Die Deutschen lieben den Wald. Der Förster Peter Wohlleben schreibt in seinen Büchern, Bäume liebten sich auch untereinander. Ein Forstwissenschaftler durchbricht jetzt die Bestseller-Idylle mit Fakten. Neue Folge unserer Interview-Reihe “Nerdalarm”.
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Video: Christian Ammer, Forstwissenschaftler an der Georg-August-Universität Göttingen, wehrt sich gegen das von Peter Wohlleben in seinem Buch “Das geheime Leben der Bäume” verbreitete Bild des deutschen Walds.
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F.A.Z.: Herr Professor Ammer, wie geht es dem deutschen Wald?
Christian Ammer: Momentan geht es dem deutschen Wald vergleichsweise gut. Aber er hat mit einigen Herausforderungen zu kämpfen, die vor allem langfristig Probleme machen werden. Die Zukunftsperspektive kann einem durchaus ein wenig Sorgen machen. Die Waldentwicklung zeigt einerseits: Die Wälder werden tendenziell älter, sie werden immer gemischter, das finden in Deutschland die meisten Fachleute gut. Die Probleme beginnen mit Einflüssen auf Wälder, die die Forstwirtschaft nicht im Griff hat. Das eine ist der Klimawandel, der einige Baumarten stärker treffen wird als andere. Das zweite Problem ist, dass die Stickstoffeinträge aus der Landwirtschaft und dem Verkehr seit Jahren anhalten. Das hat Folgen, die man noch nicht abschätzen kann, die aber durchaus Anlass zur Sorge geben. So könnte die Trinkwasserqualität sinken, die meisten Wassergewinnungsanlagen befinden sich ja im Wald. Langfristig werden zudem Bodenversauerung und Nährstoffungleichgewichte befürchtet. Gesellschaftlich schiebt man das weitgehend beiseite, dabei wäre es sinnvoll, den Individualverkehr einzuschränken und sich für eine Landwirtschaft einzusetzen, die auf hohe Stickstoff-Mineraldüngung verzichtet.
Jammern wir in Deutschland über den Wald auf hohem Niveau?
Wir leben in einem Land, das extrem dicht besiedelt ist. Bei uns steht im Prinzip hinter jedem Baum einer mit einem bestimmten Interesse, nur leider decken sich diese Interessen nicht immer. Der Erste sagt: Ich will beschauliche Erholung, der Zweite will Aktivsport betreiben, der Dritte will möglichst viel Naturschutz, der Vierte will Holz gewinnen, der Fünfte will ungestört auf die Jagd gehen. Durch diese vielen divergierenden Interessen ist in Deutschland ein ganz besonderes Waldmanagement entstanden. Wir hatten vor ein paar Jahren mal kanadische Studenten hier. Nach einer Woche fragten die: Sagt mal, was macht ihr hier eigentlich? Das ist ja Waldgärtnerei, was ihr betreibt. In Deutschland leben aber doppelt so viele Menschen wie in Kanada, allerdings auf einer dreißig Mal kleineren Fläche. Pro Quadratmeter bedeutet das eine sechzig Mal höhere Belastung. Wenn Sie in die Stadt gehen und fragen: Wie geht es dem deutschen Wald, dann wird jeder etwas anderes sagen, weil jeder den deutschen Wald durch seine Brille sieht. Wenn man aber die Multifunktionalität zum Maßstab nimmt, also die Fähigkeit viele Interessen gleichzeitig zu befriedigen, würde ich sagen: die Situation ist gut.
Was ist aus dem Waldsterben der achtziger Jahre geworden?
Die Maßnahmen zur Luftreinhaltung, die in den achtziger Jahren umgesetzt wurden, haben viel bewirkt. Die Schwefeleinträge, die für die Bodenversauerung eine große Rolle gespielt haben, sind stark zurückgegangen. Viel von dem, was prognostiziert wurde, vor allem was die Schnelligkeit des flächigen Absterbens angeht, ist aber auch falsch eingeschätzt worden. Wälder haben viel mehr Reaktionsmöglichkeiten, als man, dem damaligen Stand des Wissens folgend, annahm. Rückblickend hat man die Lage zum Teil zu kritisch eingeschätzt, aber vielleicht hat sich die Politik nur deshalb bewegt. Ganz konkret kann man sagen, dass es einige Arten gab, die extrem unter dem Schwefeleintrag gelitten haben – zum Beispiel die Weißtanne. Diese Baumart hat sich sehr deutlich wieder erholt.
Wird der Wald auch heute noch gekalkt?
Das ist eine Art Glaubensfrage geworden. Es gibt Bundesländer, denen ist die Kalkung wichtig, weil sie den Säureeintrag kompensiert. Der Effekt ist der gleiche wie bei jemandem, der Sodbrennen hat und Säureblocker nimmt, es geht um eine Pufferung. Das Land Bayern aber vertritt zum Beispiel den Standpunkt: Wir brauchen das nicht, denn die Kalkung bekämpft nur ein Symptom, nicht aber die Ursache. Hier denkt man, dass die Baumarten anpassungsfähig genug sind, um das Problem selber zu lösen. Eine flächige Kalkung, über alle Standorte hinweg, wird aber auch von vielen anderen inzwischen kritisch gesehen.
Wem gehört eigentlich der deutsche Wald?
Der gehört ganz unterschiedlichen Gruppen. Knapp die Hälfte den privaten Waldbesitzern, wobei es viele gibt, denen wegen des steten Teilens beim Weitervererben nur ein schmaler Streifen gehört, der auch mal nur zwei Meter breit und hundert Meter lang sein kann, in Thüringen etwa, in Franken oder in Württemberg. Eine zunehmende Zahl an Menschen weiß gar nicht mehr, dass ihnen Wald gehört. Es gibt aber auch den typischen oberbayerischen Hof, zu dem neben 50, 60 Hektar Gründland auch 80 oder 90 Hektar Wald gehören. Die ganz großen Waldbesitzer sind traditionell eher adlige Familien, die mitunter 500 Hektar und mehr besitzen. Ungefähr ein Drittel ist Staatswald – dem Bund gehört dabei ganz wenig, den Ländern das meiste. Daher ist Waldpolitik auch Ländersache. Der Rest sind kommunale Wälder. Dann gibt es noch Mischformen, die sehr spannend sind: Gemeinschaftsbesitz mit ideellen Anteilen, die früher nicht veräußert werden durften – ein geradezu sozialistisches Modell auf der Basis uralter Rechte.
Stimmt die Zahl, dass es in Deutschland zwei Millionen Waldbesitzer gibt?
Ja vermutlich, keiner weiß das ganz genau, die Zahl wird auf ein bis zwei Millionen geschätzt.
Das bedeutet: In jedem Zugabteil sitzt mindestens ein Waldbesitzer?
Ja. Vielen gehören aber eben nur kleine Flächen. Aber es gibt Dörfer, da besitzen alle Alteingesessenen zwei, drei Hektar Wald.
Der Wald ist also voller Grenzsteine?
Im Prinzip ja. Die sieht man nicht immer, aber sie sind da und könnten sicher tolle Geschichten erzählen.
Das geheime Leben der …
Waldgrenzsteine, genau. Wälder sind Spiegel der Geschichte, und zwar weniger der heutigen Zeit, als jener in der sie begründet wurden. Ein gutes Beispiel ist der Spessart, da hat man Eichen gepflanzt, um sie für den Schiffsbau nach Holland zu verkaufen. Als sie dick genug waren, hat keiner mehr Schiffe aus Holz gebaut.
Was auch überraschend ist: Wie viele Arbeitsplätze am Forst hängen.
Ja. Ich kenne nur die Zahl, wonach nach der Autobranche der Sektor Forst/Holz, inklusive des Papier- und des Druckgewerbes die Branche mit den zweitmeisten Beschäftigten in Deutschland ist. Insgesamt sind es, wenn ich mich recht erinnere, 1,1 Millionen Beschäftigte, was aber kein Mensch weiß, da es sich vorwiegend um kleine und mittelständische Betriebe handelt.
Bei diesen Zahlen kann man nur sagen: Das Thema “Wald” wird total unterschätzt.
Ja, der Wald wird zumeist aus der emotionalen Naturerlebnis-Ecke heraus betrachtet.
Muss man eigentlich mit Wald Geld verdienen?
Man muss es nicht, wenn man gleichzeitig eine gute Antwort darauf hat, wie man die Produkte, die aus dem Wald kommen, anders bereitstellt oder einspart. Wenn einer sagt, er brauche keinen Holztisch, dann muss er dazu sagen, ob er ohne Tisch zurecht kommt oder ob er der Meinung ist, Tische sollten grundsätzlich nur noch aus Kunststoff oder Aluminium hergestellt werden. Wenn er letzteres sagt, bitte ich ihn, mir die entsprechende Ökobilanz vorzurechnen. Wenn die schlechter ist als die eines Holztischs, was der Fall ist, dann muss er klar sagen, dass ihm das egal ist. Wenn es ihm nicht egal ist, hat er ein argumentatives Problem. Ein Kollege von mir hat mit Bezug auf den Wald mal vom sogenannten Schlachthaus-Paradoxon gesprochen. Viele Leute finden das Kälbchen auf der Wiese süß und auch das Steak auf dem Grill gut. Von dem, was dazwischenliegt, will keiner etwas wissen. Ein wenig verhält es sich so auch mit der Forstwirtschaft: Wälder mag jeder, und Holz ist auch positiv belegt. Dass es einen Prozess gibt, der dazwischenliegt – Bäume fällen, abtransportieren -, das stört.
Aber zwischen Tierschlachtung und Holzgewinnung gibt es schon noch einen Unterschied – oder haben Sie das Gefühl, dass der verwischt?
Natürlich gibt es einen Unterschied, aber es gibt auch einen manchmal erstaunlichen Widerstand gegen die Nutzung der Wälder im Allgemeinen, auch wenn sie nachhaltig betrieben wird. Der Vergleich hinkt aber noch aus einem anderen Grund. Man kann sich ohne Fleisch gesund ernähren, bei Holz wird eine Alternative schwieriger.
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Sie haben kürzlich eine Petition gegen das Buch “Das geheime Leben der Bäume” von Peter Wohlleben, das seit Monaten und Jahren auf den Sachbuch-Bestsellerlisten steht, eingereicht. Warum?
Auslöser war ehrlich gesagt ein Kollege aus Kanada, der sollte die französische Ausgabe des Buchs von Herrn Wohlleben in der größten Tageszeitung des Landes besprechen. Daraufhin hat er mich und einen Kollegen aus Freiburg angemailt und geschrieben, er habe gerade dieses Buch auf dem Tisch, vieles darin sei völliger Unsinn. Er fragte, ob uns das Buch nicht bekannt sei und ob wir uns schon dazu geäußert hätten. Wir mussten verneinen. Ich habe mich dann mit meinem Kollegen beraten und wir haben dann auch unter dem Aspekt “Wissenschaft sollte sich mehr in gesellschaftliche Debatten einmischen” beschlossen: Wir verfassen eine Petition. Diese sollte sich an Medienvertreter richten, weil wir fanden, dass es deren Aufgabe gewesen wäre, kritisch zu prüfen, ob die Aussagen des Buches wirklich durch Fakten gedeckt sind. Wir meinten zudem, wir müssten klarstellen, dass es sich bei dem Buch weder um Wissenschaft noch um Populärwissenschaft handelt,, sondern dass die Grenze zwischen korrekten Fakten und reinen Mutmaßungen in unzulässiger und für den Leser nicht trennbarer Weise verwischt ist. Am Ende hatten rund 4500 Personen die Petition unterzeichnet. Für meinen Kollegen Bauhus und mich hat sich die Diskussion dabei im Laufe der Zeit weg vom Buch, hin zu der mehr grundsätzlichen Frage verschoben: Wie kann es sein, dass jemand etwas Falsches behauptet oder wild spekuliert, ihm aber alle glauben? Wie kann es sein, dass sich keiner die Mühe macht, das Geschriebene zu hinterfragen? Ich finde den darin zum Ausdruck kommenden Zeitgeist beängstigend. Es reicht selbst in einer aufgeklärten Gesellschaft wie der unseren offenbar aus, einfach nur wiederholt etwas zu behaupten, um unabhängig vom Wahrheitsgehalt der Aussage Anklang zu finden, sofern die Botschaft das Gefühl und die Erwartung der Leute trifft. Mir ist dabei klar geworden, wie wichtig ein freier und kritischer Journalismus ist. Wenn es dieses Korrektiv nicht gibt, wenn keiner mehr sagt, dass der Kaiser keine Kleider anhat, sondern nackt ist, dann muss man sich Sorgen machen.
Ob Bäume Gefühle haben oder nicht, ist die eine Frage, die durch Peter Wohllebens Buch ausgelöst wird. Wie schwerwiegend sind die aus Ihrer Sicht falsch dargestellten Fakten in seinem Buch? In Ihrer Petition nennen Sie zwei Beispiele. Bei dem einen scheint Herr Wohlleben nahelegen zu wollen, dass Holz nicht klimaneutral ist, was bedeuten würde: Vorsicht vor dem Verfeuern von Holz!
Herr Wohlleben behauptet, dass bei der Verbrennung von Holz nicht nur die darin gespeicherte Menge an CO2 freigesetzt würde, sondern in selber Menge CO2 aus dem Boden im Zuge der Nutzung. Das ist nachweislich falsch – auch wenn man das Verfeuern von Holz kritisch sehen kann unter dem Aspekt, dass es dafür eigentlich zu schade ist. Wird mit seiner Verbrennung aber ein fossiler Brennstoff wie zum Beispiel Erdöl eingespart, ist damit unbestreitbar ein für den Klimaschutz positiver Effekt verbunden. Um auf das Buch zurückzukommen: ich hätte mich weniger darüber aufgeregt, wenn es durch solche Aussagen nicht Botschaften aussenden würde, die politisch relevant werden könnten. Wer Herrn Wohlleben in Talkshows zuhört, muss zu dem Schluss kommen, dass die Nutzung von Wäldern zum Zwecke der Bereitstellung von Holz per se etwas Schlechtes ist, insbesondere mit Blick auf den Klimaschutz
Ist die Forschung in diesem Bereich eindeutig?
Ja, Meinungsverschiedenheiten gibt es eigentlich nur hinsichtlich des Zeithorizonts der Betrachtung. Die Frage, ob Wälder unter Gesichtspunkten des Klimaschutzes bewirtschaftet werden oder von einer Nutzung ausgenommen werden sollten, ist verbunden mit der Frage: Welche der beiden Optionen bindet mehr CO2? Die Antwort auf diese Frage wird ganz entscheidend davon abhängen, ob ich die nächsten zehn Jahre betrachte oder die nächsten fünfzig oder hundert und wie viel CO2 ein Wald schon gespeichert hat. Es gibt einen Punkt an dem ist der CO2-Speicher den ein Wald darstellt, voll, die Frage ist lediglich, wann das der Fall ist. Deshalb sind der Ausgangswert und die Betrachtungszeit wichtig. Je voller der Biomassespeicher schon ist und je länger ich das System betrachte, umso besser schneidet mit Blick auf den Klimaschutz die Nutzung gegenüber der Nicht-Nutzung ab, da das genutzte Holz laufend fossile Energieträger ersetzt, während im ungenutzten Wald der Speicher irgendwann gefüllt ist. Uneinigkeit herrscht darüber, bei welcher Höhe der Holzbiomasse eines Waldes dies der Fall ist. Klar ist aber auch: Weder die Nicht-Nutzung noch die Nutzung von Wäldern können das Problem der viel zu hohen CO2-Immissionen auch nur ansatzweise lösen. Die Waldbewirtschaftung und der Waldspeicher kompensieren gerade einmal 13 Prozent des jährlichen CO2-Ausstoßes Deutschlands. Auf die verbliebenen 87 Prozent hat der Wald keinen Einfluss. Man streitet sich also um einen relativ kleinen Beitrag, während das eigentliche Problem bislang völlig ungelöst ist. Zurück zu Ihrer Frage nach der Aussage von Herrn Wohlleben zum Bodenkohlenstoff: es gibt viele Arbeiten, die übereinstimmend zeigen, dass zwischen naturnah bewirtschafteten und nicht bewirtschafteten Wäldern keine Unterschiede in den Bodenkohlenstoffvorräten nachgewiesen werden konnten.
Der zweite Kritikpunkt Ihrer Petition war, dass Herr Wohlleben behauptet, Buchen untereinander bevorzugten das, Zitat, “Gruppenkuscheln”, kennten kein Konkurrenzverhältnis, dieses entstehe erst, wenn man Buchen mit anderen Bäumen mische. Damit vereinzele man sie, mache sie unkommunikativ.
Zunächst: Das Gegenteil ist der Fall. Arten, die unterschiedliche Bedürfnisse haben, können eher miteinander zurecht kommen als jene, mit ähnlichen Bedürfnissen, wobei auch hier Konkurrenzprozesse an der Tagesordnung sind. Je ähnlicher die Bedürfnisse der Individuen sind, desto schwieriger ist es, den Kuchen der nur begrenzt vorhandenen Ressourcen (Licht, Wasser Nährstoffe) zu verteilen. Entsprechend nimmt die Zahl der Bäumchen mit ihrem Dicker- und Größerwerden ab, gerade bei der gegen sich und andere sehr konkurrenzstarken Buche. Wenn sie Früchte bildet und diese sich zu kleinen Bäumchen entwickeln, findet viele Jahre ein Massensterben statt, übrig bleiben einige wenige, die auf eine Lücke im Kronendach warten, um an das Licht zu gelangen.
Ihre, von der Wissenschaft gedeckte Position hat dabei ein Problem: Sie richten sich einerseits gegen Fake Facts, müssen sich aber anderseits gegen ein von Harmonie und Freundlichkeit geprägtes Bild des Waldes wenden. Sie müssen ein Konkurrenzverhältnis darstellen, das gewöhnlich die einschlägigen, Gutmenschen verspottenden, Fake-News-Produzenten mit unsachlichen Mitteln proklamieren.
Ich bin mir völlig darüber im Klaren, dass ich der Böse bin, wenn ich sage: in Baumbeständen sind Konkurrenz und Tod ein zentrales Element der Walddynamik. Das will keiner hören. Die Leute wollen lieber lesen, dass die Bäume sich liebhaben und dass sie sich helfen. Das erklärt vermutlich auch den Erfolg des Buchs von Herrn Wohlleben. In gewisser Weise sagt es über die Wünsche und Sehnsüchte der Leser mehr aus als über die Wälder. Wald wird als Rückzugsort und heile Natur empfunden, was eigentlich auch ganz schön ist. Im Offenland geben sich viele dieser Illusion schon nicht mehr hin. Überall gibt es Probleme, aber beim Wald ist man bereit zu glauben, dass alles voller Harmonie ist, wenn man ihn nur in Ruhe lässt.
Sehen Sie auch gute Seiten an dem Buch von Herrn Wohlleben?
Es zeigt, wie positiv der Wald in Deutschland belegt ist. Das emotionale Verhältnis der Deutschen zum Wald ist schon bemerkenswert. Und es ist ja auch etwas Großartiges, dass man von Lebewesen umgeben ist, die aus nichts etwas machen können und trotzdem lange leben. Diese Demut vermittelt das Buch ganz gut.
Füllt das Buch eine Lücke, die die Forstwissenschaft gelassen hat?
Nein, das wäre nur der Fall, wenn Herr Wohlleben seine Thesen mit den üblichen, in den Naturwissenschaften geltenden Standards untermauern würde. Die Frage ist eher: Hätte man ein Buch auch ohne die vielen Mutmaßungen schreiben können, das den gleichen Erfolg gehabt hätte?
Kann die Forstwissenschaft überhaupt eine Harmoniegeschichte des Waldes schreiben?
Nein, das kann sie nicht, wenn unter Harmonie verstanden wird, dass sich alle Bäume mögen, was eine Absicht und Gedankenleistung auf der Ebene des Individuums voraussetzt, für die es bei Bäumen nicht den kleinsten Anhaltspunkt gibt. Harmonisch in dem Sinne, dass jede Art für bestimmte Ökosystemfunktionen wichtig ist, durchaus.
Es gibt eine Szene in Peter Wohllebens Buch, in der stellt sich heraus, dass ein alter Baumstumpf gar nicht abgestorben ist, sondern von den Nachbarbäumen am Leben erhalten wird. Genau so gut könnte man sagen, dass sein altes Wurzelsystem ausgenutzt, dass er versklavt wird. Was ist richtig?
Das kann man nicht abschließend entscheiden. Man kann den Befund, dass der Baumstumpf noch am Leben ist nur deuten, aber man sollte dann auch klar sagen, dass man sich im Bereich der Spekulation befindet. Für mich ist der kritische Punkt nicht der, dass Herr Wohlleben sagt, dieser Baum werde am Leben erhalten, sondern, dass er sagt, er wird am Leben erhalten, weil er den anderen leidtut und weil es sich um Bäume mit Gefühlen handelt. Dass die anderen Bäume den Stumpf am Leben erhalten, ist ja unstrittig, es ist aber viel wahrscheinlicher, weil biologisch erklärbar, dass sie es tun, weil sie etwas von ihm „wollen“, als weil sie ihn so besonders mögen. In der Natur passiert nichts einfach nur so zum Spaß. Es passiert, weil es einen evolutionären Vorteil bedeutet. Wenn es für die Bäume sinnvoll ist, einen Stumpf am Leben zu erhalten, zum Beispiel um sein Wurzelsystem zu nutzen, werden sie es tun.
Könnte Herr Wohlleben nicht die Avantgarde eines nicht-evolutionsbiologisch geprägten Weltbildes sein, dem gemäß viel mehr Lebewesen als bisher angenommen Empfindungen haben und daher auch mehr Rechte beanspruchen?
Wenn Herr Wohlleben eines Tages mit Ergebnissen aus wohldurchdachten und reproduzierbaren Experimenten daherkommt und diese Ergebnisse sich statistisch absichern und biologisch, beziehungsweise biochemisch, erklären lassen, werde ich der Letzte sein, der sie nicht ernsthaft diskutieren wird, denn in den Naturwissenschaften zählt nunmal das bessere Argument. Wenn man allerdings nur Behauptungen aufstellt, muss es wenigstens einen rationalen Anknüpfungspunkt geben, dass es so sein könnte. Den sehe ich aber nicht. Was die angeblichen Empfindungen und die Intelligenz von Bäumen angeht: Bäume haben keine Gehirne und auch keinen Nervenzellen, sie können daher auch nicht im herkömmlichen Sinn denken und Empfindungen haben. Natürlich können sie auf Reize reagieren, aber nicht in der Form intendierten Handelns etwa von Säugetieren. Bäume sind eben nicht wie Menschen. Das müssen sie auch gar nicht sein. Sie sind auch so großartig.
Die Fragen stellte Uwe Ebbinghaus
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Sämtliche Folgen unserer Interview-Reihe “Nerdalarm”.