Blogseminar

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Diskutiert werden das Leben der Studierenden, aktuelle Fragen der Hochschulpolitik sowie die Zweiheit von Forschung und Lehre.

Wie bleibt man EU-ropäer?

Als Europa-Abgeordneter gehörte er zu den Feindbildern der „Brexiteers“. Wie hat der grüne Parlamentarier Jan Philipp Albrecht, 33, das Referendum erlebt? Wie sinnvoll ist der nachträgliche Protest junger Briten – gibt es noch eine Hintertür?

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F.A.Z.: Am Wochenende sind Zehntausende in Großbritannien auf die Straße gegangen, um gegen den Brexit zu demonstrieren, was bringt das jetzt noch?

Jan Philipp Albrecht: Es bringt nicht mehr wirklich viel – bezogen auf die Entscheidung. Die ist gefallen, die Mehrheit der Briten, die wählen gegangen sind, wollen aus der Europäischen Union austreten. Was man an der Demonstration aber auch erkennen kann, und natürlich auch an dem knappen Ergebnis: Es gibt einen großen Teil von Briten, die in der EU bleiben möchten. Die waren aber, das zeigt das Wahlverhalten vieler junger Menschen, nicht in der Lage, sich für die eigene Meinung einzusetzen, bevor es zu spät ist.

Thousands of protesters take part in a March for Europe, through the centre of London on July 2, 2016, to protest against Britain's vote to leave the EU, which has plunged the government into political turmoil and left the country deeply polarised. Protesters from a variety of movements march from Park Lane to Parliament Square to show solidarity with those looking to create a more positive, inclusive kinder Britain in Europe. (Photo by Gail Orenstein/NurPhoto) | Keine Weitergabe an Wiederverkäufer.© dpa“March for Europe” am vergangenen Wochenende in London

Haben die jungen Wähler Europa für zu selbstverständlich gehalten?

Ja. Viele sind der Fehleinschätzung aufgesessen, dass die Europäische Union und ihre Errungenschaften etwas sind, das nicht rückabwickelbar ist. Das Gegenteil wollten die Brexit-Befürworter beweisen. Und das haben sie auch eindrücklich getan.

Wie haben Sie als EU-Parlamentarier – als Feindbild der Brexiteers – auf Veranstaltungen die Stimmung im Vorfeld des Referendums wahrgenommen?

Ich hatte einige Veranstaltungen in Großbritannien und war überrascht, wie positiv die Reaktionen auf unsere Arbeit waren, wenn es wirklich Gelegenheit gab, sie zu erklären. Das Problem aber war, dass europäische Abgeordnete in den medialen Debatten Großbritanniens überhaupt nicht präsent waren. Ihre Arbeit und ihr Wirken war für die britischen Wähler nicht sichtbar. Das war zum einen ein Fehler der Parteien, die ihre EU-Abgeordneten nicht in Stellung gebracht haben, es war aber auch ein Fehler der Medienöffentlichkeit, die letztlich darauf ausgerichtet war, Brüssel nur als Demokratiemonster darzustellen. Doch das Ganze ist nicht einmal ein genuin britisches Problem. Ich denke, dass es in allen Ländern der Europäischen Union, und auch in Deutschland, massiv existiert und wir uns darauf einstellen müssen, dass, wenn es ähnliche Abstimmungen anderswo gibt, die ähnlich ausgehen könnten wie in Großbritannien.

Ist die repräsentative Demokratie der jüngeren Generation fremd geworden?

Das glaube ich schon. In einer Zeit, in der wir es immer mehr mit individualisierten Lebensentwürfen zu tun haben, in der jeder seines eigenen Glückes Schmied ist, ist die kollektive Vertretung von Interessen, auch durch Parteien und Abgeordnete, nicht mehr so lebensnah wie früher. Umso wichtiger finde ich, dass die jungen Menschen ein eigenes Verständnis dafür formulieren, welche Rolle eigentlich Parlamente und Parlamentarier in unserem Leben künftig spielen sollen. So viel ist klar: Ohne Parlamente wird es unglaublich schwer werden, eine faire Demokratie zu gewährleisten. Die Komplexität der Fragen, denen wir in einer globalisierten und digitalisierten Welt gegenüber stehen, kann nicht jeder für sich selbst im Rahmen einer Volksabstimmung beantworten. Wir wollen andererseits nicht die Diktatur der Mehrheitsmeinung in einer plumpen Abstimmung, sondern wir wollen Menschen, die dazu in der Lage sind, miteinander auszudiskutieren, wo die Probleme liegen und welche Kompromisse angemessen sind.

Welche Möglichkeiten hat man als Parlamentarier heute noch, komplexe Sachverhalte zu erklären?

Der Grünen-Europaabgeordnete Jan Philipp Albrecht sitzt am 10. März 2014 in einem Raum des Europaparlaments in Straßburg und hört einer Debatte im Innenausschuss LIBE zu. Der Deutsche ist Berichterstatter des Parlaments zur Datenschutz-Grundverordnung. Foto: Wolf von Dewitz, dpa. |© dpaJan Philipp Albrecht im Europaparlament in Straßburg

Eigentlich sind die Möglichkeiten besser denn je. Durch die Digitalisierung haben wir viele Wege, in die Kommunikation mit Menschen einzutreten. Das Problem ist, dass die neuen digitalen Möglichkeiten mit Qualitätsverlusten einhergehen. In 140 Zeichen müssen wir unsere Position formulieren und zugleich vermitteln, dass wir auch Menschen sind. Wer ein Erklärvideo macht, das länger dauert als eine Minute, verliert im Grunde schon die Aufmerksamkeit. Die politische Bildung, aber auch die Parteien und Medien sind jetzt gefragt, Räume zu schaffen, in denen überhaupt wieder richtig kommuniziert werden kann. Auch fände ich es sinnvoll, Europa-Abgeordnete mehr in Fernsehtalkshows vorkommen zu lassen. Die deutsche Medienlandschaft ist sehr auf deutsche Positionen fokussiert. Das trägt natürlich nicht dazu bei, eine europäische Gemeinschaft zu schaffen, die in der Lage wäre, gemeinsame Antworten zu finden.

Sind die Demonstranten in London für die EU auf die Straße gegangen?

So, wie ich das wahrnehme, haben die jungen Menschen dafür demonstriert, dass sie die Perspektiven, die sie innerhalb der Europäischen Union hatten – eine Arbeitnehmerfreizügigkeit, zu der auch gehört, dass man überall in Europa studieren kann sowie die Möglichkeit, in all diesen Ländern zu leben, überall problemlos hinzureisen –, behalten. Das hört sich für mich sehr nach Europäischer Union an.

Was können junge Menschen konkret für ihre Freizügigkeitsideale tun, wenn ihnen so viel daran liegt?

Das Allerwichtigste für junge Menschen ist, sich überhaupt erst einmal für europäische Politik, für die Politik der Union, aber auch die der anderen Mitgliedsländer, zu informieren und sich ein eigenes Bild darüber zu verschaffen: Wie funktioniert die EU und wer ist da eigentlich für was verantwortlich? Das Europäische Parlament ist inzwischen so transparent wie fast keine nationale Institution. Man kann sich inzwischen alle Ausschusssitzungen live angucken, das ist schon fast ein Überangebot. Damit es auf fruchtbaren Boden fällt, muss es aber überhaupt erst einmal eine informierte Öffentlichkeit geben. In Großbritannien ist das absolut schiefgegangen. Dort konnten Lügen über die EU verbreitet werden, weil es einfach keine Gegenöffentlichkeit gab. Dieser Zustand muss durchbrochen werden. Wenn das gelungen ist, steht viel Raum offen für europäische Debatten.

Ist das Demonstrieren noch zeitgemäß?

Auf jeden Fall ist es das. Ich glaube, dass Menschen auf echte Interaktion immer noch schneller reagieren. Viele politische Entscheidungen wie damals das drohende ACTA-Abkommen sind dadurch beeinflusst worden, dass junge Menschen auf die Straße gegangen sind. Auch auf Proteste gegen einen unfairen Welthandel, zuletzt gegen TTIP, hat die Politik reagiert. Und auch die Demonstration in London hatte eine große Außenwirkung. Die Bilder wirken.

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Dieses Video gewann einen der Preise beim diesjährigen Foresight Filmfestival zu der Frage “Wie wollen, wie werden wir leben?”

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Man kommt mit Demonstrationen eher in die Tagesschau als mit digitalen Aktionen.

Demonstrationen haben immer noch qualitativ einen besonderen Stellenwert. Das digitalisierte Leben ist ein Stückweit ein Blasenleben. Jeder ist in seiner eigenen Blase, in der alle die gleiche Meinung haben. Ich glaube, dass das auch beim Brexit-Referendum einer der Gründe dafür war, dass sich so viele Leute verschätzt haben.

Geht die neue Generationendebatte in die richtige Richtung – die Zuspitzung auf Alt gegen Jung?

Ich glaube, die Generationendebatte muss schon seit Jahren geführt werden. Schon lange ist klar, dass die heutigen Generationen sowohl volkswirtschaftlich als auch ökologisch auf Kosten der kommenden Generationen leben, und dass die Interessen der jüngeren Menschen und auch derjenigen, die noch nicht geboren sind, eigentlich eine größere Rolle bei den politischen Entscheidungen spielen müssten. Das müssen die jungen Menschen nun einfordern, das muss auch die Politik einfordern. Ob es richtig ist, diese Forderung mit dem Vorwurf zu verbinden, dass junge Menschen ihres Rechts beraubt werden, bezweifle ich. Es ist ein Auftrag an die Jungen, sich zu wehren und für ihre Interessen zu kämpfen. Zumal das Brexit-Referendum gezeigt hat, dass ihnen das noch nicht ausreichend bewusst ist.

Sehen Sie als Jurist noch eine rechtliche Möglichkeit, den Brexit zu verhindern?

Als Demokrat muss man sagen, diese Entscheidung hat stattgefunden, sie war rechtlich ganz offensichtlich nicht anzuzweifeln – auch wenn man natürlich fragen kann, warum Menschen, die britischer Abstammung sind, nicht mitstimmen durften, nur weil sie seit einigen Jahren nicht mehr in Großbritannien gelebt haben. Aber diese Entscheidung zu akzeptieren heißt nicht, dass man am Ende, nach einer weiteren öffentlichen Debatte, in der die vielen Unwahrheiten, die verbreitet wurden, auf den Tisch kommen, nicht doch sagt: Wir nehmen den Willen der Teilnehmer dieses Referendums, das nicht rechtsverbindlich ist, sehr ernst, kommen aber doch zu dem Ergebnis, dass die gewählten Volksvertreter Großbritanniens einen anderen Weg gehen werden. Das halte ich nicht für undemokratisch.

Was erwarten Sie von dem bevorstehenden Wahlkampf in Österreich, die EU soll zum bestimmenden Thema werden?

Wir werden erleben, dass die Rechtpopulisten in Österreich nach dem Brexit enormen Rückenwind verspüren. Der Kampf um Gegenpositionen wird anstrengender und mehr Energie benötigen als bisher.

 

Jan Philipp Albrecht, 33 Jahre alt, deutsch-französischer Politiker, ist seit 2009 Europaabgeordneter für Bündnis 90/Die Grünen und stellvertretender Vorsitzender des Innen- und Justizausschusses im Europäischen Parlament, kürzlich erschien der Dokumentarfilm „Democracy – im Rausch der Daten“ über sein Wirken als Verhandlungsführer der EU-Datenschutzreform.