Die Mutter aller Nerd-Serien ist eine Langzeit-Sitcom über Natur- für Geisteswissenschaftler. Im folgenden präsentieren wir den dramaturgischen Deutungsschlüssel zu „The Big Bang Theory“.
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Als Sheldon Cooper (Jim Parsons), theoretischer Physiker am California Institute of Technology, Caltech, und eine der hochbegabten Hauptfiguren der Fernsehserie „The Big Bang Theory“ in der elften Folge der siebten Staffel von einer ungewollten Reise nach Texas zurückkehrt, kennt er zunächst vor allem eine Sorge: Wie kann er möglichst schnell die verpassten Episoden seiner Lieblingsfernsehserie nachholen? Und eine Folge später quält ihn schon ein ganz ähnliches Problem, als er seiner Nachbarin Penny (Kaley Cuoco) zuliebe – sie hat eine Nebenrolle in der Fernsehserie „Navy CIS“ ergattert – gezwungen wird, in die ihm unbekannte Krimi-Großproduktion erst mit Folge 246 einzusteigen – „das ist unnatürlich!“, sagt er. Ertragen kann der pedantische Sheldon, der das Seriengucken als Wissenschaft betreibt, diesen Umstand nur mit einer mentalen Handreichung seiner Freundin Amy (Mayim Bialik), Neurobiologin, die ihm rät, sich einfach vorzustellen, die früheren Folgen hätten zu einem Prequel gehört. Diese Kröte immerhin schluckt er.
Den radikalsten Zusammenhang von Serienfixiertheit und Weltvergessenheit aber stellt Sheldons Mitbewohner Leonard (Johnny Galecki), Experimentalphysiker am Caltech, in der sechzehnten Folge der siebten Staffel her. Als sich Sheldon darüber beklagt, Amy habe seine Persönlichkeit verändert, antwortet Leonard sarkastisch: „Sheldon, du hattest keine Persönlichkeit, nur ein paar Fernsehserien, auf die du stehst.“ Was für eine gemeine Aussage! Andererseits: Welcher Serienabhängige könnte sie nicht nachvollziehen, wenn er sich zu früher Morgenstunde dazu zwingen muss, den Fernseher einfach mal auszumachen.
Was sind das für Menschen in „The Big Bang Theory“, deren Leben sich nach einem immergleichen Programmmuster abspielt: morgens Badezimmerbenutzung nach abgestimmtem Zeitplan, zum Frühstück ausgetüftelte Cerealienvariation, Lunch um 13 Uhr in der Cafeteria des Caltech, nachmittags Comic-Laden oder Videospiele, am Abend Dinner auf dem Sofa nach zyklischem Speiseplan, dazwischen permanent Recht haben? Nun, es sind, wie sich längst herumgesprochen hat, Nerds – Menschen, die nach einem herkömmlichen Verständnis all das, was „normale Menschen“ der Kategorie „echtes Leben“ zuordnen würden, in ihrem Alltag zu minimieren suchen. Und es sind Wissenschaftler, die im Bewusstsein der Tatsache, dass es in der Physik, wie Leonard in der dritten Folge der ersten Staffel sagt, nicht viel Neues gibt, einen Sinn in Artefakten suchen, die sich der naturwissenschaftlichen Denkweise anbequemen – das heißt: immer wieder Science-Fiction-Filme, Video-Spiele, Comics.
Das wiederum führt dazu, dass über der gesamten Serie eine Atmosphäre der Nutzlosigkeit liegt. Die wissenschaftlichen Experimente, die der Zuschauer am Caltech zu sehen bekommt, sind an Infantilität kaum zu überbieten, und die Mischung, die Entertainment und Wissenschaft in der Freizeitgestaltung der Nerds eingehen, kommt natürlich nicht ohne Logikfehler aus, was Sheldon und Leonard nur allzu gut wissen. Zusammenfassend könnte man sagen: Die dargestellten Wissenschaftler bekommen nicht nur nichts raus, sondern auch ihr Leben nicht auf die Reihe. Doch interessanterweise schafft gerade dieses Welterschließungs-Vakuum einen Berührungspunkt zur Kunst und zur Geisteswissenschaft. Denn bei „The Big Bang Theory“ ist von der Mitbewohnervereinbarung bis zum „Superman“-Marathon alles derart nutzlos, dass die Sehnsucht nach einer sinnstiftenden Struktur einen immensen Sog erzeugt. Im Grunde ist „The Big Bang Theory“ eine Sendung über Naturwissenschaftler für Geisteswissenschaftler, an der Naturwissenschaftler aber auch Spaß haben können. Das macht wohl auch den Erfolg der Produktion aus.
Während die Figuren in „The Big Bang Theory“ auf ihre Weise nach Enträtselung streben (s. auch Folge VII,3), wollen wir uns in diesem Blogseminar unter der unregelmäßigen Rubrik „Serienversteher“ künftig an einem ähnlichen Deutungsansatz versuchen. Auf der Grundlage eines soliden Binge-Watchings unserer Lieblingsserien wollen wir mithilfe des kleinen und großen philologischen Bestecks den Schlüssel zu der jeweiligen Serie präsentieren, auch wenn dieser Ansatz ebenso putzig wirken mag wie Sheldons wissenschaftlicher Versuch, „die Wurzel des Humors“ (VII,12) zu entdecken.
Den Auftakt der „Serienversteher“ muss natürlich „The Big Bang Theory“ selbst machen, in der das entscheidende Leitmotiv, wie wir im folgenden beweisen werden, überraschenderweise das „Bier“ ist.
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Anarchischer Lückenfüller
Das erste Bier in “The Big Bang Theory” kommt nach genau zwanzig Minuten vor. In dieser Zeit sind schon einige Getränke durchs Bild getragen worden (Limonade, Wasser), das Bier aber wird mit einem Witz eingeführt. Es kommt zunächst nämlich nur in virtueller Form vor, in einem Videospiel, das Raketenforscher Howard Wolowitz (Simon Helberg) der neuen Nachbarin Penny in Sheldon-Leonards Wohnung zeigt. Als Fantasy-Avatar stapft er durch einen höhlenartigen Raum und schwärmt davon, hier werde ein “klasse Selbstgebrautes“ ausgeschenkt. Zugleich ist mit dieser Szene das Motiv „Alkohol und Sexualität“ vorgeprägt, das nicht nur für den Dauerbaggerer Howard in der Serie immer wieder eine große Rolle spielt.
Den entscheidenden Auftritt aber hat das Bier in der zweiten Folge. War in der ersten die Wand in Sheldons Küche über der Kaffeemaschine neben den hängenden Bratpfannen noch kahl gewesen (siehe Bild oben), sieht man in der zehnten Minute der zweiten Folge plötzlich ein Plakat hängen (siehe Bild rechts), auf dem sich ein Roboter befindet, der gerade lächelnd eine ausgiebige Bierprobe vornimmt. Die dazugehörige Brauerei gibt es, wie im Internet schnell herauszufinden ist, schon eine Weile nicht mehr, bekannt geblieben ist sie vor allem durch die Schrifttypen, die auf diesem Plakat verwendet werden und die, wie das Bier, „Petre Devos“ heißen (dies nur für Nerds).
Fast genauso wichtig wie das Bier-Motiv auf diesem Plakat aber ist der symbolische Akt, den das plötzliche Erscheinen von Plakat und Bier in der Serie bedeuten. Pointiert gesprochen könnte man sagen: Nicht eine halbe Stunde konnte „The Big Bang Theory“ ohne Bier auskommen. Denn das Bier ist der entscheidende Lückenfüller in der Serie, und in dem Plakatmotiv ist noch ein weiterer Hinweis enthalten: Erst das Bier macht den zu mechanischem Handeln verurteilten Robotermenschen glücklich. Das Bier als anarchisches Element weitet den Erlebnisraum.
Das Bier als MacGuffin?
Was das konkret bedeutet, sieht man gleich in der vierten Folge, in der während einer Abteilungs-Feier an der Eliteuniversität “Caltech” reichlich Bier aus der Flasche getrunken wird. Nur unsere Super-Nerds rühren noch keinen Tropfen an.
Erst in der sechsten Folge, in der Penny in ihrer Wohnung Halloween feiert, kommt das Bier-Motiv (fast) zur Vollendung. Ein Bier gibt das nächste und irgendwann ist es dann so weit, dass Penny Leonard ganz unerwartet mit einem ersten Kuss beglückt, einem, den dieser aber nicht ausnutzen möchte, was Penny beschämt und im Rahmen der Handlung konsequent zu dem sehr wichtigen Spannungsmoment von Anziehung und Abstoßung zwischen den beiden führt. Wobei die Annäherung (s. auch Folge III,23) sich immer wieder Pennys Alkoholkonsum verdankt. Meistens trinkt sie, um ihre Frustration über die ausbleibende Schauspielerkarriere zu vergessen.
Und noch ein dramaturgisch wichtiges Motiv verdankt sich dem Bier: die Tatsache, dass der ebenfalls mit Sheldon und Co. befreundete indische Astrophysiker Rajesh Koothrappali (Kunal Nayyar) nur mit Frauen sprechen kann, wenn er Alkohol, meistens Bier getrunken hat. Fehlt der Alkohol, bekommt er bis in die sechste Staffel hinein keinen Ton heraus. Auch hier wird das Bier gezielt als Lückenfüller eingesetzt. Die Drehbuchschreiber erkannten wohl, dass der ursprünglich als besonders verklemmt angelegte Raj auf Dauer schwer in die Serie zu integrieren war – und gaben ihm eine Art Zaubertrank an die Hand.
An dieser Stelle kommt ein Verdacht auf: Ist das Bier in “The Big Bang Theory” am Ende nur ein MacGuffin, ein – nach Alfred Hitchcocks Definition – mehr oder weniger beliebiges Objekt, das den Gang der Handlung aufrechterhält, ohne von besonderem Nutzen zu sein? Auf diese Frage kommen wir später nochmal zurück. Hier nur so viel: dafür hat es zu viel Substanz.
Die Bier-Witze werden müder
Zunächst aber muss noch kritisch angemerkt werden, dass selbst einem so robusten Motiv wie dem „Bier“ auf die Dauer Abnutzungserscheinungen nicht erspart bleiben. Irgendwann war den Drehbuchautoren wohl auch Rajs durch Bier zu überwindender „selektiver Mutismus“ zu umständlich geworden. Seit der siebten Staffel kann er auch ohne Gerstensaft mit Frauen reden – dramaturgisch gesehen eine kluge Entscheidung.
Doch leider zeigen andere neue Folgen, dass den “Big Bang”-Autoren zum Thema Bier nicht mehr nur Originelles einfällt – vielleicht, weil die Figuren allesamt im Verlauf der Serie ohnehin viel lockerer und lebenszugewandter geworden sind und sie das Bier als anarchische Stimulanz nicht mehr so sehr benötigen. Gab es in früheren Staffeln so witzige Ideen wie den ehrgeizigen Plan, Bier-Tischtennis zur olympischen Disziplin zu erheben, und brüstete sich Penny damit, auch Unterwasser Bier trinken zu können, wird in der neunten Folge der siebten Staffel ausgerechnet Sheldon dazu auserkoren, mit Bernadettes Vater an Thanksgiving ein Besäufnis hinzulegen, das sich gewaschen hat – das aber ohne echten Gewinn total aus Sheldons Rolle fällt. Der Höhepunkt seiner Enthemmung ist erreicht, als er seiner Freundin Amy mit einem Klaps auf den Po dazu auffordert, ihm mehr Bier zu holen, was diese allem Anschein nach total sexy findet. Wobei an diesem Witz weniger seine Konventionalität enttäuscht als die Tatsache, dass er dramaturgisch gesehen nicht mehr zielgerichtet in die Handlung eingebettet ist. Es ist einfach nur ein mit viel Aufwand vorbereiteter, aber kurzlebiger Gag.
Insgesamt aber kann die Bedeutung des Biers in “The Big Bang Theory” als anarchisches, verborgene Gefühle in den rationalistischen Robotermenschen wachrufendes Element nicht hoch genug eingeschätzt werden. Man könnte in der Einbettung des Motivs sogar eine Bestätigung der These von Josef H. Reichholf (“Warum die Menschen sesshaft wurden”) sehen, derzufolge erst mit dem Bier die auf Dauer angelegte menschliche Kultur beginnt.
Zurück zur MacGuffin-Bier-Frage. Man kann sie vor dem Hintergrund der Folge VII,4 auch immanent beantworten. In dieser Episode verstimmt es Sheldon ungemein, dass Amy ihm eiskalt nachweist, dass der “Indiana Jones”-Teil „Jäger des verlorenen Schatzes“, einer von Sheldons Lieblingsfilmen, ein niederes Produkt sei, weil der Film auch ohne das Einwirken der Hauptfigur zum selben Schluss gekommen wäre. Indiana Jones ein austauschbarer MacGuffin? Das kann man vom Bier in der Nerd-WG von Pasadena nicht sagen. Deshalb ist es das wichtigste Einzelmotiv in „The Big Bang Theory“.