In diesem Song verbindet die große Country-Sängerin Iris DeMent ihre eigene Geschichte mit einem Gedicht von Anna Achmatowa. Es entsteht ein kleines Stimmenwunder.
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Eine Stimme, in der sich Mädchensüße und Herbstsüße verbinden, schon an der Grenze zum Brüchig-werden, ja diesem sich hingebend; bewegend im freien Bekennen ihres Alters, dabei natürlich und in fühlbarer Lauterkeit singend, nach keiner Seite hin übersteigert-übersteuert, keinem Ideal des Kaputten frönend, wie es Marianne Faithfull in dem Album „Broken English“ getan hatte . . . bei Iris DeMent ist der Gesang keine Manier. Das Lied selbst singt von einer alternden Stimme, die fast zum Geräusch wird, zur klappernden Rassel der Lepra-Kranken im Mittelalter, mit der andere davor gewarnt wurden, zu nahe zu kommen und sich mit der Seuche anzustecken. Die letzte Zeile, die vom Rand des Grabes sagt, erhält den reichsten, auf- und ausschwingenden Bogen der Melodie. Die Verse stammen von Anna Achmatowa (1889 bis 1966), der großen russischen Dichterin, in deren Lyrik das Schreckensjahrhundert der beiden Weltkriege, des Bürgerkriegs, des stalinistischen Terrors seine Stimme fand.
Nach dem Lied von Iris DeMent hört man Achmatowas Stimme. Das von ihr gesprochene Gedicht „Muse“ gab 1924 einen Rückblick auf ihre Erfahrungen und ihre Berufung: „Wenn ich warte, in der Nacht, sie kommt / Leben, so scheint es, hängt an einem seidenen Faden. / Welche Ehre, Jugend, Freiheit, / Neben dem lieben Gast, die Flöte in der Hand! // Und jetzt ist sie bereit, wirft beiseite / Ihren Schleier, blickt mir tief in die Augen. / Ich frage: Warst du das, Dantes Führerin, / Diktierend die Hölle? Sie antwortet: Ich.“ (Ich zitiere die Prosaübersetzung von Torsten Schwanke.)
Eva Behrisch hat von einem „Geschenk der Trauer“ gesprochen, das die Dichterin von Dantes Muse empfängt; Iris DeMent macht sich zur neuen Empfängerin. Und dies ist das absolut Unerwartete: Eine Frau vom Jahrgang 1961, die ihren Weg in der Country-Musik begann, entdeckt die große russische Poesie, in Iowa, am Klavier im Wohnzimmer, und spielt ein Album mit Liedern auf Achmatowa-Texte ein. Sie hat das Gedichtbändchen dorthin gelegt, wo sonst die Noten sind, hat zu lesen begonnen, zu summen, zu klimpern. So entstand 2015 die Platte „The Trackless Woods“.
Etwas hat Iris DeMent mit Celine Dion gemeinsam: Beide wurden als jüngstes von vierzehn Kindern geboren. Für Celine Dion hatten die Mutter und der Bruder das erste Lied komponiert, die Mutter von Iris DeMent träumte von einer Karriere als Sängerin und einem Auftritt in der Grand Ole Opry, der aus Nashville übertragenen Country-Radiosendung. Die Familie gehört einer Pfingstkirche an, alle DeMents sind im Chor. „Unser Leben war nicht rundum ausgepolstert“, hat Iris DeMent später erzählt: Ihre einzigen Polster waren der Gesang und die Musik.
Die einzige Verbindung zur Heimat
Country-Musik, der Name sagt es, hat ihrem Wesen nach etwas mit einer Gegend, mit Heimat und Häuslichkeit zu tun. Country-Songs gibt es nicht ohne die Orte und die Familienerinnerungen. Country gibt es auch nicht ohne Populismus. Country-Gesang heißt bei Frauen: Sie haben etwas mehr Metall in der Stimme und weniger Sirup. Das ist ihr singendes Klassen- und Geschlechtsbewusstsein: Sie müssen den harten Burschen – ihren Vätern, Männern, Söhnen – Paroli bieten können. Denn Country ist nicht die Musik der urbanen Jugend, sondern die der arbeitenden Menschen in der Provinz.
Und gleich muss man gestehen, dass dies nur die halbe Wahrheit ist. Denn die Amerikaner haben die höchste Beweglichkeit im Raum, kein Mensch zieht im Leben öfter um als ein Bürger der Vereinigten Staaten. Der Amerikaner, schrieb ein Beobachter des neunzehnten Jahrhunderts, „ist ein Zugvogel oder vielmehr ein Nomade, der an keine Wohnstätte gebunden ist und sich nur auf der Wanderung glücklich fühlt. Er verlässt in der Jugend mit Gleichgültigkeit das Land seiner Geburt und die Gräber seiner Väter und verkauft im reifen Alter mit demselben Gleichmuthe den von ihm urbar gemachten Boden.“ Country-Musik ist in ihren besten Vertretern nicht der Klang selbstsicherer, auftrumpfender Sesshaftigkeit, sondern eher eine Bearbeitung der in extremer lokaler Mobilität gebildeten Gefühle: eine Psychotherapie der amerikanischen Nomadenseele.
Sie handelt nicht von einem Ort, an dem man schon ewig war, sondern von sterbenden, verlassenen Kleinstädten wie in Iris DeMents sehr erfolgreichem und sehr melancholischem Lied „Our town“, oder davon, noch einmal an den Ort der Kindheit zurückzukehren, wie in ihrem ebenfalls erfolgreichen „Walking home“: „Once again I hear my mother’s voice / and all us kids making a bunch of noise / If I’m not careful I might start to cry / Just walkin‘ home tonight.“ Dies, das typische amerikanische Schicksal, erzählt mit einer gehörigen Portion Sentimentalität, ist auch das von Iris DeMent. In Arkansas wurde sie geboren, in einer Kleinstadt des damals noch eher agrarischen Staats im Süden. Als sie drei Jahre alt war, zog die Familie in die Gegend von Los Angeles. Die Lieder der Mutter wurden zur einzigen Verbindung mit der Heimat.
Es ist ihre Seele, ihr Leib
Der Populismus der Country-Musik ist kaum nach dem Eichmaß europäischer Weltanschauungsparteien zu bewerten. Er kann nach links – in die Sozialkritik – ebenso ausschlagen wie nach rechts, ins Überpatriotische. Man hat von einer Richtung gesprochen, die der Weisheit von „plain hardworking people“ entgegenkomme – und deren Misstrauen gegenüber fernen Eliten. Schließlich muss erwähnt werden, dass für die Generation der in den fünfziger und sechziger Jahren geborenen Musiker auch die Folk-Musik ein entscheidendes Ferment bildete, bei Iris DeMent wie bei der ähnlich großartigen Nanci Griffith.
So spricht man heute von „Alternative Country“. Auch bei der emotional intensiven pfingstlerischen Religiosität blieb Iris DeMent nicht, so sehr sie von ihr auch musikalisch geprägt wurde. Humorvoll nahm sie von protestantischer Heilsgewissheit Abschied in dem keineswegs bösartigen Lied „Let the mystery be“ (Lass das Geheimnis doch ein Geheimnis bleiben). Aber um dieses Lied wirklich zu genießen, muss man dazu ihre komische Mimik im Video sehen. Ihr Ansehen innerhalb der umgrenzten musikalischen Welt des Country ist enorm und aussagekräftiger als der Erfolg beim Publikum; unter ihren ersten Förderern war Merle Haggard, mit dem kürzlich am Corona-Virus verstorbenen John Prine, der auf diesen Seiten schon gewürdigt wurde, spielte sie oft zusammen. Auf „The Trackless Woods“ ist einmal auch der Gitarrenvirtuose Leo Kottke zu hören. Betont unglamourös ist ihr Auftreten. Wenn es eine Stilisierung bei ihr gibt, dann in Richtung Hausfrau. So wurde auch das Lied, über das ich spreche, im Wohnzimmer ihres Hauses aufgenommen.
Das alles hätte provinziell bleiben können. Es kam anders. Iris DeMent war mit ihrem Mann 2005 in Sibirien gewesen, wo sie ein damals knapp sechsjähriges Mädchen adoptierten. Die Achmatowa-Lieder sind so etwas wie Country, Heimat-Erinnerung, für diesen Menschen. Iris DeMents Plattenfirma, es ist ihre eigene, heißt nach der Mutter „Flariella Records“. Damit alles sich gleichbleibt, muss sich alles ändern. Anna Achmatowa, sagt Iris DeMent im booklet, emigrierte nicht, trotz rotem Terror, sie blieb in ihrem Land und bei ihrem Volk, das sie liebte. Diese Haltung ist es, mit der sie sich identifiziert; sie, die mit dem Lied „Wasteland of the free“ eine scharfe Kritik an amerikanischen Missständen komponiert hat: „We got politicians running races on corporate cash / Now don’t tell me they don’t turn around and kiss them peoples‘ ass.“
Und so findet sich auf dem Album auch ein Lied, in dem Anna Achmatowa 1923 mit den Emigranten abrechnete, die ihr wie Deserteure vorkamen: Sie, die Dichterin, will nicht zu jenen gehören, die vor einem Kampf davonlaufen, der ihr Land zerreißt. Kein einziges Lied sollen sie von ihr bekommen. Du im Exil, mir kommst du vor wie ein Gefangener! Nach Holzwürmern schmeckt dein fremdes Brot! Kein Volk wird stolzer sein als wir. Aus dem Flugzeug sieht sie 1944 ihr Land, von dem sie nun weiß: von ihm kann sie nichts trennen, es ist ihre Seele, ihr Leib. Hier ist die Wahlverwandtschaft fassbar, die Iris DeMent, die Country-Sängerin, empfunden haben muss: Die Identifikation mit einer Heimat, die nur inniger wird, wenn man an ihr leidet.
It’s not with a lover’s lyre, not at all,
That I go around, attracting a crowd.
It’s the rattle with which lepers crawl
That in my hands keeps singing aloud.
Where nothing is needed, I walk like a child,
My shadow serves as the friend I crave.
The wind breezes out of a grove gone wild,
And my foot is on the edge of the grave.