Ich bin sicher der Letzte, der der Fehleinschätzung erliegen würde, schlimme persönliche Erfahrungen im eigenen Umfeld oder der eigenen Familie würden Menschen irgendwie “edler” oder “geprägt von Erkenntnis” machen, nach dem Motto “was Du nicht willst, dass man Dir tu, das füg auch keinem anderen zu”. Ich bin nach Gesprächen mit Menschen, die im 2. Weltkrieg oder in den Nah- und Mittelostkonflikten ganz erhebliche Gewalt ausübten und auch Menschen umbrachten, schon froh, wenn sie später einmal vorsichtig über die Vergangenheit reflektieren. Aber das machen nicht alle und die meisten sind der grimmigen Meinung, dass es “halt so war”. “Leider”. Insofern bin ich jetzt auch nicht überrascht, dass Dunja Hayali, die von einer oft unterdrückten, religiösen Minderheit aus dem Irak abstammt, hier in Deutschland nun Verständnis für das Netzwerkdurchsetzungsgesetz äußert. Sie stellt, erstaunlich für eine führende Journalistin eines öffentlich-rechtlichen Rundfunks, den Gummibegriff “Hassrede” – unschön, aber nach der laufenden Rechtsprechung sehr oft durch das Grundrecht der Meinungsfreiheit gedeckt – auf eine Stufe mit dem klar definierten Straftatbestand der Volksverhetzung.
Die SPD-Politikerin Sawsan Chebli kommt aus einer palästinensischen Familie, die 1970 aus dem beginnenden Bürgerkrieg im Libanon nach Deutschland geflohen ist. Wer den Libanon kennt: Da macht einen die politische Meinung in der einen Strasse zum Vertreter der einzig wahren Sichtweise und eine Strasse weiter zum Ziel von Anschlägen. Der Libanon war jahrzehntelang ein Paradebeispiel dafür, was passiert, wenn man sich dem politischen Diskurs verweigert, und trotzdem schreibt Chebli:
Meinungsfreiheit schützt man nicht, wenn man alles sagen darf. Höcke, Storch, Maier, Gauland… es wurde nicht besser.
— Sawsan Chebli (@SawsanChebli) January 5, 2018
Der Vater der früheren taz- und jetzigen Zeit-Journalistin Mariam Lau musste sowohl vor dem Regime des persischen Schahs als auch vor dem Regimes der Mullahs aus dem Iran fliehen. Twitter wird per Gesetz gezwungen, jeder Denunziation nach dem NetzDG nachzugehen und macht das auch so intensiv, weil es nun mal die Rechtslage in Deutschland ist. Trotzdem hat Frau Lau da einen Verdacht, Twitter könnte absichtlich so agieren:
Kann es sein, dass die neue Übereifrigkeit beim Sperren und Löschen von Tweets und Accounts einfach ein Versuch von Twitter und Facebook ist, Stimmung gegen das Gesetz zu machen (das klar Macken hat, aber dessen Grundabsicht nicht verkehrt ist)? ??
— Mariam Lau (@MariamLau1) January 7, 2018
Das sind drei Beispiele von Personen, bei denen man eigentlich annahmen könnte, sie würden über das NetzDG und seine Folgen genauer reflektieren. Dass es westdeutsche Wohlstandskinder ohne Diktaturerfahrung nicht tun, weil sie der Meinung sind, dass sie recht haben, und sich zu den 87% zählen, die gegen die AfD antreten, war nicht anders zu erwarten – speziell, wenn sie für die SPD, in ihren Vorfeldorganisationen oder in den öffentlich-rechtlichen Sendern sind, die sich in dieser Frage betont politiknah zeigen. Es sind viele Leute im Netz unterwegs, die wirklich glauben, die Ehe-für-alle- und Einwanderungsnation BRD, in der die Steuern für mehr Windstrom erhöht werden sollen und Vermieter per Gesetz zu billigen Mieten gezwungen werden, sei auf dem Weg nach rechts, und müsste mit allen Mittel gestoppt werden, gnadenlos. Es ist kein Zufall, dass die erste bekannte Löschung in diesem hysterischen Klima nach Neujahr nach dem NetzDG gar keinen Rechten betraf, sondern einen missverstandenen Witz einer Autorin – mit SPD-Parteibuch.
Ich teile die Befürchtung des Kollegen Wieduwilt, dass die SPD um so verbissener um das Gesetz kämpfen wird, je stärker die Kritik wird. Nicht nur wegen der AfD und ihr Umfeld, gegen die sich das Gesetz richtet und die natürlich, im Gegensatz zur ebenfalls betroffenen Titanic, keinerlei Unterstützung der Medien erhalten. Sondern auch, weil das Verhältnis der SPD zu Bürgerrechten traditionell so ist, egal ob bei der Vorratsdatenspeicherung, dem neuen Sexualstrafrecht, das uns mittelfristig neue Debatten über steigende Fallzahlen durch Flüchtlinge bringen wird, bei HartzIV, beim Leistungsschutzrecht, oder bei CETA, TTIP und dem angeblichen “Prostitutionsschutzgesetz“. Die SPD ist dort unten, wo sie nun ist, nicht angekommen, weil sie so eine tolle Politik gemacht hat, sondern weil das NetzDG idealtypisch für das Regierungshandeln der Sozialdemokratie steht. Heiko Maas, Anetta Kahane und andere Exponenten der Netzkontrolle halten sich für Drachentöter, auch wenn sie für eine Entwicklung stehen, die zurück nach Ostberlin vor 1989 weist, gerade so, als wollte sich die SPD für die Umschreibung “SED-Nachfolgepartei” bewerben.
Wie gesagt, ich bin Historiker, und als solcher weiß ich, dass die Möglichkeit zur Denunziation genutzt wird, sobald man sie anbietet. Ich erlebe das auch eigentlich täglich, denn selten einmal schreibe ich einen Beitrag, für den mich dann nicht jemand bei meinem Arbeitgeber verpetzt. Das letzte Beispiel ist von gestern, die Dame ist Pressesprecherin der SPD im hessischen Kronberg und dort auch im Gemeinderat, und sie wendet sich hier mit Mention auch direkt an die FAZ:
Was für ein dummes Geschwurbel, und das im Namen der @faznet?
— Gabriela Roßbach (@goldaufweiss) January 7, 2018
Das ist die banale Mentalität der kleinen Anschwärzung, aus der heraus das Denunzieren erwächst. Würde Twitter tatsächlich etwas von mir löschen, würde der Denunziant das vermutlich auch stolz mitteilen, wie man das momentan laufend erlebt. Es ist ziemlich hässlich. Und erwartbar. Nur eine Sache hat mich wirklich verstört, vermutlich so, wie es einen Bürger der frühen DDR verstört hat, wenn der frühere kommunistische Widerständler aus dem KZ dann in der STASI aufsteigt. Denn das Denunzieren beim Arbeitgeber ist nicht neu. Und zwei frühere Bekannte, die sich dem NetzDG gewogen zeigen, wissen genau, wie hoch die Risiken sind. Weil dieses Denunzieren zusammen mit dem lockeren Mundwerk beiden fast die Karriere gekostet hätte.
Bei solchen Ausrutschern gibt es Leute wie die deutsch-österreichischen Moderatoren Stermann und Grissemann, die sich einmal in eine Erschiessungsbemerkung gegen Jörg Haider hineingeplaudert haben, als das Aufnahmegerät eingeschaltet war. Das kann passieren, es wurde knapp, die beiden haben sich entschuldigt und aufgrund ihrer enormen Popularität ihre Karriere fortgesetzt. Das sind aber die Grossen in diesem Geschäft. Die Mittelschicht, die von ihren Aktivitäten zwischen Medien und Netz leben kann, ist bei weitem nicht so sicher, und die beiden Fälle, die ich kenne, sind ganz ähnlich: Die beiden Personen haben jeweils etwas gesagt, das “man nicht sagt”. etwas aus dem Graubereich zwischen sehr blöd, geschmacklos und noch nicht strafbar, aber doch arbeitsrechtlich relevant. Egal ob Youtuber oder Webjournalist: Es gibt zwar Meinungsfreiheit, aber nicht jede öffentlich getätigte Aussage muss der Arbeitgeber hinnehmen. Öffentliche Beispiele gab es schon: Der selbst von Strafverfolgung bedrohte Herr Böhmermann hat im Mai 2017 den früheren Nachrichtensprecher Hans Meiser wegen Verbindung zu einem fragwürdigen Portal entlassen. Oder die Entlassung einer Autorin, die nicht für Blumenmädchen bei der schwulen Hochzeit das Wort ergriff, und von Volker Beck und seinen Mitarbeitern gehetzt wurde. Die beiden Fälle, die ich persönlich gut kenne, waren nicht rechts oder konservativ, sondern einfach nur “doof” und in einem Fall offensichtlich nicht bei vollem Bewusstsein abgeschickt. Wir wissen eigentlich alle, dass solche kurzen, dummen Wutausbrüche passieren. Ich gehe dann radeln, andere sagen es ihren 56.000 Followern. Brühwarm. So wie Heiko Maas es Sarrazin gesagt hat.
Sarrazin falsch geschrieben und öffentlich eine Beleidigung geteilt. Läuft beim 'antihass' Minister. #NetzDG pic.twitter.com/NUgPWeozfu
— Ali Utlu (@AliCologne) January 6, 2018
Aber der kleine Netzjournalist ist nun mal kein Minister, den eine Partei halten will, und auch kein Idol grosser Gruppen, sondern nur ein mehr oder weniger ersetzbarer Leistungsbringer. Sehr oft sind diese Leute in einem prekären Anstellungsverhältnis, und auf jeden von uns kommen 100 andere, die gern unsere Jobs hätten. Und die Fälle, die ich mit ihren Details kenne, betreffen zwar durchaus eher linke Personen, aber die Vorwürfe haben mit der politischen Ausrichtung überhaupt nichts zu tun. Beide Fälle hatten eher zufällige Auslöser, beide sagten am falschen Ort die falsche Sache und gerieten damit an die falsche Person. Im normalen Gespräch hätte man vielleicht die Augen verdreht und das alles schnell wieder vergessen, aber hier draußen im Netz wurde daraus eine Nachricht, und irgendwo in den Konzernen trafen die Denunzianten dann auch auf Vorgesetzte, die nicht umhin kamen, das zur Kenntnis zu nehmen. Und so kommt es dann, dass jemand, der jahrelang eigentlich nur das “Richtige” sagte, einmal aus dem Impuls heraus ein einziges Mal das Falsche tut, und dabei in Konflikt mit Verhaltensrichtlinien kommt, die eigentlich Vorschriften sind.
Jedem ist eigentlich klar, dass es unvermeidlich ist. Das Leben ist keine Verhaltensrichtlinie, niemand macht immer alles richtig und je unwichtiger die Nebenschauplätze sind, desto öfters leistet man sich manchmal einen weniger gelungenen Spruch. Politisch gesprochen haben wir jenseits unserer Moralpanzer auch viele weiche Flanken, die uns angreifbar machen, und dazu kommt auch noch die Neigung diverser kreativer köpfe, Betäubungsmittel und Mobiltelefon gleichzeitig zu benutzen. Ich habe nur einen Rechner und trinke keinen Alkohol, aber bei manchen gehört eine gelöste Stimmung ohne Impulskontrolle irgendwie dazu . Das macht aber noch niemanden zu einem schlechten Menschen. Wenn aber auf der anderen Seite des Bildschirms dann ein kühler, überlegter Stratege sitzt, und den richtigen Zeitpunkt erwischt, wird das zur Bedrohung. Manche wollen das genau so haben, ein gewisser Jürgen Geuter betreibt sogar in Bezug auf mich und meine Tätigkeit schon lange eine eigene Webseite:
Ist Don Alphonso noch bei der FAZ? https://t.co/0ZLoNTQeJs
— Jürgen Geuter (@tante) March 7, 2014
Andere planen genau, warten auf den richtigen Moment, oder haben einfach nur Glück, weil ihre Mail die “richtige” Stelle erreicht. Das ist alles kein Ergebnis des NetzDG, das war alles schon länger da, und speziell Twitter ist mitunter brandgefährlich gewesen. Das NetzDG trägt mit seiner privatisierten und fehlerhaften Zensurinfrastruktur und nachweisbaren Denunziationserfolgen zu einer Verschärfung bei, weil es Fehltritte dokumentierbar macht. Es wird mit Email von Twitter belegbar, dass jemand daneben gegriffen hat, und zur perfekten Dystopie für alle braucht man nur noch einen verbindlichen Internetausweis, den ich der neu-alten GroKo jederzeit auch zutrauen würde.
Sie werden es auch machen können, denn die geschlossenen Reihen derer, die dagegen sind, gibt es nicht mehr. Es gibt viele, die sich mit dem NetzDG arrangiert haben und es für ungeschickt, aber nötig erachten. Sie sagen das Wort “Leider” dazu, selbst wenn sie aus eigener Ansicht die Risiken kennen. Sie sind bereit, diese Risiken auch für andere in Kauf zu nehmen, weil sie denken, es diene ihrer größeren Sache und ihren Vorstellungen. In den letzten Jahren haben genau diese Leute immer darauf hingewiesen, wie schnell ein Land Richtung 1933 kippen könnte. Jetzt geht es wieder gegen den innersten Kern und den Geist des Grundgesetzes, und sie sagen, ihre Haltung sei vielleicht unpopulär, aber es sei nun mal angesichts der vielen Bedrohungen nötig. Leider. Es ist eine Argumentation, mit der man auch Selbstschussanlagen an der deutsch-deutschen Grenze aufstellen kann.
Könnte @HeikoMaas oder jemand in seinem Ministerium mir sagen, wie ich diese Denunzianten-Spam bei @Twitter deaktivieren kann? Oder braucht es erst ein DenunziantenspamDG? pic.twitter.com/B7asRs1sg3
— Julian Reichelt (@jreichelt) January 8, 2018
Wie gesagt, es machen nicht irgendwelche Leute aus dem Netz,, sondern enge Bekannte, von denen ich mir sicher war, dass ich sie sehr gut gekannt habe, und die selbst die Risiken nur zu gut kennen. Ich hätte mir das nie vorstellen können. Denn eigentlich wissen sie, dass Menschen fehlbar, aber integer sein können, und welchen Preis man letztlich alle zahlen, wenn man das aus den Augen verliert.