Davor war zehn Jahre lang Glitter, Neon, Overkill. Kein Wunder, dass Radiohead dann über Plastikbäume singen mussten. Ein emotionales Großereignis.
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Wie soll man sachlich über diesen Song schreiben? „Fake Plastic Trees“ von Radiohead ist ein emotionales Großereignis, ein Manifest der neunziger Jahre, das wie sonst nur „Smells Like Teen Spirit“ von Nirvana und „Alive“ von Pearl Jam für die kulturelle Zäsur steht, die der Jahrzehntwechsel von den Achtzigern zu den Neunzigern bedeutet hat. Jenseits des Underground waren die achtziger Jahre ein glattes Jahrzehnt gewesen, mit grell geschminkten Sängerinnen und Sängern auf neonfarbenen Schallplattencovers. New Romantics verbanden Fönfrisuren mit Gruft-Ästhetik. Globale Superstars wie Prince und Michael Jackson führten Videokunst und Bühnengebaren auf spektakuläre Höhen. Format-Radio dudelte 24 von 24 Stunden dieselben oberflächlichen Popballaden (übrigens bis heute) und Madonna bekannte sich dazu, ein „Material Girl“ zu sein.
Und dann kam 1990/91, und all das Grelle, Oberflächliche, Flache galt dem jüngeren Mainstream nichts mehr. Es hieße, die Tiefe dieses Bruchs zu verkennen, ihn nur an den Holzfällerhemden der Musiker aus Seattle festzumachen. Damals ging es um eine neue Wahrhaftigkeit, ob in Amerika oder Großbritannien, in Weilheim oder Hamburg – und in Oxford, wo sich Radiohead ansiedelten. Kurt Cobain sang in „Teen Spirit“, der unangefochtenen Hymne dieser Dekade, in schwer verständlichen Worten über Teenager-Rebellion, Erwachsenwerden und Freiheit. Eddie Vedder machte in „Alive“ die schmerzhafte Erkenntnis zum Thema, nicht der Sohn des eigenen Vaters zu sein. Und Thom Yorke reflektierte in „Fake Plastic Trees“ über die Künstlichkeit einer Plastikwelt. Die Teenager dieser Zeit erreichten diese drei Bands mit diesen wenigen Stichworten, vielleicht vermittelten sie ihnen sogar Werte. Die Zeit war reif dafür, die Saat, die amerikanische Underground-Künstler wie The Dream Syndicate, Dinosaur Jr., R.E.M. oder The Pixies ausgesät hatten, aufgehen zu lassen.
Radiohead hatten auf nichts weniger Lust, als medial zum englischen Arm der Grunge-Bewegung gemacht zu werden. Ihre erste, künstlerisch noch etwas inkonsistente Platte enthielt mit „Creep“ ein berührendes Lied über einen Außenseiter, der in die Programmatik der Seattle-Musiker hineinpasste. Die Musikindustrie vermarktete Radiohead als die „Weirdos“ aus England. Doch die Band hatte so viel mehr auf dem Kasten und war mehr als alle anderen Popbands mit Massenappeal der Musikgeschichte bereit, ihre Fans mit jeder neuen Veröffentlichung herauszufordern. So entstanden Meisterwerke wie „The Bends“, „OK Computer“ und „Kid A“, jede für sich eine radikale Abkehr vom bisherigen Erfolgsmodell, jede für sich genommen das maximale künstlerische Wagnis und gekennzeichnet von der Bereitschaft, Fans vor den Kopf zu stoßen.
„Fake Plastic Trees“ ist der beste Song auf „The Bends“, ihrer besten Platte – zumindest aus Sicht derer, die Radiohead für ihre Gitarren schätzen. Musikalisch bricht die dritte Singleauskopplung des Albums mit dem Rezept von „Creep“, ihres erfolgreichsten Songs, der das Laut-Leise-Schema des Grunge imitiert. Dagegen beginnt die vergleichsweise langsame Ballade „Fake Plastic Trees“ mit einer Akustikgitarre, zu der Yorke die erste Strophe singt. Nach und nach steigen Streicher, Bass, Orgel und Schlagzeug ein. Kontinuierlich steigert sich die Dynamik, bis in der dritten Strophe („She looks like a real thing“) der emotionale Höhepunkt des Liedes mit einem rockigen Ausbruch der gesamten Band folgt. Danach endet der Song ungewöhnlicher Weise noch nicht, sondern bietet mit den letzten Zeilen („if I could be who you wanted“) noch einmal allen Bandmitgliedern nach und nach die Gelegenheit, wieder einzusteigen.
Der Text beruht auf einigen Eindrücken Yorkes aus der Gegend Canary Wharf in Ostlondon, die auf zuvor ungenutzten Dockflächen an der Themse gebaut ist. So schreibt es die informative Internetseite songfacts.com. Anders als geplant wurde aus dem Areal kein Geschäftsviertel. Lange Zeit standen künstliche Pflanzen auf dem Gelände, woher der Titel abgeleitet ist. Dem „Rolling Stone“ sagte Yorke, mit diesem Song habe er seine lyrische Stimme gefunden. Eingesungen hat Yorke „Fake Plastic Trees“ laut der Internetseite nach einem offenbar faszinierenden Auftritt des amerikanischen Rockmusikers Jeff Buckley. Nach der Aufnahme sei er in Tränen ausgebrochen. Soll manchem Hörer heute noch so gehen.
A green plastic watering can
For a fake Chinese rubber plant
In the fake plastic earth
That she bought from a rubber man
In a town full of rubber plans
To get rid of itself
It wears her out
It wears her out
It wears her out
It wears her out
She lives with a broken man
A cracked polystyrene man
Who just crumbles and burns
He used to do surgery
For girls in the eighties
But gravity always wins
And it wears him out
It wears him out
It wears him out
Wears him out
She looks like the real thing
She tastes like the real thing
My fake plastic love
But I can’t help the feeling
I could blow through the ceiling
If I just turn and run
And it wears me out
It wears me out
It wears me out
It wears me out
And if I could be who you wanted
If I could be who you wanted
All the time
All the time
Die Wirkung des Textes erzielt Sänger Thom Yorke mit dem Gebrauch von Schlagwörtern wie „fake plastic earth“ oder „cracked polystyrene man“ statt mit einer klar verständlichen Geschichte. Die Begriffe verweisen auf die Künstlichkeit einer oberflächlichen „Plastik“-Welt. Der Autor lässt im Unklaren, wer lyrisches Ich und Protagonisten des Textes sind. Aber die Assoziationen funktionieren und haben Signale an das jugendliche Publikum der Band ausgesandt, dass hier jemand diese Oberflächlichkeit auf der Welt wahrnimmt und problematisiert. So kann man ähnlich Denkende um sich scharen. Zunächst erwähnt er eine grüne Plastik-Gieskanne, mit der eine gefälschte chinesische Gummipflanze gegossen werden kann in einer falschen Plastik-Welt. „Sie“ – wer auch immer das ist – habe diese von einem (Radier?-)Gummi-Mann in einer Stadt voller (Radier?-)Gummipläne gekauft, um sie loszuwerden. Nach der Strophe folgt die wiederkehrende Sequenz „it wears her/him/me out“ („es laugt sie/ihn/mich aus“). Sie deutet auf Kritik an der zersetzenden Wirkung von Elementen aus der Plastik-Welt hin.
In der zweiten Strophe folgt ein Perspektivwechsel: Von „Sie“ blendet der Autor über zu einem gebrochenen Mann, genauer: einem Styropor-Mann, mit dem sie zusammenlebt. Er aber bricht nur und brennt. In den Achtzigern – also der Zeit, die sich wie keine andere Dekade in der Popkultur durch Oberflächlichkeit auszeichnete – betrieb er Schönheitsoperationen für Mädchen. Aber die Schwerkraft siege stets. Nun werde wiederum er ausgelaugt. Zur dritten Strophe, dem emotionalen Höhepunkt des Songs, schwenkt der Autor abermals den Fokus. Nun geht es um das lyrische Ich, das sich selbst zuruft, „Sie“ (vermutlich eine andere Sie als die der ersten Strophe) sehe echt aus und schmecke echt, seine falsche Plastik-Liebe. Trotzdem werde es das Gefühl nicht los, es könne durch die Decke geweht werden, sofern es sich einfach umdrehte und davon liefe. Das lauge das lyrische Ich aus. Zum Schluss proklamiert der Sänger noch: „Falls ich (doch nur) die ganze Zeit der sein könnte, den Du willst“.
Yorke macht es dem Zuhörer nicht einfach, den genauen Sinn seiner Worte zu erfassen. Der assoziative Einsatz von Schlagwörtern macht es aber auch gar nicht nötig, einen genaue Bedeutung zu erschließen. Vielmehr spielt er mit den Bildern von oberflächlicher Schönheit (falscher Bäume, zurechtoperierter Mädchen), doch auch die herausgeschriene Selbstvergewisserung, mit einem echten Wesen zusammen zu sein, kann die Belastung einer solchen Scheinwelt nicht mindern. Stattdessen lauge die Plastik-Welt die Menschen aus – und es hilft nur noch zu betteln, dass man so sein könne, wie der Betrachter es gern hätte.
Mit dem Song stellen sich Radiohead wie schon mit „Creep“ auf die Seite derer, die nicht mit einer vorzeigbaren Oberfläche glänzen können. Ironischerweise ist der Song (in einer rein akustischen Version) auch auf dem Soundtrack des Spielfilms „Clueless“ mit Alicia Silverstone enthalten. In der Szene, in der er zu hören ist, dient er zur Auseinandersetzung der jugendlichen Protagonisten mit weinerlicher Musik. „Fake Plastic Trees“ gilt der sehr hübschen und oberflächlichen Hauptfigur als Prototyp solcher Musik. Der Songtext wird ironisch gebrochen durch die Handlung des Films. Yorke distanzierte sich später von der Haltung der Figuren in dem Film und sagte, solche Leute wolle er nicht als Radiohead-Fans haben. Schon das Cover des Soundtracks ist amüsant, weil es in seiner Ästhetik auf die oberflächlichen achtziger Jahre anspielt, mit Songs von Cracker, den Beastie Boys und von Supergrass aber viele Beispiele der alternativen Welle neuer Wahrhaftigkeit aus den Neunzigern enthält.
„Fake Plastic Trees“ löst bei manchem Radiohead-Fan der ersten Jahre nostalgische Gefühle aus. Der Song ist das beste Beispiel des Gitarren-lastigen Sounds der Frühphase der Band. Doch mit dem komplexeren „OK Computer“ hat die Band die Tür zum Progrock der Siebziger aufgestoßen, um dann mit „Kid A“ an die intelligente Elektronika-Musik von Aphex Twin und Autechre anzuknüpfen. „Amnesiac“ bezieht Charles-Mingus-Einflüsse ein, „Hail To The Thief“ verarbeitet unter anderem Hip-Hop-Stilelemente. Ob Krautrock, Techno, Dub oder Folk – auch auf späteren Alben nimmt sich die Band aus der Popgeschichte, was sie braucht. Und Gitarrist Jonny Greenwood komponiert feine Filmsoundtracks. Selbst wenn es die Fans der Gitarren-lastigen ersten Jahre nicht hören mögen: Ihr Mut zum Wandel hat Radiohead in den Olymp der ganz großen Rockbands aufsteigen lassen. Auch Pink Floyd, U2, Wilco oder Blur haben irgendwann oder mehrfach in ihrer Karriere die Bereitschaft gehabt, die Erwartungen ihrer Fans erheblich zu enttäuschen. Was auch immer man davon halten mag, eine Perle des Rock wie „Fake Plastic Trees“ wird aber für immer bleiben.