„Brixen war die zweite größere Stadt Tirols, wo ich einkehrte. Dämmernde Stille, melancholisches Glockengebimmel, die Schafe trippelten nach ihren Ställen, die Menschen nach den Kirchen; überall beklemmender Geruch von häßlichen Heiligenbildern und getrocknetem Heu.“
Henrich Heine, Reise von München nach Genua
[von Andrea Diener] Im romanischen Kreuzgang von Brixen liegen die Bischöfe in Reih und Glied. Und sie ruhen umso sanfter, je dicker die Kissen. Manche haben sogar zwei Kissen, dafür haben andere schönere Quasten. Die Quasten an den Kissen, die scheinen überhaupt recht wichtig zu sein auf Bischofsgrabsteinen, die sind besonders filigran ausgearbeitet mit ihren feinen Fäden. Die sind mindestens so wichtig wie die Posamenten, die in Hintergrund europäischer Adelsportraits herumhängen, gern an einem Vorhang nebst Säule. Besonders reiche und wichtige Adelige haben viele verzierte Posamenten und besonders dicke und ornamentierte Vorhänge, und besonders wichtige Bischhöfe scheinen besonders puschelige Quasten an ihren Kissen zu haben.
Es sind diese kleinen Dinge, die einem auffallen, wenn man nach Süden reist. Die großen Dinge fallen kaum noch auf, zu sehr ist man mit den Bildern aus Reiseprospekten oder Kunstbildbänden vertraut. Da jedoch findet sich wenig über den Alltag und über Details, die einen überraschen können. Als wir durch Gossensass fahren, steht ein Mann an einer Mauer, das offene Auto neben ihm geparkt, und sortiert da etwas auf Hüfthöhe. Ich denke mit meinem profanen Gehirn natürlich, daß er sich gerade einmal an diese Mauer erleichtern muß. Er wechselt aber die Blumen an einem Marterl aus, das Jemandes gedenkt, der einmal mit dieser Mauer kollidierte. Marterl gehören zum Beispiel auch nicht in mein Denkschema, aber zum Süden und zum Katholizismus. Wer in Frankfurt ein Täfelchen will, muß sich schon mindestens auf offener Straße erschießen lassen.
Auch in Brixen: Stets frische Blumen für die frisch und weniger frisch gestorbenen, für die Heiligen, für die Profanen. Stets für jeden das angemesse Decorum. Kerzen brennen, Geranien blühen nicht nur auf den Friedhöfen, nicht nur in Kirchen, sondern überall in der Öffentlichkeit, und alte Menschen in schwarzen Kleidern kümmern sich darum, daß das so bleibt. Sie stellen neue Kerzen auf, sie gießen die Blumen, sie stauben die steinernen Quasten unter den Köpfen der Bischöfe ab.
Eigentlich, so will man uns glauben machen, kommt es ja ohnehin auf das Jenseits an, das nicht auf eine kurze Zeitspanne wie ein Menschenleben begrenzt ist, sondern die gesamte Ewigkeit einnimmt. Insofern ist es innerhalb dieses Realitätskonstruktes durchaus konsequent, sein Denken auf das Dasein nach dem Tod zu konzentrieren. Das bedeutet auch, sich einigermaßen anständig zu benehmen und gottesfürchtig genug zu sein, um es sich später einmal nicht mit dem obersten Richter zu verscherzen. Denn wer gehorcht und betet, kommt in den Himmel und wird von Putten angesungen, das ist so sicher wie die Rente.
Dennoch manifestiert sich das Jenseits ständig im Diesseits, und die Accessoires des Todes sind ganz diesseitige: Quasten für die einen, Holzkisten für die anderen. Was im Diesseits übrig bleibt, das ist – von den einen wie von den anderen – nichts als Knochen und Schädel. Man könnte das als Indiz dafür werten, daß nach dem Tode alle gleich sind, aber das ist nur wieder mein profanes Gehirn, das sich mit solchen Offensichtlichkeiten abspeisen lässt und denkt, den Unterschied macht nur die Gegenwart, das Hier und Jetzt, das Vergnügen daran, bei Sonnenschein (und bei Regen) durch Italien zu fahren und sich seines Lebens zu freuen, anstatt mal ein bißchen an Rente und Jenseits zu arbeiten, damit man etwas hat, für später.