Auch das Leben im Untergrund wird von Kapitalismus und Klassengegensätzen dominiert. Gehüllt in leichtfertige Musik erzählt dieser Song eine Geschichte von Heroin und Abhängigkeit.
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Nichts passt, alles stimmt. Nah zusammen stehen die beiden Akteure auf der kleinen Bühne des Londoner Marquee Clubs und könnten kaum unterschiedlicher sein: der Eine beginnt nervös auf die Handfläche zu klopfen wie ein Flamenco-Tänzer, um dann, während er singt, mit dem ruhelosen Körper zu arbeiten, je länger desto intensiver. Der Andere steht mit gesenktem Kopf wie vom Himmel herabgeweht und bewegt einzig die Finger an der Gitarre. Seine Mimik hat er in den Wolken gelassen, er horcht nach innen, auf den Gott der Musik, und schlägt er die Augen auf, bleibt er reglos. Mick und Mick, gleichnamig und jeder ganz für sich. Während dem Einen der Einsilber genügt, da er sein eigener Maßstab ist, heißt der Andere bloß „the other Mick“ oder, noch schlimmer, „Little Mick“, weil er erst zwanzig ist, als er 1969 auf Brian Jones folgt. Dennoch und zu Recht werden die fünf Jahre, die er Jagger erträgt, nach ihm benannt: „The Mick Taylor Years“ bilden von 1969 bis 1974 die unübertroffene Gipfelstrecke der Stones.
„Sticky Fingers“, ihr erstes Studio-Album in der neuen Besetzung, erschien im April ’71, kurz nach dem Marquee-Auftritt. Durch einige Nummern weht der Country-Wind, zu ihnen gehört „Dead Flowers“. Schon beim zweiten Mal kann man mitsummen: Alles ganz einfach, verspricht die Melodie. Wer vom Text nur „little Susie“ verstanden hat, tippt vielleicht auf ein Cowgirl in Jeans oder die naive „little Susie“ der Everly-Brothers aus den Fünfzigern. Doch die Lyrics halten dagegen: so schlicht sind die Zeiten nicht mehr. „Beggars Banquet“ mit „Sympathy for the Devil“ ist schon im Dezember 1968 erschienen, das Altamont-Desaster ein Jahr später verdunkelt das Image der Gruppe nachdrücklich. Und wie um noch eins drauf zu setzen, entschließt sich Warner Brothers im August ’70, den bisher zurückgehaltenen, schon ’68 gedrehten Film „Performance“ in die Kinos zu bringen, ein stylishes Drogen-Drama voller Gewalt, das in der Dealer-Szene spielt. Jagger gibt darin sein Schauspiel-Debüt, nicht in der Hauptrolle, aber doch als Haupt-Hingucker. Geschmeidig und androgyn gleitet er mit zwei Gespielinnen durch halbdunkle Zimmer und Badezimmer, sitzt mit ihnen in der Wanne und richtet seine kajalumrandeten Belladonna-Augen auf nichts Spezielles.
Die in „Dead Flowers“ besungene Susie ist Teil dieser Welt. Sie hält sich für „the queen of the underground“, vielleicht ist sie es tatsächlich. Darauf verweist der Hauch Düsternis, der sich in den ersten Takten auf Micks Stimme legt, ehe eine entschiedene Verachtung dem Queen-Glitz den Glanz entzieht. Ungeniert und von oben herab spricht das Ich über Heroin, Schmerz und Grab und verhöhnt die Blumenmetaphorik. Susies Einnahmequelle ist der Drogenhandel, mit ihm finanziert sie ihr Luxusleben inklusive rosa Cadillac. Das Ich hingegen hockt mit needle und spoon im Keller und muss erfahren, dass Kapitalismus und Klassengegensätze auch das Leben im Untergrund dominieren.
Erzwingt das nicht eine peinvolle Ballade oder eine Bitte um Erlösung?
Aber nein. In diesem Song wird nur mäßig gelitten und überhaupt nicht gefleht. Als handle es sich um ein bisschen Mohn, wird Susie aufgefordert, den Stoff mit der Post zu schicken. Zum Dank wird der Süchtige Rosen auf ihr Grab legen, denn er wird sie überleben, nicht sie ihn, da ist er sicher. Kein Häuflein Elend singt hier, wenn auch mit Schmerzen, sondern ein stolzer Spötter.
Dreimal Chorus plus zwei Strophen ergeben keine Geschichte, reizen aber Auge und Seele zu üppigen Bildern. In welche Richtung sie driften und what it’s all about, hängt davon ab, wie Mick singt und wie der Hörer gestimmt ist. Schwarzer Text, helle Musik: wohin sich die Waage neigt, bleibt offen, besonders, was die Beziehung zwischen Susie und dem Ich betrifft. Ein Rest von Liebe? Aggressivität? Bitterkeit? Im Netz sind ausführlich verteidigte Meinungen über einzelne Verse zu lesen bis hin zu dem Schwur, dass Keith Richards niemals Heroin konsumierte. Solche Debatten haben sich überlebt. Besser macht sich der Hörer seinen eigenen Reim anhand verschiedener Mitschnitte, zum Beispiel des „offiziellen“ Videos, aufgenommen 1972 bei einem Live-Auftritt in den Vereinigten Staaten. Dort schiebt ein übermütiger, gut gelaunter Mick den Song vollends ins Heitere, Harmlose. No cold basement room under the sun of Texas. Das ist die easy-going-Version und fast ein Verrat.
Wie vieldeutig schillert dagegen die Marquee-Aufnahme zwischen tragischem Anflug und Selbstparodie. Ein amerikanisches Fernseh-Team filmte das Konzert, dann ging das Material verloren und war verschollen, bis es 2015 auf dem üblichen, legendären Dachboden wiedergefunden und veröffentlicht wurde. Sorgfältig restauriert, zeigt es die Stones in ungewohnter Umgebung: statt tobender Arena ein intimer Club mit enger Bühne und höflichem Publikum; die Kamera nah dran, aber nicht indiskret und immer aufs Wesentliche gerichtet. Mick im Pailletten-Bolero über kindlich glatter Brust, eine Ikone des Widerstands gegen die guten Sitten, so lockend und agil wie in „Performance“. Deutlich artikuliert er die trostlosen Worte, aber sie schlagen keine Wurzeln: die Musik antwortet froh und unbeeindruckt, nichts passt, alles stimmt. Zum Chorus eilt Keith aus dem Schatten ans Mikro und darf die erste Stimme weiterführen; als „needle and spoon“ das Milieu skizzieren, zeigt eine hingewischte Kürzest-Aufnahme ein angedeutetes Lächeln samt Schulterzucken. Auf der anderen Seite steht Mick Taylor, neigt den Kopf mit dem dichten, dunkelblonden Haar und lauscht auf sein Solo, während die Kamera den Fingern folgt. Zwischendurch ruht sie auf Charlie und Bill, den redlichen Arbeitern, die das Fundament liefern.
Ein herrliches Video zu einem ambivalenten, leichtfertigen Song. Heroin ist das Grauen, nichts anderes, was hier bloß angedeutet wird. Aber welch ein Vergnügen, den Stones zuzuhören und zuzusehen, auf Einzelbilder und Schnitte zu achten, sich vom Rhythmus anstecken zu lassen und ein bisschen zu tanzen, am besten allein, um sich ganz hinten im Kopf zu fragen, wie es eines Tages sein wird, wenn Land oder Meer ein paar frisch geschnittene Rosen erwarten.
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„Dead Flowers“
Well when you’re sitting there
In your silk upholstered chairs
Talking to some rich folks that you know
Well I hope you won’t see me
In my ragged company
You know I could never be alone
Take me down, little Susie, take me down
I know you think you’re the queen of the underground
And you can send me dead flowers every morning
Send me dead flowers by the mail
Send me dead flowers to my wedding
And I won’t forget to put roses on your grave
Well when you’re sitting back
In your rose pink Cadillac
Making bets on Kentucky Derby Day
Ah I’ll be in my basement room
With a needle and a spoon
And another girl to take my pain away
Take me down…
….
Take me down…
…..