Blogseminar

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Diskutiert werden das Leben der Studierenden, aktuelle Fragen der Hochschulpolitik sowie die Zweiheit von Forschung und Lehre.

Serienversteher: “Vikings”

Kann es sein, dass die Mittelalter-Serie “Vikings” besser ist als “Game of Thrones”? Es fließt zwar noch mehr Blut, aber die Dramaturgie ist raffinierter und die Ausgangsfrage radikaler: Wer bestimmt unser Schicksal?

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© HistoryGlaubt er an alle Götter, an keinen Gott – oder an den, der ihm die größte Freiheit gewährt? Ragnar Lodbrok (Travis Fimmel) aus der Serie “Vikings”

Fernsehserien sind die neuen Fortsetzungsromane, diese These hat sich längst herumgesprochen und erstaunt niemanden mehr. Nicht restlos geklärt aber ist bislang, warum sich bestimmte Stilformen und Themen in den letzten Jahren besonders durchgesetzt haben. Warum zum Beispiel spielen Zombies eine derart große Rolle in den neuen Produktionen – spiegelt sich darin eine diffuse Angst des Wohlstandsbürgers vor verborgenen Gefahren wider, die nicht tot zu kriegen sind, die Angst vor dem Fremden im Vertrauten?

Das vielleicht beliebteste Thema in den Serien der letzten Jahre aber ist ein anderes: die Macht. Was ja eigentlich sonderbar ist, denn von den Millionen Zuschauern, die Serien wie “House of Cards” (2013ff.) oder “Game of Thrones” (2011ff.) auf allen möglichen Kanälen und Medien anschauen, kennen sich wohl nur die wenigsten wirklich aus mit ihr und ihren Mechanismen. Haben wir es im Falle der “Macht”-Serien, zu denen auch “Die Borgias” (2011-2013), “Die Tudors” (2007-2010) und “Marco Polo” (2014 bis 2016) zählen, also mit einer Form von Kompensations- oder Erleichterungs-Fernsehen zu tun? Demnach wäre der Otto-Normal-Machtlose fasziniert von der Gegenseite seines Alltags; er durchlebt die Höhen und Tiefen der Mächtigen, obwohl sie mit ihm auch nicht das Geringste zu tun haben, und kann sich, da Macht meistens böse endet, nach einem mehrstündigen Fernsehabend mit dem guten Gewissen ins Bett legen, dass er zwar nichts aus sich gemacht, aber wenigstens mit all den Intrigen nichts zu tun hat. Findet der Zuschauer “Macht”-Filme so gut, weil er selbst so machtlos ist?

© Allstar Picture Library/NetflixDer wohl großzügigste Thron in der Geschichte des Serien-Fernsehens: Benedict Wong als Kublai Khan in der Netflix-Serie “Marco Polo”, die, wie man hört, wegen zu hoher Produktionskosten eingestellt wurde

Dramaturgisch gesehen sind Serien, in denen es um den Erhalt von Macht geht, insofern eine überschaubare Angelegenheit, als sie im Grunde vor allem aus zwei Quellen schöpfen: Shakespeare, wenn es um die einzelne Herrscherfigur geht, die allmählich dem Wahnsinn anheimfällt, und Puzo/Coppolas “Der Pate” mit seinen Hauptthemen “Familie”, “Erbfolge”, “Loyalität” und “Dialektik des Aufstiegs”, dessen Kehrseite in der Unmöglichkeit des Ausstiegs besteht. In Coppolas Mafia-Epos sind schon die meisten Motive des “Macht”-Serienfernsehens vorgeprägt, die sich in Spielarten von Sex, Verrat, Lüge und Vernichtung darstellen – wobei sich all diese Motive natürlich hervorragend für Fortsetzungsgeschichten eignen. Denn dank ihrer weiß man nie, was als nächstes passiert und welcher neue Kontrahent Bewegung ins Spiel bringt.

Der Wille zur Expansion

Diese Unberechenbarkeit hat vor allem die HBO-Serie “Game of Thrones” auf die Spitze getrieben und sie elegant mit elisabethanischer Rhetorik verwoben. Andererseits: Warum die hier letztlich vorherrschende Fantasy bemühen, wenn die Weltgeschichte noch so viele unglaubliche Stoffe und historische Schreckgespenster zur detaillierten Ausgestaltung bereithält? Die Mongolen in Peking zum Beispiel oder eben die Wikinger in Paris, beide angeführt von Machtmenschen, die voll ins “Pate”-Schema passen: Kublai Khan (“Marco Polo”) und Ragnar Lodbrok (“Vikings”, “The Last Kingdom”), der allerdings eher ein Sagenheld ist. Beide Machtmenschen eint dabei der Wille zur Expansion und die Herausforderung, widerstreitende Interessen und Reiche gegen die Kräfte der Beharrung zu vereinigen. Während in der Realität Unionen zu zerfallen drohen, reüssiert im Fernsehen das – allerdings blutige – Gegenprogramm.

© Screenshot HistoryDieser Thron aus der letzten Staffel von “Vikings”, auf dem sich die Schildmaid Lagertha (Katheryn Winnick) niedergelassen hat, ähnelt dann doch sehr dem Eisernen Thron aus “Game of Thrones”

Die vielen Parallelen zwischen der kanadisch-irischen Serie “Vikings” (2013ff.) und “Marco Polo” sind dabei umso erstaunlicher, als beide Produktionen größtenteils zu gleicher Zeit geplant und gedreht wurden. Kurios, dass in beiden Serien kulturvermittelnde Figuren – Marco Polo im Reich des Kublai Khan, der Mönch Athelstan bei den Wikingern – eine herausragende Rolle spielen. Außerdem ist der Zuschauer in beiden Serien, stärker als das im Fernsehen normalerweise der Fall ist, gezwungen, sich mit allerlei Kriegsgerät und Belagerungsstrategien auseinanderzusetzen, was ihm allerdings durch eine liebevolle, manchmal geradezu verschwenderische Ausstattung erleichtert wird.

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Was aber macht die Serie “Vikings”, in der es grob gesagt um den Aufstieg des nordmännischen Bauern Ragnar Lodbrok zum skandinavischen König und Entdecker der westlichen Welt geht, jenseits all dieser Parallelen aus, worin ist diese Serie wirklich unvergleichlich?

Zunächst wirken die vier Staffeln “Vikings”, die derzeit etwa bei Amazon Prime zu sehen sind, in vielem schwächer als die Mittelalter-Referenzserie “Game of Thrones”. Das Schauspieler-Ensemble besteht aus einer kruden Mischung von unterschiedlich begabten früheren Models, Muskelprotzen und einigen wenigen Shakespeare- und Hollywood-Darstellern. Außerdem gibt es weit weniger ausgefeilte Rhetorik als bei den Thron-Spielern und – trotz der unter Wikingern angeblich üblichen freien Liebe – vor allem in der ersten Staffel nur auffällig prüde Sex-Szenen.

Das Betreten einer neuen Welt

Auf anderem Gebiet aber sind die “Vikings” ungewöhnlich radikal: Der ungehemmte Schwertkampf ist das gängigste Ausdrucksmittel ihrer Hauptcharaktere, der blutbespritzte Kriegerkopf das allgegenwärtige Emblem der Serie – dagegen ist selbst “Dexter” (2006 bis 2013) harmlos. Dahinter freilich scheint ein Kalkül zu stecken, das über plumpe Spannungsmache hinausreicht. Denn zum einen ist das stumme Erdulden von Qualen bei den Wikingern Voraussetzung für die Aufnahme in das göttliche Walhalla – und altnordische Religion, zu der etwa auch das Menschenopfer gehört, nimmt die Serie wirklich ernst -, zum anderen soll der Zuschauer hier wohl in einer Art Schocktherapie mit dem Archaischen schlechthin konfrontiert werden. Wobei die Vergangenheit bewusst als eine Erfahrung dargestellt wird, die nicht ohne weiteres aktualisiert werden kann oder soll. Die Vergangenheit soll befremdlich bleiben.

© Screenshot HistoryRagnars Bruder Rollo (Clive Standen) kämpft meist mit freiem Oberkörper und lässt somit besonders viel Blut auf seiner Haut gerinnen.

So bleibt es für den Zuschauer dauerhaft schockierend, mit welcher Selbstverständlichkeit und in welcher Breite die Wikinger immer wieder die Macht an sich reißen, indem sie andere kaltblütig abmurksen. Andererseits folgt dieses Vorgehen einer archaischen Logik, die durch eine Verengung der Perspektive zumindest plausibel gemacht werden soll. Wie, fragt der Film, wird ein Haufen bewaffneter Männer und Frauen, die noch kein Verständnis von der Gestalt der Welt haben, die keine Landkarten und kaum Gesetze kennen, wohl vorgehen, wenn sie die Küste eines ihnen unbekannten Landes betreten – und auf Gegner stoßen? In der Ausgestaltung dieser Konstellation verbinden sich dramaturgisch eine frühe Form des Abenteuer-Tourismus’ mit einer Situation, die vielen Video-Spielern bestens vertraut ist, wenn sie wieder einmal eine neue virtuelle Welt betreten.

Das Drehbuch Michael Hirsts, der auch die beiden “Elizabeth”-Filme mit Cate Blanchett sowie “Die Tudors” und “Die Borgias” geschrieben hat, ist nicht zu unterschätzen. Es hält den Geist wach. Hirsts Strategie besteht dabei im Grunde darin, eine vom Zuschauer erwartete Psychologie gegen die Schicksalsgläubigkeit der Wikinger auszuspielen. Und denen geht es im Grunde nur um die konsequente Durchsetzung eines göttlichen Willens, was den Darstellern der Wikinger außer Entschlossenheit über weite Strecken nicht allzu große Ausdruckskunst abverlangt – dies vielleicht auch zur Rechtfertigung des Castings.

© Screenshot HistoryDer blinde Seher (John Kavanagh) entwirft die Zukunft.

Als eine Art übergeordneter auktorialer Erzähler fungiert ein von allen nur “Seher” genannter Schamane, dessen Prophezeiungen sich oft nur deshalb erfüllen, weil die Figuren so inbrünstig an sie glauben. Weissagt der Seher etwa Ragnars erster Frau, Lagertha, dass sie kein Kind mehr bekommen werde, sieht sie, unerwartet schwanger geworden, während eines Kriegszuges keinen Grund mehr, sich und ihr Ungeborenes zu schonen – und verliert ihr Kind nicht zuletzt auch aus diesem Grund. Und vielleicht wäre Rollo (Clive Standen) erst gar nicht auf die Idee gekommen, seinen Bruder Ragnar bei den Franken zu verraten, wenn der Seher ihm nicht zuvor eine glänzende Zukunft vorausgesagt hätte.

Die wahre Macht

Und dann gibt es da noch die Figur des Ragnar selbst, bei der unklar bleibt, ob sie noch an die alten Götter glaubt. Der spätere Wikinger-König lässt sich aus taktischen Gründen nicht nur taufen, sondern führt auch recht anspruchsvolle religiöse Diskurse mit dem englischen König Egbert. Bei alldem gewinnt man den Eindruck, dass seine Neugier und seine Stärke gerade aus der Skepsis gegenüber einer göttlichen Vorbestimmung erwachsen. Wäre er ein Fatalist wie alle anderen – wäre er trotzdem mit seinem Schiff in den unbekannten Westen hinausgefahren?

Andererseits kommt Ragnar um die Anerkennung der nordisch-göttlichen Macht nicht umhin, allein, weil seine Umwelt von ihr geprägt ist. Und da aus Sicht der Nordmänner die Macht bei den Göttern liegt, ist, wer das Glück verliert, zugleich von ihnen verlassen worden – und kann sich auch als Herrscher nicht mehr halten.

Am Ende verliert Ragnar seine politische Macht, doch er erkennt, dass die eigentliche Macht in dem Vermächtnis besteht, das er seiner Familie und vor allem seinen Söhnen hinterlässt. So kann er sie indirekt zwingen, sein letztes politischen Ziel zu erreichen.

© Screenshot HistoryRagnars Sohn Iwar will in Spezialrüstung Rache nehmen – und nähert sich dabei äußerlich dem Fantasy-Genre an.
© Screenshot HistorySchöne Pointe: Als die Wikinger-Brüder Halfdan und Harald ihren Anführer Iwar zum ersten Mal in voller Montur sehen, müssen sie lachen, als wollten sie sagen: was für eine verrückte Show!

Um zu unserer Eingangsthese zurückzukehren: Ja, die Handlung in “Vikings” erweist sich tatsächlich als fordernder als die von “Game of Thrones”. Der Einsatz von Gewalt und Machtmotiven folgt nicht in erster Linie dem Spannungserhalt, sondern übergeordneten existentiellen Fragen. In “Game of Thrones” weiß man nie, was als nächstes passiert, bei den “Vikings” nicht, welchen Lebenswiderspruch Hirst als nächstes aus dem Hut zieht.

Allerdings, wie heißt es in einem Songtext von “Element of Crime”: “Nach hundert Folgen sind alle Abenteuer fad'” – und so droht es nun auch den “Vikings” zu ergehen. Die vierte Staffel deutete es bereits an, der Trailer zur fünften Staffel, die noch für dieses Jahr angekündigt wurde, lässt eine weitere Angleichung an die Dramaturgie von “Game of Thrones” erahnen. Doch würde es bei einem Drehbuchautor wie Michael Hirst andererseits nicht verwundern, wenn die “Vikings” auch dieses Schicksal abwenden könnten.

Der Trailer zur fünften Staffel