Blogseminar

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Diskutiert werden das Leben der Studierenden, aktuelle Fragen der Hochschulpolitik sowie die Zweiheit von Forschung und Lehre.

Spray it, don’t say it

Durchforstet man die deutschen Universitäten, überrascht die Armut an Graffiti. Die wenigen, die wir gefunden haben, sprechen aber eine deutliche Sprache. Was sagen sie über die Studentenschaft aus?

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Ein Phänomen, dessen Weg wahrscheinlich jeder schon kreuzte: Das Graffito. Vom weltbekannten Street-Artisten Banksy bis zu den rebellischen Siebtklässlern in der letzten Reihe, sind Graffiti so divers wie ihre Urheber. Analog zu den viel gehassten Pop-up-Fenstern im Internet sind sie bunt, omnipräsent und manchmal obszön. Teilweise muss man über sie mit den Augen rollen: Als könnte man eine Nation der FKK-Liebhaber mit einem nackigen Strichmännchen an der Klowand ärgern.

Vor allem enthalten sie aber auch unangenehme Wahrheiten, die gerade Studenten, in Verbindung mit der nächsten Hausarbeit, wie finstere Prophezeiungen vorkommen müssen:

Hier handelt es sich wohl um ein Graffito, das durch das Auflegen einer Schablone an einer Hauswand entstanden ist. Das Statement selbst sowie die Präsentation desselben sind schnörkelfrei, fast lakonisch gehalten und gerade deshalb so plakativ und wirkungsvoll. Der Sieg der Faulheit scheint unüberwindbar, braucht keine Erläuterung und ist ohne Kontext eine unausweichliche Wahrheit. Nur den Bruchteil einer Sekunde braucht das Graffito, um sich mit marktschreierischem Rot bemerkbar zu machen. Wer immer der Urheber dieses Graffito sein mag, er hat eines verstanden: Faulheit, das ist ein Laster, welches die Menschen zwar verlangsamt, sie aber in ihrer Trägheit eint. Die leidige Prokrastination. Die meisten Menschen leben mit ihr in einer herzlichen Hassliebe und jeder kennt das Bangen um die näher rückende Deadline, während der Finger, ein mieser Betrüger, wie von selbst das nächste YouTube-Video anklickt. Der Urheber dieses Graffito muss sich eine Person sein, die eine feine Beobachtungsgabe innehat und eine präzise Menschenkenntnis. Oder vielleicht klagt hier einfach jemand aus einem reichen Fundus an Erfahrung – und jegliche Identifikation mit dem Statement, ist ebenfalls Produkt derselben.

Besonders eindrucksvoll zeichnet sich hier ab, was alle Graffiti gemeinsam haben: Die Statements sind knapp gehalten und präsentieren ihren Sinninhalt ohne jeglichen Kontext. Ohne Höflichkeit schleudern sie einem die Langeweile der Anderen entgegen.

Graffiti machen natürlich auch vor Universitäten nicht halt. Doch selbst wenn man genauer hinschaut, erweisen sie sich angesichts der weit verbreiteten Langeweile als überraschend selten. In den richtig großen Hörsälen der Uni Jena zum Beispiel sind die meisten Kritzeleien wohl einem unaufhaltsamen Sauberkeitswahn zum Opfer gefallen. Oder sieht man hier einfach nur die blankpolierten Tische einer Studentenschaft, die sich absolut nichts mehr zu sagen hat?

Bei dem offensichtlichen Graffito-Mangel, den die Studierendenschaft nicht zu beheben vermag, scheint es, als ob die Universitätsverwaltungen der Abwechslung halber teilweise selbst Hand anlegten. Hier ein ganz besonders originelles Beispiel der Uni Erfurt:

Dieses auf den ersten Blick recht unscheinbare Schildchen soll von seiner Grundidee her eigentlich schlicht und ergreifend dazu beitragen, über Nummer, Zweck und Insassen des Raumes zu informieren, an dessen Außenwand sie hängen. Doch klug erfährt es hier eine Zweckentfremdung: Erläutert wird, wie man das Schildchen selbst an der Wand anbringt. Die Studenten können mit Hilfe dieser Anleitung bei Bedarf also einfach selbst ihr eigenes Schild an der Wand anbringen. Zudem muss bemerkt werden, dass das Schild, das eigentlich etwas anderes präsentieren soll, selbst zum Ausstellungsobjekt wird. Ein intellektueller Twist.

Nun aber zur Analyse der tatsächlich in verschiedenen Unis vorgefundenen echten Graffiti. Bei den meisten handelt es sich um eine Variante der mit Kugelschreiber eingeritzten Kurzweisheit, die offenbar aus einem spontanen (Inspirations-)Moment heraus entstanden ist. Ebendiese Spontanität ist wohl auch für die eintönige Machart verantwortlich. Niemand sitzt mit seinem Reimbuch zu Hause und zählt Hebungen für spätere Tischkritzeleien. Mit Kugelschreiber und Block lässt man sich im Vorlesungssaal nieder, und wenn man Abwechslung von der Nasenpflege sucht, kritzelt man den nächsten Gedankenblitz versehentlich aufs Holz vor sich. Für schwindelerregende Farbkompositionen reichen weder Zeit noch Ressourcen, so muss man sich zumeist mit einer Kritzelei aus Kugelschreiber und einem diebischen Grinsen zufriedengeben.

Darüber hinaus eint die meisten Universitäts-Graffiti, dass sie sich des Mediums der Schrift bedienen. Betrachtet man ausschließlich das Medium, durch das sie realisiert werden, während man den Inhalt vollständig außer Acht lässt, so sind die vorgefundenen Kritzeleien kaum von Gesetzestexten oder Doktorarbeiten zu unterscheiden. Eine Differenzierung wird erst durch die Betrachtung der jeweiligen Konzeption von Sprache deutlich. Und diese zeichnet sich, wie sich erweist, weniger durch kühle Präzision aus, als sie vielmehr an einen Gesprächsschnipsel erinnert, den man im Vorübergehen aufschnappt.

Klar hat man bei diesem Graffito sofort ein ganz bestimmtes Bild im Kopf: Ein älterer Herr reckt einem dieser jungen Rowdys auf einem Roller aufgebracht seine Faust entgegen. Als spontaner Ausruf klingt der Satz plausibel, mit seinem “Junge” fast schon lebensecht, und eben das tut er dank seiner an die Mündlichkeit angelehnte Konzeption. Einziges aber dafür umso deutlicheres Anzeichen der Schriftlichkeit: Das Ausrufezeichen am Ende des Satzes.

Aber fraglich ist natürlich vor allem eins: Was genau muss in der Vorlesung behandelt worden sein, um diese Erinnerung oder dieses Bild wachzurufen? Erinnert der Prof an eben diesen Herrn, schwadroniert er über die Regeln des Straßenverkehrs oder neigt er gar zu Kopfnüssen? Man muss sich wundern. In dem vorliegenden Fall ist es die Kontextfreiheit, die das Statement zum Rätsel macht, statt dessen Allgemeingültigkeit zu demonstrieren.

Eine weitere Gemeinsamkeit vieler Graffiti ist deren Tendenz, mehr oder weniger forsch zu etwas Bestimmtem aufzufordern. Diverse Kampfansagen zu irgendeiner Revolution sind, gerade historisch gesehen, so zahlreich wie Sand am Meer, man könnte fast meinen, die Klowände und Klapptische würden serienmäßig mit ihnen als Aufdruck produziert. Doch solche Aufrufe gibt es auch in unpolitischer Version:

Der Imperativ wirkt hier relativ freundlich. Der Urheber oder die Urheberin des Statements fordert dazu auf, will aber, wie durch das „uns“ deutlich wird, selbst Teil der tanzenden Menge sein. Und wie steht es mit der “Markiertheit” dieses Satzes? Als markiert wird eine Aussage oder ein Text dann bezeichnet, wenn sie/er sich aufgrund seiner Wortwahl, seines syntaktischen Aufbaus oder seines Klangs vom Standarddeutschen unterscheidet. Bei der Aussage „Lasst uns wie Roboter tanzen“ ist kaum eine Abweichung festzustellen, die für ein bestimmtes soziales Milieu, eine bestimmte Altersgruppe oder einen bestimmten Dialekt sprechen würde. Festzuhalten bleibt also: Studentische Graffiti und damit wahrscheinlich auch ihre Urheber sind des Deutschen durchaus mächtig.

Darüber hinaus sind sie nicht geneigt, sich durch ihre kreativen Ergüsse zu irgendeiner sozialen Gruppe zuzuordnen. Sie präsentieren sich nach bisheriger Erkenntnis als geistig abwesende, tanzwütige Gesichtslose. Immerhin scheinen sie mit viel Phantasie ausgestattet zu sein. Wie sonst soll man mitten in einer Vorlesung auf eine so ausgelassene Tätigkeit wie das Tanzen kommen? Trägt der Prof wie ein Roboter vor? Oder ist es gerade die Tristesse der Vorlesung, die die Sehnsucht nach Ausgelassenheit und Sorglosigkeit wach werden lässt? Ein unlösbares Rätsel. Weder in diesem, noch im vorherigen Graffito wird zudem die gegenwärtige Situation des Urhebers beziehungsweise der Urheberin thematisiert. Wie es scheint, ist man in Gedanken weit, weit weg. Seltsam ist nur, wo sie verweilen: bei alten Herren und Robotern.

Eine ähnliche Denkbewegung zeigt auch das nächste Graffito:

Welt und Vorlesung können hier als direkte Gegensätze interpretiert werden. Der Welt, die draußen vor dem Fenster mit all ihren Verlockungen blüht, summt und brummt, ist die zähe, blutleere Vorlesung in einem direkten Vergleich entgegengesetzt. In das Gegenbild zur Natur fühlt man sich unnatürlicherweise hineingezwängt, als säße man in einem zwei Nummern zu kleinen Schuh. Ein Beispiel, das auch auf einer anderen Sinnebene, nämlich der des Geruchs, sehr gut funktioniert.

Auch dieser Spruch kann aufgrund seines Inhalts nicht in eine bestimmte Varietät eingeordnet werden. Mit einem seelentiefen Seufzen versehen ist das Graffito ein Satz, wie man ihn mündlich aushauchen würde, aber der psychologische Grund für das Statement ist diesmal recht klar. Der Urheber befindet sich in der misslichen Lage, in eine langweilige Vorlesung geraten zu sein. Der Blick schweift vom Fenster zur Uhr und zurück zum Fenster, vielleicht tiriliert dort ein Vöglein. Und wie ein Tsunami bricht sich die Erkenntnis bahn: Die Welt ist schöner als diese Vorlesung, vielleicht als alle Vorlesungen zusammen. Als einziges der hier analysierten Graffiti nimmt dieses direkt auf die Situation des Studierenden Bezug. Zwar wünscht sich der Urheber oder die Urheberin offenbar aus dieser heraus, dennoch ist er/ sie in Gedanken bei der Vorlesung. Diese wird sogar auf einer Ebene erlebt und wahrgenommen, die es ihm erlaubt, die Vorlesung mit seinem restlichen Leben zu vergleichen.

Alle Graffiti geben sich ihrer Natur gemäß lernunwillig, dienen sie doch zur Ablenkung ihrer Rezipienten und Verfasser. Doch dieses hier zeigt den Unwillen explizit, während die restlichen ihn nur implizit in sich tragen. Während dieses Graffito einen direkten Bezug auf die Vorlesung nimmt, beschäftigt sich das nächste sogar direkt mit dem Vorlesungsstoff:

Was geschieht hier? Das allgemeingültigste aller Zitate wird aus seiner Zeitlosigkeit gerissen und durch das nahtlose Verschmelzen mit Jugendsprache unwiderruflich in der Gegenwart verankert. Was immer gilt, das gilt auch heute. Der geneigte Leser wird die zeitgenössischen Zusätze bereits erkannt haben, es handelt sich natürlich um die beiden Anredeformen „Digger“ und „Alter“. Natürlich ironisieren die beiden Zusätze den poetischen Satz „Es irrt der Mensch solang er strebt“, das Schmunzeln ergibt sich gerade aus dem Kontrast zwischen den beiden Stilebenen.

Als Goethe- und darüber hinaus auch noch als “Faust”-Zitat ist der Ausdruck natürlich ausgesprochen prestigeträchtig. Zudem: Jede Dummheit, jedes Fettnäpfchen kann durch ihn entschuldigt und der Fettnäpfchentreter aufgrund seiner offenbaren literarischen Versiertheit aufgewertet und so von Peinlichkeit reingewaschen werden. Jugendsprache hingegen ist eines der Fettnäpfchen, in das man sich hüten muss zu treten. Zwar sind die Versuche, diese für die Zwecke der Werbung als Mittel zur Kommunikation und gleichzeitig zur Identifikation zu nutzen so zahlreich wie schmerzhaft, dennoch ist sie von einem denkbar miesen Ruf begleitet, sogar bis hin zum Vorwurf des Sprachverfalls. Mischt man die beiden „Sprachen“, so klingt das einigermaßen absurd, fraglich bleibt aber, was Mephisto auf den Ausspruch antworten würde, bevor er auf seinem Longboard verschwörerisch in den Sonnenuntergang verschwindet.

Auch hier muss ein Rätsel bleiben, was den Urheber oder die Urheberin zu dieser Kritzelei bewegte. Womöglich fühlt er oder sie sich, mit der geballten Weisheit des Profs selbst als Strebender und damit als Irrender? Und auch hier wird deutlich: Die Studentenschaft ist des Deutschen mächtig.

Jugendsprachliche Elemente und einen ähnlichen Stilbruch benutzt auch das nächste Graffito:

Neben der offenbaren Spitzenlaune des Urhebers sind hier weitere Kreativmerkmale der Jugendsprache erkennbar. Zunächst fällt natürlich die Neubildung innerhalb des Ausspruches auf: „Musealisierung“. Grundsätzlich ist die Jugendsprache, was die Neuschöpfung und auch die Neubildung von Wörtern angeht, ausgesprochen produktiv. Immerhin zwei der drei Topkandidaten der Jugendwörter des aktuellen Jahres, „tinderjährig“ und „napflixen“ sind Verschmelzungen aus jeweils zwei eigenständigen Wörtern. Dies ist hier zwar nicht der Fall, dennoch wird das Adjektiv „museal“ durch ein Suffix zum Substantiv und somit zu einem eigenständigen Wortbildungsprodukt. Zudem mutet das fertige Produkt keineswegs wie ein typischer Auswuchs der Jugendsprache an, scheint eher dem Feuilleton entlaufen, und steht damit im krassen Kontrast zu der restlichen Aussage.

Ironischerweise aber ordnet gerade dieses Merkmal den Ausdruck dem Arsenal der Jugendsprache zu. Es handelt sich nämlich um einen plötzlichen Varietätenwechsel innerhalb ein und desselben Satzes, vielleicht sogar um einen Wechsel in fachsprachliche Register. Das Wort besitzt (noch) keinen Eintrag im Duden, aber auch ohne Definition kann man erahnen, was den Urheber oder die Urheberin ärgert. Hier wird, ohne eine bestimmte Zielperson zu nennen, ein Vorwurf in den Raum geworfen. Nämlich nichts Geringeres als die institutionalisierte Zurschaustellung des Unwürdigen, der Scheiße. Wahrscheinlich ein Top-down-Prozess.

Als missmutige Prognose verstanden entwickelt das Gekritzel enorme Durchschlagskraft und stellt angesichts des immer schmaler werdenden Kulturetats eine wichtige Frage. Welche genau, ist bis dato noch unklar, trotzdem verleitet die Kompromisslosigkeit der Unlust zum Schmunzeln. Ein Rätsel auch hier: der Grund für den Grimm des Urhebers oder der Urheberin. Der Vorwurf der Zurschaustellung der Scheiße kann innerhalb einer Vorlesung durchaus Sinn ergeben, aber die Musealisierung will nicht richtig ins Bild passen. Oder musealisiert der Prof durch seine Vorlesung und kommt seine Aussage einer fast schon institutionalisierten Zurschaustellung gleich. Was der Prof sagt, ist zwar nicht Gesetz, aber immerhin Exponat? Spricht der Urheber/die Urheberin dem Vorlesenden so viel Macht zu?

Wie bei allen Graffiti kann man nur rätseln und raten.

Wem dies nicht genügen will, der wird an dieser Stelle abermals auf das allererste Graffito verwiesen.