Das Studium in der DDR war, eingerahmt von Zimmerkollektiven und Grundstipendium, ein ständiges Abwägen zwischen Anpassung und Widerspruch. Roland Jahn widersetzte sich.
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Es war ein Akt der Wiedergutmachung: Über 40 Jahre nach seiner Zwangsexmatrikulation erhielt der heutige Leiter der Stasi-Unterlagenbehörde Roland Jahn im Juni 2018 doch noch einen Studienabschluss. Die Friedrich-Schiller-Universität Jena ernannte ihren ehemaligen Studenten, geboren 1953, zum „Doktor der Philosophie ehrenhalber“ (Dr. phil. h.c.). Nicht aufgrund einer akademischen Arbeit, sondern „als Absolvent der Universität des Lebens“ und für seinen „lebenslangen Einsatz für Demokratie und Menschenrechte“ gebühre ihm der Titel, wie es der Jenaer Oberbürgermeister Albrecht Schröter, selbst ein Mitstreiter der Friedlichen Revolution, in seiner Laudatio ausdrückte. Roland Jahn nahm die Auszeichnung sichtlich gerührt entgegen.
Jahn steht stellvertretend für viele andere, deren Biografien im Hochschulsystem der DDR beschädigt wurden. An seinem Fall wird das ganze Dilemma des sozialistischen Bildungswesens deutlich: ein ständiges Abwägen zwischen Anpassung und Widerspruch, in Sorge um die eigenen Lebensumstände und die Familie. „Die Angst war der Kitt, der die Gesellschaft zusammenhielt“, beschreibt Jahn sein Lebensgefühl in der DDR.
Alte Universität mit neuer Ideologie
Geboren und aufgewachsen in Jena, wollte er zunächst einen ganz normalen Weg einschlagen und im selben Betrieb wie sein Vater arbeiten, der Ingenieur im Kombinat Carl Zeiss war. Ein Studium in seiner Heimatstadt bot sich dafür an: Die Universität ist eine der ältesten Hochschulen Deutschlands, an der unter anderem Friedrich Schiller, Ernst Haeckel und Ernst Abbe lehrten. In der sowjetischen Besatzungszone wollte man schnell an die universitäre Tradition anknüpfen und nahm den Lehrbetrieb noch 1945 wieder auf. Der „nationalsozialistischen Musteruniversität“ – in Jena arbeiteten führende Theoretiker der Rassenlehre – folgte die „sozialistische Hochschule“. Von 1975 an studierte Jahn hier Wirtschaftswissenschaften.
Am sichtbarsten wurde die neue Ideologie am Uniturm, der mitten in die Jenaer Altstadt gepflanzt wurde. Zahlreiche historische Gebäude fielen dem Bau zum Opfer. In das über 140 Meter hohe Gebäude zogen 1972 viele Teile der Universität ein, obwohl der Turm aufgrund seiner kreisrunden Form für Forschung und Lehre kaum geeignet war. Unter anderem befand sich die Sektion Wirtschaftswissenschaften, in der auch Roland Jahn studierte, im 25. Stock und lag damit auf Höhe der umliegenden Gipfel, die das Jenaer Tal umrahmen. Jahn konnte sich an den Anblick des Turmes nicht gewöhnen, aber die Aussicht gefiel ihm. Die Berge waren für ihn und seine Freunde ein „Refugium“, in dem sie frei diskutieren konnten, wie er es in seiner 2015 erschienenen Autobiografie beschrieb: „Wenn ich auf die Berge blickte, musste ich grinsen. Viele gute Erinnerungen, die mir gehörten und nicht den Offiziellen, die mir beim Studium unentwegt das politisch Korrekte abverlangten.“
Ein Studium war ein Privileg
Die über 50 Hochschulen der DDR waren staatlich gelenkt und die Anzahl der Studienplätze wurde nach „gesellschaftlichem Bedarf“ festgelegt. Pro Jahrgang wurden etwa 32.000 neue Studierende zugelassen, insgesamt waren rund 130.000 immatrikuliert. Ein Studium galt als Privileg. Man musste sich um wenig Gedanken machen, da alle ein Grundstipendium von bis zu 200 Mark erhielten. Wer bei der NVA war, mehrere Jahre in der Produktion gearbeitet oder gute Leistungen hatte, bekam noch mehr. Die große Mehrheit wohnte außerdem in preisgünstigen Wohnheimen. Die Zimmerkollektive waren in der Regel identisch mit den Seminargruppen – wer zusammen lernte, wohnte auch zusammen.
Die Studierenden in der DDR waren politisch mehrheitlich eher angepasst oder zumindest unauffällig – dafür sorgte schon das Zulassungsverfahren nach strengen Kriterien. Neben „hoher fachlicher Leistung“ gibt eine Hinweisbroschüre für Studienbewerber von 1989 auch „die aktive Mitwirkung an der Gestaltung der sozialistischen Gesellschaft und die Bereitschaft zur aktiven Verteidigung des Sozialismus“ als Voraussetzung an. Man musste nicht nur zu den leistungsstärksten Schülern seines Jahrgangs zählen, sondern möglichst auch die richtige soziale Herkunft (Arbeiterklasse) und die richtige politische Einstellung (Partei- oder FDJ-Mitgliedschaft) haben. Das Ziel der sozialen Siebung: eine „einheitliche sozialistische Studentenpersönlichkeit“ zu schaffen.
Kritik unerwünscht
Die politische Indoktrination setzte sich im Curriculum fort: die Grundlagen des Marxismus-Leninismus waren für alle Pflicht, Kritik war unerwünscht. Dass die DDR keine Widerworte zuließ, merkte Roland Jahn recht schnell. Im November 1976, in seinem zweiten Studienjahr, nahm der Leiter des Seminars „Wissenschaftlicher Kommunismus“ ein aktuelles Thema auf den Plan. Nach der Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann, eines „antikommunistischen Hetzers“, wie der Dozent sagte, wollte er den „sozialistischen Standpunkt“ seiner Studierenden testen. Jahn schoss los: „Ich konnte es mir nicht verkneifen zu fragen, warum es nicht möglich sei, einen überzeugten Kommunisten wie Biermann, der eine nachvollziehbare Kritik an der Umsetzung der Idee in unserem Land übte, hier leben zu lassen.“
Drei Tage später wurde er zum SED-Parteisekretär seiner Sektion bestellt und musste seine Aussage schriftlich widerrufen. Jahn wollte sein Studium nicht riskieren, aber gleichzeitig bei seiner Meinung bleiben. Er vollführte einen „Eiertanz“, um es den Herrschenden recht zu machen. Er schrieb zum Fall Biermann: „Der real existierende Sozialismus hat es und darf es nicht nötig haben, auf diese administrative Weise Meinungswidersprüche zu klären.“ Um die Meinungswidersprüche im Fall Jahn zu beseitigen, entschied sich der Sozialismus für einen anderen, vermeintlich demokratischen Weg.
„Was war das für ein Staat?“
In einer Sondersitzung am 5. Januar 1977 sollte die Seminargruppe, bestehend aus 15 Studierenden, über Jahns Exmatrikulation entscheiden. Noch zwei Tage zuvor hatten seine Kommilitonen ihm beim Bier versichert, dass sie auf seiner Seite stünden: „An dem Abend waren wir uns einig. Ich fühlte mich aufgehoben.“ Angespannt verfolgten alle die Sitzung. Nach einer Stunde Aussprache wurde abgestimmt, offen per Handzeichen. Die Abstimmung ging 13 zu eins aus. Gegen Jahn, der die Welt nicht mehr verstand: „Was war das für ein Staat, der seine Bürger dazu anhielt, Freundschaft preiszugeben, um politische Kontrolle zu behalten?“ Kurz darauf verlor er seinen Studienplatz.
Vom Staat fühlte Jahn sich verraten. Und von seinen Kommilitonen? „Man kann es sich nicht so einfach machen und sagen: alles Verräter.“ Seine Mitstudierenden wurden von Uni und Stasi unter Druck gesetzt, das weiß Jahn heute aus den Akten. Zwischen Kneipenabend und Abstimmung hatte die Sektionsleitung alle noch einmal zusammengerufen und klargestellt, welche Konsequenzen ihr Votum haben würde. Nachher kamen sie jeder einzeln zu ihm: Günter beispielsweise, dessen Frau mit dem zweiten Kind schwanger war. Oder Hans-Jürgen, dessen Vater eine leitende Stellung in einem volkseigenen Betrieb hatte. Sie alle fürchteten, dass nicht nur sie selbst für ihre Handlungen bestraft würden, sondern auch ihre Angehörigen. Ein Dilemma, das auch Jahn kannte. Sein „Querulantentum“ gefährde „das Glück der ganzen Familie“, sagte sein Vater immer wieder.
Beschädigte Biografien
Der Fall Roland Jahn ist sicherlich einer der extremen. Entscheidungen, sich zu fügen oder zu widersprechen, mussten jedoch alle Studierenden in der DDR immer wieder treffen. Und trotzdem: Die Dinge, die die Studienzeit bis heute ausmachen – Partys im Wohnheim, Kneipenabende, Freundschaften fürs Leben – gab es natürlich auch in der DDR. Roland Jahn: „Wir alle wollten einen ordentlichen Beruf, Spaß haben und unser Ding machen. Irgendwo eine halbwegs sinnvolle Arbeit finden, in einem Kombinat, und mit Freunden und Familie leben.“
Roland Jahn blieb das Studium nach seinem Rausschmiss verwehrt. Er arbeitete mehrere Jahre „zur Bewährung in der Produktion“ bei Carl Zeiss. Außerhalb des Unikosmos fühlte er sich freier, seine Meinung öffentlich zu sagen und provozierte mit immer neuen Aktionen. Nachdem er mit einer kleinen polnischen Fahne und dem Schriftzug “Solidarnosc z polskim narodem” (Solidarität mit dem polnischen Volk) am Fahrrad durch Jena gefahren war, ging er für sechs Monate in Haft. 1983 schob die Stasi ihn gewaltsam in die Bundesrepublik ab, wo Jahn zu einem wichtigen Unterstützter der Opposition im Osten wurde. Und es trat das ein, wovor er immer Angst hatte: Andere mussten für sein Verhalten bezahlen. Der Vater hatte die Jugendabteilung des FC Carl Zeiss Jena mit aufgebaut, einen Tag nach der Abschiebung des Sohnes wurde er aus dem Verein, seinem Lebenswerk, ausgeschlossen.
Nach vier Jahrzehnten hat Jahn nun doch noch seinen Studienabschluss bekommen, und zwar im selben Gebäude, in dem er die Ausbürgerung Wolf Biermanns einst in Frage gestellt hatte. So wie er heute „Respekt für seine Biografie“ erfahre, zolle er auch denjenigen Respekt, „die sich mit ihrem Handeln auseinandersetzen“, sagte er.
Vor wenigen Jahren meldete sich plötzlich einer seiner ehemaligen Mitstudierenden. Auch er hatte den Tag niemals vergessen, an dem er für die eigene Karriere gegen Jahn stimmte. So litten auf lange Sicht beide Seiten unter dem Druck der Diktatur: die, die sich trauten, aufzustehen, und die, die sich fügten.
Nur ein einziger Kommilitone hatte sich damals nicht einschüchtern lassen: Ulli, ein lockerer Typ, der „alles ganz entspannt sah“, stimmte ungeachtet aller Drohungen gegen Roland Jahns Rauswurf. Passiert ist ihm nichts.