielle Sicherheit in den Jahren nach dem Studium begleitet wurde. Das liegt mitunter sicherlich daran, dass Frankfurt eine Stadt voller Wolkenkratzer, Bankiers und Unternehmer ist und damit maßgeblich von der Wirtschaft bestimmt und geprägt wird. Wer einen gut bezahlten Job bei einem angesehenen Arbeitgeber hat, wird auch entsprechend behandelt – und so entsteht in meinen Augen eine Gesellschaft, in der das Emporklettern auf der Karriereleiter einen hohen Stellenwert einnimmt und schon im Studium eine Rolle zu spielen beginnt.
„Und was willst du später mal damit machen?“ ist eine der Fragen, vor der wohl kein Student auf der ganzen Welt sicher ist. Doch es ist auch eine Frage, auf die kein Student auf der ganzen Welt eine klare Antwort geben können muss. Ich studiere Literatur und Geschichte – und als einer von tausenden angehenden Geisteswissenschaftlern weiß ich somit sehr genau, wie man manchmal belächelt wird von Leuten, die etwas „Richtiges“ oder „Seriöses“ studiert haben, etwas, auf dessen Grundlage man einen „guten Job“ bekommt, wie es oft so schön ausgedrückt wird. Aber geht es nicht um viel mehr als das? Die Zeit des Studiums dient doch nicht nur der eigenen Qualifizierung für den Arbeitsmarkt.
Selbst in der Uni fliegen einem nicht selten Begriffe wie „Karrierecoaching“, „Schlüsselkompetenzen“ und „Berufsperspektiven“ um die Ohren, die in Workshops, Kursen und Vorlesungsreihen Zukunftsbilder für Erstsemester bis Absolventen entwerfen – und es ist gut, dass es solche Angebote gibt, aber sie sind eben lange nicht alles, worum es im Studium geht. Denn niemand garantiert einem, dass die „möglichen Berufsfelder“, die in den Geisteswissenschaften häufig sehr breit angelegt sind und damit eher vage Vorstellungen von einer beruflichen Zukunft vermitteln, auch tatsächlich einen Job für uns bereithalten, wenn wir mal mit unserem Studium fertig sind. Deshalb denke ich, wir sollten uns in der Zeit des Studiums nicht zu sehr auf die Zukunft fokussieren, sondern viel mehr auf das Hier und Jetzt – was möchte ich lernen, lesen, erleben? Denn die Zeit, die uns im Studium geschenkt wird, kann uns später niemand mehr zurückgeben, und sie mit Sorgen um die Zukunft zu verschwenden, bringt uns auch nicht weiter.
Wofür ist die Zeit des Studiums da?
Wenn andere mich nach meinem Studium fragen, möchten sie häufig wissen, was ich alles lernen muss, wie viele Klausuren ich schreiben und wie lange ich noch studieren werde, bis ich endlich fertig bin. Ich selbst interessiere mich aber lange nicht nur dafür, wie viele Creditpoints und Kompetenzen ich im Studium erwerben muss, sondern möchte zum Beispiel auch politisches Geschehen reflektieren, verstehen, wie Aktienhandel funktioniert, obwohl das nur am Rande mit den Inhalten meines Studiums zu tun hat, und dafür brauche ich Zeit – aber eben auch den richtigen Ort. Einen Ort, an dem ich Tätigkeiten nachgehen kann, die sich nicht in Zahlen messen lassen, sondern wenn überhaupt in den Erfahrungen, die ich unterwegs sammle. Göttingen macht es mir möglich, Abstand von den Fragen und Erwartungen zu nehmen, mit denen ich so oft konfrontiert wurde, und an einem Ort anzukommen, an dem so viele Studenten sind, dass das Studentsein plötzlich im Vordergrund steht.

Terry Pratchett wusste das Wesen von Studenten einmal in seinem Roman „Interesting Times (zu deutsch: Echt zauberhaft)“ sehr treffend in Worte zu fassen: „Therefore education at the University mostly worked by the age-old method of putting a lot of young people in the vicinity of a lot of books and hoping that something would pass from one to the other, while the actual young people put themselves in the vicinity of inns and taverns for exactly the same reason / Die Bildung an den Universitäten funktionierte meistens nach der uralten Methode, viele junge Menschen in die Nähe vieler Bücher zu bringen in der Hoffnung, dass sich etwas von den einen auf die anderen übertragen würde, während die jungen Menschen sich tatsächlich aus genau demselben Grund in der Nähe von Wirtshäusern und Kneipen aufhielten.“ In einer Studentenstadt stolpert man alle paar Meter über bekannte Gesichter und andere Menschen, die genauso wissbegierig sind wie man selbst und gleichzeitig auch genauso orientierungslos, was die eigene Zukunftsgestaltung angeht.
Was wäre da naheliegender, als sich zusammenzutun und über die wesentlichen Dinge zu sprechen? Fragen wie diese zum Beispiel: Warum studieren wir – und wofür ist die Zeit des Studiums da? Ich denke, neben der Möglichkeit, ein Experte auf einem bestimmten Fachgebiet zu werden, dient sie in erster Linie der persönlichen Entfaltung, dazu, sich selbst zu entdecken und auszuprobieren. All die Bücher zu lesen, die man schon immer lesen wollte, und auch mal Kurse zu besuchen, von denen man nie gedacht hätte, dass sie das Richtige für einen sein könnten. Fechten oder Arabisch lernen oder die Nase in Hochschulpolitik stecken oder der Frage auf den Grund gehen, was zum Teufel nochmal eigentlich Quanten sind.
Nie wieder werden wir so viel Zeit haben, Dinge auszuprobieren, auf Reisen zu gehen, die verschiedensten Menschen kennenzulernen, ihre Geschichten zu hören und den eigenen Horizont zu erweitern.
Und ich vermute, dass eine Studentenstadt genau der richtige Ort dafür ist, sich zu entdecken und zu verwirklichen. Ich verbringe nun meine ersten Tage in Göttingen, streife tagsüber durch den in herbstliche Farben getauchten Campus und abends durch die Bars und Kneipen der Stadt voller Vorfreude auf neue Menschen, Bücher, Impulse und Ideen und in der Hoffnung, mit meiner Vermutung richtig zu liegen.
Sehr romantisch
Hallo, erst einmal vielen Dank für deinen Artikel. Leider muss ich aber sagen, du zeichnest hier ein sehr romantisches Bild von Studentenstädten. Einen Fakt hast du nämlich außer Acht gelassen, auch hier musst du, oder sagen wir müssen die meisten Studenten (mich eingeschlossen) arbeiten. Wie du das Studentenleben empfindest ist nämlich meiner Erfahrung nach nicht unbedingt von der Stadt, sondern viel eher von den Finanzen abhängig. Man geht ja als Student nicht nur arbeiten, um den Status in der Großstadt zu sicher, wie du es hier zeitweise erklärst. Wenn man ein gutes finanzielles Polster durch die Eltern hat, so hat man in jeder Stadt Zeit und Geld in Bars und Parks seine Tage zu verbringen und tiefgründige Gespräche zu führen. Wenn du eben diese Zeit beim Arbeiten verbringst – eher nicht. In Frankfurt z.B. ist der Goethe Campus ein Traum und Altsachsenhausen bzw. das Brückenviertel wunderschön zum weggehen und flanieren! In jeder Stadt findest du schöne, studentische Ecken! Aber natürlich hast du Recht, in Einigen einfacher als in Anderen. Ich wünsche dir auf jeden Fall viel Spaß beim Masterstudium in Göttingen.
Ich hoffe ein Update folgt
Super Beitrag. Die gleiche Frage, ob ich für den Master nicht doch nochmal in eine richtige Studentenstadt ziehen sollte, beschäftigt mich momentan auch. Dabei habe ich mir ähnliche Gedanken gemacht, denn das Leben in der Großstadt als etwas orientierungsloser Student fühlt sich für mich in München auch so an wie für dich in Frankfurt. Vielleicht stolper ich in den nächsten Monaten ja mal über ein Update von dir, ansonsten werde ich wohl auch den Selbsttest wagen müssen.
Update folgt!
Danke für deine Rückmeldung, ein Update zum Text wird folgen, sobald ich hier ein bisschen eingelebt bin und mehr über den Unterschied zwischen Großstadt und Studentenstadt zu berichten habe.
Sie haben verstanden!
Genau darum geht es im Studium: Muße und Zeit, um sich über die bedeutsamen Dinge in einer fördernden Atmosphäre klar zu werden. Faktenwissen anzapfen kann heute jeder, der digitalen Zugang hat und über die überschaubaren Recherchefähigkeiten verfügt. Das ermächtigt aber niemanden in komplexen Situationen dann die richtigen Entscheidungen zu treffen. Tiefe statt Bachelor- und Master-Bulimie ist angesagt!
Gründe für ein Studium in Göttingen
Als Jahrgangsbester, der nach seiner gewerblichen Ausbildung zum Mechaniker auf eine ungewisse Zukunft blickte, weil die damalige AEG-Telefunken AG als der ausbildende Konzern seinerzeit in Vergleich ging, lag es nahe, dem Phänomen auf den Grund zu gehen, hochqualifiziert zu sein und zugleich keinerlei Lebensperspektive zu haben. Deshalb schrieb auch ich mich an der Georg-August-Universität in Göttingen zum Wintersemester 1988/1989 ein; wobei ich zuvor von der niedersächsischen Landesregierung die Erlaubnis in der Form einer zusätzlichen Abiturprüfung am dortigen Otto-Hahn-Gymnasium einholen musste. Die an der Technischen Oberschule auf dem zweiten Bildungsweg in Baden-Württemberg erworbene fachgebundene Hochschulreife gestattete keinen Wechsel in ein anderes Bundesland. Nach dem Examen arbeitete ich als Assistent am Lehrstuhl für international vergleichende Sozialwissenschaften. Unter den Hochschulangehörigen blieb ich indes ein Exot. Neben meinem Gesellenbrief besitze ich immer noch den Gehilfenbrief eines Industriekaufmanns. Beide Abschlüsse erleichterten zumindest mir bei einem späteren Forschungsvorhaben am SOFI, der betrieblichen Wirklichkeit eines in seiner bis dahin tiefsten Krise steckenden Unternehmens wie der Volkswagen AG zur Mitte der 1990er Jahre nicht völlig fremd gegenüberzustehen. Wie sich Zukunftsperspektiven eröffnen, ist inzwischen in der einschlägigen Literatur dokumentiert. Welche Gestalt der menschliche Geist allerdings hat, der solche Brüche mit einer illegitimen Herrschaft ermöglicht, ist im Forschungsbericht nicht nachzulesen. Schon Adorno hatte daran allerhöchstes Interesse, wie er in einem offenen Brief an Horkheimer zu verstehen gibt. Ich für meinen Teil bin insofern immer wieder vor den Kopf gestoßen, wenn manche Zeitgenossen mir zu verstehen geben, dass die von mir erbrachten Arbeitsleistungen wissenschaftlich minderwertig und meine Person charakterlich wenig respektabel sei.